Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0051
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2023
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Automatisches Gepäcksystem für den Bahnhof der Zukunft
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Stephan Kintzel
Mathias Böhm
Andrei Popa
Lasse Hansen
Die Mitnahme von großen Gepäckstücken führt im Schienenpersonenverkehr häufig zu längeren Einstiegs- und Haltezeiten, Problemen beim Verstauen von Gepäckstücken sowie verstellten Sitzen und Gängen, was den Komfort der Fahrgäste beeinträchtigt. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Konzeptentwicklung eines neuartigen Gepäckabfertigungssystems für die Next Generation Station im Rahmen des Projekts VMo4Orte – Vernetzte Mobilität für lebenswerte Orte – des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Das System ist ein Ansatz, die Attraktivität der Eisenbahn durch die Wiedereinführung eines vom Fahrgast entkoppelten, automatischen Gepäcktransports zu steigern.
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Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 33 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Automatisches Gepäcksystem für den Bahnhof der Zukunft Entwicklung einer automatisierten Sortieranlage für einen durchgängigen Gepäcktransport Gepäckaufgabe, Bahnhof, Automatisierung, Next Generation Station, Next Generation Train Die Mitnahme von großen Gepäckstücken führt im Schienenpersonenverkehr häufig zu längeren Einstiegs- und Haltezeiten, Problemen beim Verstauen von Gepäckstücken sowie verstellten Sitzen und Gängen, was den Komfort der Fahrgäste beeinträchtigt. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Konzeptentwicklung eines neuartigen Gepäckabfertigungssystems für die Next Generation Station im Rahmen des Projekts VMo4Orte - Vernetzte Mobilität für lebenswerte Orte - des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Das System ist ein Ansatz, die Attraktivität der Eisenbahn durch die Wiedereinführung eines vom Fahrgast entkoppelten, automatischen Gepäcktransports zu steigern. Stephan Kintzel, Mathias Böhm, Andrei Popa, Lasse Hansen Z um Entgegenwirken des fortschreitenden Klimawandels erklärt die Bundesregierung in ihrem aktuellen Koalitionsvertrag das Vorhaben einer Verdoppelung der Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr bis zum Jahr 2030 [1]. Bezogen auf die Treibhausgasemissionen einer innerdeutschen Fernreise können auf einer Fahrt mit der Bahn im Vergleich zum PKW bis zu 70 % der Emissionen (in CO 2 - Äquivalenten) pro Personenkilometer eingespart werden [2]. Von den 2020 in Deutschland im motorisierten Verkehr zurückgelegten Personenkilometern entfallen etwa 87 % auf den motorisierten Individualverkehr, wohingegen der Schienenverkehr lediglich einen Anteil von 6 % einnimmt [3]. Zur Erreichung der gesteckten Ziele hinsichtlich der Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene bedarf es einer Steigerung der Attraktivität der Bahn und der damit verbundenen, angebotenen Dienstleistungen. Ein wesentliches Entscheidungskriterium zugunsten des PKW auf Urlaubsreisen ist die Mitnahme von Gepäck. Umfragen zufolge entscheiden sich 82 % der mit dem PKW in den Winterurlaub reisenden Personen aufgrund von Schwierigkeiten bei der Gepäckmitnahme in den Planungen ihrer Urlaubsreise gegen das Verkehrsmittel Bahn (64 % im Sommer). Die Reisegepäckmitnahme im selben Zug ist bei der Deutschen Bahn aktuell nur selbstorganisiert durch die Reisenden möglich. Die Verstauung größerer Gepäckstücke ist dabei unter oder zwischen den Sitzen, in Überkopfablagen oder in Gepäckregalen vorgesehen. Befragungen aus dem Jahr 2015 zufolge hat eine beträchtliche Anzahl von Personen, die mit Gepäck reisen, Probleme beim Einstieg (30 %) und beim Verstauen des Gepäcks (25 %). Aus der Perspektive der Bahnbetreiber können sich die Fahrgastwechselzeiten aufgrund von Einstiegsproblemen vervierfachen, was in der Folge Verspätungen und weitere Störungen im Betriebsablauf hervorruft. Insbesondere bei multimodalen Reisen erschwert die Mitnahme von Gepäck bei der An- und Abreise zu den Bahnhöfen, während Umstiegen sowie beim Fortbewegen und Verweilen in den Bahnhofsgebäuden den Reiseablauf [4]. In den Planungen der Fahrzeuginterieurs stehen sich die beiden Ziele Maximierung der Sitzplatzanzahl und Schaffung ausreichenden Platzes für die Gepäckablagen oftmals unvereinbar gegenüber [5]. Als Konsequenz der betriebswirtschaftlich motivierten Fokussierung auf die Sitzplatzmaximierung und der damit verbundenen Unterdimensionierung der Gepäckablagen kann unsachgemäß platziertes Gepäck dazu führen, dass bis zu 20 % der Sitzplätze im Fahrgastbereich nicht besetzbar sind. In der Praxis können diese Bestrebungen somit zu einer Verringerung der Rentabilität und des Komfortempfindens der Fahrgäste [6] sowie zu betrieblichen Schwierigkeiten führen. In Notfallsituationen können darüber hinaus ernsthafte Sicherheitsrisiken entstehen [7]. Verschiedene Flughafenzubringerbahnen wie der Wiener City Airport Train [8] oder der Airport Express in Hongkong [9] bieten aktuell bereits Möglichkeiten eines multimodalen Gepäcktransports an. Die genannten Systeme besitzen hingegen einen großen Anteil manuel- Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 34 INFRASTRUKTUR Wissenschaft ler Prozesse beim Kofferhandling. Im Flughafenbetrieb sind Ausweitungen des automatisierten Gepäckhandlings und insbesondere der Gepäckaufgabe zu erwarten [10]. Für die Betrachtung eines durchgängigen, verkehrsträgerübergreifenden Transportsystems rücken somit ebenfalls automatisierte Lösungen in den Fokus. In den letzten Jahren haben Forschende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Projekt Next Generation Train (NGT) ein länderübergreifendes, innereuropäisches Eisenbahnfernverkehrskonzept entwickelt. Das Konzept umfasst unter anderem den auf Fahrgastflusssimulationen basierenden, doppelstöckigen Hochgeschwindigkeitszug NGT sowie die dazugehörigen Next Generation Station (NGS). Ein Ergebnis der Simulationen ist der große Einfluss des Mitführens von Reisegepäck auf die Fahrgastwechselzeiten und den Reisekomfort der Fahrgäste. Im NGT-Konzept können große Reisegepäckstücke daher vor der Fahrt abgegeben und parallel im selben Zug transportiert werden [11]. Der NGT verfügt dazu über einen gesonderten Lagerbereich in den Zugtriebköpfen zum Transport von bis zu 346 Gepäckstücken je Triebkopf. Das Lagersystem dient zudem der Vorsortierung während der Fahrt und der automatisierten Ein- und Auslagerung in der Station [12]. Ein weiterer Projektmeilenstein war der Entwurf eines ganzheitlichen Gepäcktransportsystems für den Schienenpersonenverkehr inklusive der möglichen Erweiterung des Systems um die Abwicklung der Sendungen von Kurier-, Express- und Paketdienstleistern (KEP). Gesamtkonzept für den Bahngepäcktransport Die Erstellung eines visionären, durchgängigen Gepäck- und KEP-Transportsystems basiert auf multimodalen Anwendungsfällen und einer umfangreichen Analyse der Anforderungen wesentlicher Stakeholder wie der Bahnhofsbetreiber, Eisenbahnverkehrsunternehmen und der Reisenden. Aus den Analysen resultiert u. a. der Fokus auf große Gepäckstücke mit einem Gewicht über 10 kg. Zudem sollen den Reisenden zeitlich und räumlich flexible Aufgabemöglichkeiten geboten und gleichzeitig lange Vor- und Nachlaufzeiten vermieden werden. Das Konzept geht grundlegend vom privaten Wohnsitz der Reisenden als Startpunkt aus. Beim Fahrkartenkauf besteht die Option der Buchung eines Gepäcktransports für die gesamte Reisekette inklusive der Transportmöglichkeiten zum Startbahnhof. In öffentlichen Verkehrsmitteln mit einer direkten Anbindung an den Fernverkehrsbahnhof kann das Gepäck bereits vor oder während der Fahrt zum Startbahnhof aufgegeben werden. In ländlichen Regionen werden diesbezüglich beispielsweise Rufbusse miteingebunden. Am Startbahnhof wird das Gepäck ohne das Eingreifen der Reisenden an das Gepäcksystem übergeben. Bei der individuellen Anreise ohne Gepäckaufgabemöglichkeiten besteht die Möglichkeit einer eigenhändigen Gepäckaufgabe innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters am Bahnhof. KEP-Güter werden nach der Anlieferung in gesonderten Logistikbereichen in das Gepäcksystem des Bahnhofs eingeschleust. Das Gepäck wird grundsätzlich parallel zu den Reisenden im selben Zug transportiert. Im Falle freier Kapazitäten kann das Gepäck auch mit einem vorausfahrenden Zug derselben Route befördert werden. Bei Umstiegen am Knotenbahnhof oder beim Wechsel von der Bahn zum Flugzeug oder Schiff erfolgt eine automatische Umladung. Während der Reise können die Reisenden den Transportstatus ihres Gepäcks in der verkehrsträgerübergreifenden Smartphone-App verfolgen. Am Zielbahnhof, -flughafen oder -seehafen besteht die Möglichkeit der Gepäckrückgabe an einer der zahlreichen Abholstationen unter der Verwendung eines generierten Abholcodes. Die Reisenden können den Ort der Abholung in der App einsehen und gegebenenfalls ändern. Darüber hinaus kann eine zeitlich begrenzte Zwischenlagerung im Bahnhof oder ein Weitertransport Bild 1: Gesamtkonzept für den Gepäck- und KEP-Transport im Bahnverkehr Alle Darstellungen: Autoren Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 35 Wissenschaft INFRASTRUKTUR an eine beliebige Adresse oder Paketstation im Ankunftsland veranlasst werden. Durch diese Optionen wird eine komfortable, gepäcklose Reise mit möglichst geringem zusätzlichem Verkehrsaufkommen ermöglicht (Bild 1). Entwicklung der bahnhofseitigen Gepäckinfrastruktur Die Gepäckinfrastruktur wird unter diversen Rahmenbedingungen, wie der Architektur der NGS und der entworfenen Schnittstellen, zum fahrzeugseitigen Lagersystem [12] entwickelt. Der Fokus liegt auf der Beförderung der Aufgabegepäckstücke von der Gepäckaufgabe bis hin zur Verladung in den Zug. Die Aufgabestationen befinden sich in der Zwischenebene, die unter dem Bahnsteig der Fernverkehrszüge liegt und sowohl der Fahrgastverteilung als auch dem Angebot von Dienstleistungen und Gastronomie dient [11]. Möglichkeiten zur Umladung hinsichtlich denkbarer Anschlussverbindungen sowie die Vorbereitung zur Abholung oder des Weitertransports am Zielbahnhof werden ebenso betrachtet. Konzeptionsphase Zur Festlegung der vorgesehenen Gepäckflüsse innerhalb des Bahnhofs tragen die Erkenntnisse aus den zum Großteil manuell ausgeführten Prozessen historischer Bahngepäcktransportmodelle sowie aktuelle Gepäckaufgabeabläufe im Luft- und Schienenverkehr bei. Die Gepäckaufgabe erfolgt parallel für mehrere Züge an Automaten, die in der Zwischenebene verteilt sind. Die Gepäckstücke werden zunächst nach Zügen sortiert und im nächsten Schritt bis zur weiteren Verwendung gepuffert. Die Pufferung dient dabei gleichzeitig der Vorbereitung zur Verladung, um im nächsten Schritt einen möglichst reibungslosen Ablauf und damit eine pünktliche Abfahrt des Zuges zu gewährleisten. Bei ankommenden Zügen ist dem automatisiert ablaufenden System der Bestimmungsort jedes einzelnen ankommenden Gepäckstücks spätestens bei der Entladung bekannt. Im Falle des Umstieges eines Reisenden werden die zugehörigen Gepäckstücke in den Sortierprozess des aufgegebenen Gepäcks eingeschleust und somit auf die zuvor beschriebene Weise zur weiteren Verladung bereitgestellt. Befindet sich der ankommende Fahrgast hingegen am Ziel der Reise, so kann dieser im Vorfeld per App über das weitere Vorgehen hinsichtlich seines Gepäcks entscheiden. Der Gepäckfluss wird dementsprechend in direkt abzuholende, zwischenzulagernde und zum Weitertransport vorzubereitende Gepäckstücke geteilt und die Koffer auf die jeweiligen Routen geleitet (Bild 2). Konstruktion und Ausarbeitung Hinsichtlich der Konzeptentwicklung sind die Prozesse der Sortierung, Pufferung sowie der Ver- und Entladung von zentraler Bedeutung. Der Fokus der rechnergestützten Ausarbeitung liegt daher auf diesen Prozessen und beschränkt sich zunächst auf die detaillierte Betrachtung eines Teilsystems für ein Triebkopflager. Die Gepäckaufgabe und -rückgabe sowie Möglichkeiten zu Verbindungen zwischen mehreren Teilsystemen, zur Zwischenlagerung und zum Weitertransport, werden in Form von Schnittstellen miteinbezogen. Zur Auslegung der logistischen Förder- und Sortieranlagen werden zudem ein an die Bestimmungen aus dem Flugverkehr angelehntes maximales Gepäckgewicht von 32 kg sowie maximal zulässige Gepäckmaße von 950 x 600 x 400 mm festgelegt. Die Auslegung einzelner Teilsysteme erfolgt im Verlauf der Entwicklung aus der Literatur und in Abstimmung mit führenden Anlagenherstellern. Ein elementarer Bestandteil des Gepäcksystems ist die Integration einer zusätzlichen Sortierebene zwischen der obersten Bahnsteigebene und der daruntergelegenen Zwischenebene. Die Sortierebene dient zusätzlich der Pufferung des Gepäcks und gewährleistet die Trennung zwischen den Fahrgast- und Gepäckströmen. Nach der Gepäckaufgabe an einer der Aufgabestationen wird das Gepäck auf ein Hauptförderband zusammengeführt und über einen Spiralförderer in die Sortierebene transportiert (Bild 3). Die spiralförmige Vertikalförderung besitzt einen vergleichsweise geringen Flächenbedarf und erfüllt gleichzeitig eine Pufferfunktion. Das Hauptförderband dient ebenfalls der Zuführung von an anderen Stellen aufgegebenem Gepäck und KEP-Gütern. Nach der vertikalen Förderung in die Sortierebene verlaufen die Bahnen des Spiralförderers auf einen mehrspurigen Zusammenführer, der auch der Einschleusung von Transfergepäck ankommender Züge aus mehreren Teilbereichen der NGS dient (Bild 4). Dort werden die Gepäckstücke in Querrichtung sortiert und auf das einspurige Einschleuseband des Sorters gebracht. Bild 2: Grundsätzlicher Ansatz der Gepäckflüsse innerhalb der NGS Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 36 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Nachdem die Gepäckstücke auf den Quergurtsorter befördert wurden, verlaufen diese entlang des in Linientopologie ausgelegten Sorters bis zur durch das System bestimmten Endstelle. Die Ausschleusung erfolgt im 90°-Winkel zur Laufrichtung des Sorters. Die Endstellen bestehen aus angetriebenen Rollenbahnen, die zunächst leicht abfallend und dann horizontal verlaufen und eine staudruckarme und raumeffiziente Pufferung des Gepäcks ermöglichen. Auf den Bahnen erfolgt eine nach Zügen sortenreine Zwischenlagerung der Gepäckstücke. Die Auslagerung zur Ladungsvorbereitung erfolgt bedarfsgesteuert. An den unteren Enden der Pufferbahnen verlaufen die Zuführbänder zu zwei weiteren Spiralförderern, die das Gepäck auf die Bahnsteigebene verbringen (Bild 5). Auf den nachfolgenden Rollenbahnen werden die Gepäckstücke bis zur Ankunft des Folgezuges gepuffert, um eine reibungslose Verladung zu garantieren. Die Pufferung und Bebzw. Entladung erfolgen jeweils auf vier übereinanderliegenden Ebenen. Am Reiseziel ankommendes Gepäck wird auf den außenliegenden Bahnsteigen entladen und in die Zwischenebene transportiert. Anschließend wird das Gepäck entweder zu den Rückgabestationen (Bild 5) oder zum Zwischenlager bzw. zum Weitertransport befördert. Transfergepäck hingegen wird auf dem Mittelbahnsteig entladen und zurück in das Sortiersystem geleitet. Die einzelnen Teilsysteme sind in der Sortierebene miteinander verbunden, wodurch Gepäckstücke auch in Triebköpfe anderer Haltepositionen umgeladen werden können. Systemkennzahlen Einer ersten Verifikation der Leistungsfähigkeit des Sortier- und Verteilsystems dienen Berechnungen der aufgabeseitigen Gepäckflüsse und der Abgleich mit den zuvor im Projekt definierten Anforderungen und Parametern (Tabelle 1). Zur Berechnung der Durchlaufzeit eines einzelnen Gepäckstückes wurden die Quotienten aus der Bahnlängen und -geschwindigkeiten der einzelnen Prozesse summiert. Für die Zuführstrecke auf der Zwischenebene wurde die größtmögliche Länge von 100 m für eine weit vom Vertikalförderer entfernte Aufgabestation bzw. die externe Zuführung angenommen. Anhand der errechneten Durchlaufzeit von rund fünf Minuten für die insgesamt fast 350 Meter lange Förderdistanz, ist der angestrebte späteste Zeitpunkt zur Gepäckaufgabe von 15- Minuten vor der Abfahrt ausreichend und bietet gleichzeitig Spielraum bei auftretenden Verzögerungen. Da die Anzahl der Gepäckautomaten von der zu ermittelnden tatsächlich benötigten Aufgabedauer abhängig ist, basieren die Berechnungen auf dem maximalen stündlichen Gepäckaufkommen von 2.310 Gepäckstücken je Triebkopf. Dieser Wert ergibt sich aus der in Vorarbeiten ermittelten maximalen benötigten Verladeleistung von 193 Gepäckstücken je Triebkopf und dem definierten Ankunftstakt von zwölf NGT-Zügen pro Stunde ( je Gleis) [13]. Das Gepäckaufkommen wird als gleichverteilt angenommen und dient als Soll-Wert für die stündliche Gepäckabfertigung für jedes der acht Teilsysteme. Der Abschätzung der verfügbaren Sortierleistung dient zunächst die Berechnung der Kapazitäten der Einzelprozesse, die sich aus dem Produkt der jeweiligen Prozessgeschwindigkeit und der Anzahl paralleler Teilprozesse sowie der maximalen Gepäckstücklänge und benötigter Gutabstände ergeben. Der Sorter besitzt die geringste Kapazität und ist mit einer Bandgeschwindigkeit von 1,5-m/ s der Engpass des Systems. Mit einem auf detaillierten Herstellerangaben basierenden Durchsatz von 3.200 Gepäckstücken pro Stunde erfüllt der Prozess dennoch die Anforderungen [14]. Die NGS besitzt somit eine Gesamtsortierleistung von 25.600 Gepäckstücken pro Stunde. Tabelle 1: Kennzahlen zur Leistungsfähigkeit des Systems Kennzahl Anforderung Systemkapazität Durchlaufzeit 15 Minuten 5 Minuten Sortierleistung 2.310 St./ h 3.200 St./ h Pufferkapazität 1.733 St. 1.984 St. Bild 3: Sortier- und Verteilsystem in der Sortierebene Bild 4: Gepäckaufgabe und Vertikalförderung in die Sortierebene Bild 5: Förderung auf den Bahnsteig, Ladungsvorbereitung, Entladung und Rückgabestationen Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 37 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Zur Gepäckaufgabe wurde ein Zeitfenster von 45 bis 15 Minuten vor der Zugabfahrt festgelegt [13]. Demzufolge befindet sich jedes Gepäckstück bis zu 45 Minuten im System. Dies ergibt eine benötigte Pufferkapazität von bis zu 1.733 Gepäckstücken. Zur Berechnung des zur Verfügung stehenden Lagerplatzes wurden die durchschnittlichen Gepäckabmessungen von 675 x 410 x 295-mm herangezogen, die wiederum auf Fahrgasterhebungen basieren [6]. In den Pufferbahnen ist das Gepäck in Querrichtung ausgerichtet und befindet sich auf angetriebenen Rollenbahnen. Dadurch kann eine dichte Pufferung ohne große Abstände ermöglicht werden. In jeder Pufferbahn auf der Sortierebene können bis zu 20 Gepäckstücke gespeichert werden. Die vorhandene Kapazität der 92 Pufferbahnen sowie der acht Pufferregale zur Ladungsvorbereitung auf dem Bahnsteig umfasst somit 1.984 Lagerplätze. Auf die gesamte NGS bezogen, ergibt sich somit ein verfügbarer Lagerplatz für 15.872 Gepäckstücke. Zusammenfassung und Ausblick Im Projekt VMo4Orte forscht das DLR unter anderem an einem ganzheitlichen Gepäcktransportsystem zur Steigerung der Attraktivität und des Komforts im Eisenbahnverkehr. In diesem Beitrag wurde das Teilkonzept eines automatisierten Gepäckaufgabesystems für zukünftige Bahnhöfe vorgestellt. Das Konzept umfasst die Entwicklung der bahnhofseitigen Schnittstellen zwischen der Gepäckaufgabe und dem fahrzeugseitigen Transportsystem. Der Fokus liegt auf der Beförderung und Sortierung des Reisegepäcks, der Integration von automatisierten Umlademöglichkeiten und der Bereitstellung zur Abholung oder zum Weitertransport. Die Basis der Konzeptentwicklung bildet eine detaillierte Anforderungsanalyse, die unter anderem Experteninterviews und die Betrachtung historischer Gepäcksysteme umfasst. In dem darauf aufbauend entwickelten System dient eine zusätzliche Sortierebene der Trennung der Personen- und Gepäckflüsse. Die Reisegepäckstücke werden im Anschluss an die Abgabe unmittelbar in diese Ebene befördert. Dort wird das Gepäck vorsortiert und zwischengelagert. Aus diesem Lagerbereich werden die Gepäckstücke bedarfsorientiert zur Ladungsvorbereitung entnommen und auf den Bahnsteig transportiert, wo die automatische Ein- und Ausladung in den jeweiligen Zug erfolgt. Nach der Ausladung können sowohl eine unmittelbare Rückgabe der Gepäckstücke an die Reisenden als auch der Transfer zu Anschlusszügen realisiert werden. Ebenfalls möglich ist eine Zwischenlagerung am Bahnhof oder der verkehrsmittelunabhängige Weitertransport. Die Leistungsfähigkeit des Gepäcksystems hinsichtlich der benötigten Durchlaufzeit, Sortierleistung und Speicherkapazität wurden anhand der im Projekt definierten Kennzahlen nachgewiesen. Diese Berechnungen bilden die Grundlage für anschließende Gepäckflusssimulationen, die der Identifikation potenzieller Engpässe im Vorfeld weitergehender Planungen dienen sollen. Zur Erweiterung des Gepäcksystems, um die Gepäckflüsse aus anderen Bereichen der NGS, wie zum Beispiel vom angeschlossenen ÖPNV oder Regionalverkehr, muss ein ganzheitliches Betriebskonzept für alle Gepäckprozesse der NGS erarbeitet werden. Die Integrierbarkeit des entwickelten Sortiersystems in bestehende Bahnhofsinfrastrukturen ist in Folgearbeiten zu untersuchen. Darüber hinaus sind detaillierte ökonomische Betrachtungen erforderlich. ■ LITERATUR [1] Bundesregierung (2021): Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP, S. 39. [2] Umweltbundesamt (2023): Emissionsdaten. Online: www.umweltbundesamt.de/ themen/ verkehr-laerm/ emissionsdaten#verkehrsmittelvergleich_personenverkehr_ grafik (Abruf: 31.03.2023). [3] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2021): Verkehr in Zahlen 2021/ 2022, S. 215. [4] Rüger, B.; Matzenberger, P.; Benz, V. (2015): KundInnengerechte Reisegepäckbeförderung. In: Eisenbahntechnische Rundschau, Juli & August 2015, S. 75-79. [5] Ebenfeld, S. (Leiter Sammlungen und Bibliothek DB Museum, Deutsche Bahn Stiftung gGmbH): persönliches Interview am 09.12.2022. [6] Plank, V. (2008): Dimensionierung von Gepäckablagen in Reisezügen. Technische Universität Wien. (Diplomarbeit). [7] Rüger, B.; Ostermann, N. (2015): Der Innenraum von Reisezugwagen - Gratwanderung zwischen Sinn und Effizienz. In: Eisenbahntechnische Rundschau, März 2015, S. 38-44. [8] International Air Rail Organisation (2007): IARO Report 10.07: Check-in on airport railways, ISBN 1 903108 08 10, S. 19 ff. [9] City Airport Train (2023): City Check-In. Online: www.cityairporttrain.com/ de/ home (Abruf: 15.07.2022). [10] Nettel, O. (Head of OTA - Airline and Terminal Operation Development, Flughafen Wien AG): persönliches Interview am 29.11.2022. [11] Böhm, M.; Popa, A.; Malzacher, G.; Winter, J. (2020): Next Generation Station - Konzept für einen leistungsfähigen Bahnhof. In: Internationales Verkehrswesen, Februar 2020, S.-32-37. [12] Arendt, M.; Böhm, M.; Malzacher, G.; Eursch, A. (2022): Flexibles, automatisches Gepäcksystem für komfortable Zugreisen. In: Der Eisenbahningenieur, Januar 2022, S. 47-50. [13] Popa, A.; Böhm, M.; Milbredt, O.; Deutschmann, A. (2021): Automatische Gepäckaufgabe am Bahnhof. In: Internationales Verkehrswesen Februar 2021, S. 26-31. [14] Frank, T. (BEUMER Maschinenfabrik GmbH & Co. KG): persönliche Kommunikation am 14.03.2023. Mathias Böhm, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Fahrzeugkonzepte, Forschungsfeld Technologiebewertung und Systemanalyse, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V., Berlin mathias.boehm@dlr.de Andrei Popa, Dipl.-Wirtsch.-Ing (FH), M.A. Institut für Verkehrssystemtechnik, Abteilung Design & Bewertung von Mobilitätslösungen, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V., Braunschweig andrei.popa@dlr.de Stephan Kintzel, M.Sc. Absolvent des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen, Technische Universität Berlin kintzel@campus.tu-berlin.de Lasse Hansen, MBE Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Land- und Seeverkehr, Fachgebiet Bahnbetrieb und Infrastruktur, Technische Universität Berlin l.hansen@tu-berlin.de
