eJournals Internationales Verkehrswesen 75/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0066
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2023
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Kritische Situation bei der Deutschen Bahn - und dringender Handlungsbedarf in der Verkehrspolitik

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2023
Klaus Milz
Die derzeit erneute Diskussion über die Deutsche Bahn und die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Rettung aus der Krise – vor allem aus der auf Dauer untragbaren Verlustsituation – erfordert einen Rückblick auf bereits mehrfach durchgeführte Analysen und Vorschläge. Ein Appell an die Politik von Klaus Milz.
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Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 77 Kritische Situation bei der Deutschen Bahn - und dringender Handlungsbedarf in der Verkehrspolitik Die derzeit erneute Diskussion über die Deutsche Bahn und die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Rettung aus der Krise - vor allem aus der auf Dauer untragbaren Verlustsituation - erfordert einen Rückblick auf bereits mehrfach durchgeführte Analysen und Vorschläge. Ein Appell an die Politik von Klaus Milz. D as Problem Klimakrise ist inzwischen national sowie weitgehend auch international in Politik und Öffentlichkeit angekommen. So versuchen in Deutschland Bundes- und Landesregierungen in allen betroffenen Sektoren, Maßnahmen zur Klimarettung zu finden. Die Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen sind im Rahmen der Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen sowohl auf EUals auch auf nationaler Ebene zum Teil gesetzlich festgelegt worden. In Deutschland beispielsweise wurde das „Klimaschutzprogramm 2030“ für die Sektoren Verkehr, Energie, Industrie, Gebäude, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft beschlossen. Bestandteile dieses Programmes sind sowohl der Ausstieg aus Kohle und anderen fossilen Energieträgern als auch ein beschleunigter Ausbau der erneuerbaren Energien. Über die konkreten Maßnahmen zum Erreichen dieser Ziele gibt es derzeit noch heftige Debatten, aber erfreuliche Zwischenziele sind in fast allen Sektoren bereits erkennbar. Ein Problembereich ist bei uns leider immer noch der Verkehrssektor, der seinen gesetzten Zielen erheblich hinterher hinkt. Die mit der „Verkehrswende“ angestrebte Verlagerung des Verkehrs auf umweltfreundliche Verkehrsträger wie Schienenverkehr und ÖPNV kommt trotz permanenter Diskussionen und Beschlüsse in der deutschen Verkehrspolitik nur zögerlich voran. In diesem Zusammenhang kann die Strategie der Bundesverkehrsministerien in den letzten Jahren nicht immer als stringent genug bezeichnet werden. Es gibt erfreulicherweise im derzeitigen Bundesverkehrsministerium viele Pläne, darunter auch Investitionsprogramme für eine zukünftige Schieneninfrastruktur und moderne Bahnhöfe sowie beeindruckende Beschaffungsplanungen für Fahrzeuge der DB. Aktuell geht die Bundesregierung von einem notwendigen Investitionsbedarf für das seit vielen Jahren vernachlässigte Schienennetz in Deutschland von rund 90 Mrd. EUR bis 2027 aus. Allerdings sind nach Aussagen des- Verkehrsministeriums davon nur rund 43 Mrd. EUR im Bundeshaushalt eingeplant. Auch zum Bahnbetrieb selbst hat der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Michael Theurer, erfreuliche Maßnahmen angekündigt. So soll die nächste Stufe des seit Foto: Gerald Friedrich/ pixabay Standpunkt FORUM FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 78 Jahren diskutierten Deutschlandtaktes im Fernverkehr bereits 2025/ 26 eingeführt werden. Positiv zu werten sind auch die wichtigen Entscheidungen im ÖPNV mit dem 49-Euro-Ticket und alle zusätzlichen Bemühungen zur Erhöhung der Bundes- und Länderzuschüsse für einen weiteren Ausbau des umweltfreundlichen öffentlichen Nahverkehrs. Solche Pläne unterliegen jedoch immer wieder der Gefahr, nicht konsequent umgesetzt zu werden. Das Problem liegt wohl vor allem darin, dass die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Verkehrsträger von den verschiedenen politischen Entscheidungsträgern immer noch kontrovers bewertet wird. Trotz diverser Anstrengungen auf Bundes- und Länderebene besitzen wir in Deutschland, im Gegensatz zur Schweiz, nach wie vor keine neutral erstellte wissenschaftliche Gesamtrechnung aller Kosten- und Klimaauswirkungen für die einzelnen Verkehrssektoren, die als verbindliches Leitinstrument für die politischen Entscheidungen allgemeine Anerkenntnis findet. Ein aktuelles Beispiel für die unausgewogene Vorbereitung verkehrspolitischer Entscheidungen stellt die vom Bundesverkehrsministerium kürzlich veröffentlichte Prognose über die Entwicklungen von Straßen- und Schienengüterverkehr bis 2050 dar. Sie entspricht nun wirklich nicht dem aktuellen Stand verkehrswissenschaftlicher Erkenntnisse, wie auch die Allianz pro Schiene bemerkte. Wie konnte es zu einer solchen Situation kommen, und was ist nunmehr erforderlich? Ein Blick zurück: Ungleiche Wettbewerbsbedingungen Die Erfindung der spurgeführten Eisenbahn vor nunmehr fast 200 Jahren war eine bedeutsame Innovation. Sie verdoppelte die damaligen Reise- und Transportgeschwindigkeiten bei gleichzeitiger Reduzierung der Kosten. Die Bahnen im Fern-und Nahverkehr wurden als integrierte Systeme (Fahrweg und Betrieb) eingeführt, zumal beide Teile technisch und betrieblich kompatibel aufeinander abgestimmt sein mussten. Diese notwendige Kompatibilität gilt auch heute, unabhängig von der Frage, ob es integrierte oder getrennte Verantwortungen für Netz und Betrieb gibt. Der weltweite Erfolg der Bahnen war jahrelang die Basis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder und ganzer Kontinente. Mit dem zunehmenden intermodalen Wettbewerb, also dem zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern, ist der schienengebundene Verkehr in den letzten 50 Jahren gegenüber dem rasant gewachsenen Straßenverkehr zunehmend in Schwierigkeiten geraten. Insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Individualverkehr auch als Zeichen der individuellen Freiheit angesehen. Der Bahnverkehr verlor an Attraktivität. Durch die beachtliche Entwicklung moderner Antriebstechniken in der Automobilindustrie und dem Vorhandensein kostengünstiger fossiler Treibstoffe kam es letztlich zum Siegeszug des Straßenverkehrs. Als Folge hiervon sind die Marktanteile des Schienenverkehrs kontinuierlich gefallen. Diese technologischen Entwicklungen der Automobilbranche sowie ihre zunehmende Bedeutung für Wirtschaft und Beschäftigung brachten darüber hinaus auch ein deutliches Erstarken ihres politischen Einflusses. Das wiederum führte am Ende zu der heute teilweise noch immer vorhandenen unausgewogenen Verkehrspolitik. Aber auch außerhalb Deutschlands etablierten sich in vielen Ländern ungleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen den einzelnen Verkehrsträgern sowie falsche Prioritäten in der Steuerpolitik. Bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastrukturen fehlt vielfach bis heute noch eine ausreichende Berücksichtigung der Gesamtheit der Energie- und Umweltaspekte. Erst vor dem Hintergrund der stets deutlicher erkennbaren Umwelt- und Energieproblematik haben die EU-Institutionen und einige progressive Länder, so z. B. die Schweiz, erkannt, dass die Bahnen wichtige Beiträge zur Lösung dieser Probleme leisten können. Die Schweiz hat erfreulicherweise sehr früh umfangreiche gesamtwirtschaftliche Berechnungen für ihren nationalen und länderübergreifenden Verkehrssektor durchgeführt und dabei nach dem Stand der Wissenschaft versucht, möglichst alle direkten und indirekten Kosten (speziell die externen Kosten aller Verkehrsträger) zu erfassen. Solche transparenten Analysen waren in diesem Land übrigens auch erforderlich, um möglichst allen Bürgern bei den notwendigen Volksabstimmungen solide Begründungen für die zu treffenden Maßnahmen im Gesetzes- und Investitionsbereich zu geben. Der damalige Chef des schweizerischen Bundesamtes für Verkehr sagte mir einmal markant und deutlich: „Nach unseren Regeln müssen wir für die notwendigen Volksabstimmungen unsere politischen Maßnahmen so klar und transparent beschreiben, dass auch unsere Alpenbauern sie verstehen können“. Bei den Bahnen in der Schweiz sind die daraus resultierenden Wirkungen deutlich erkennbar. Die Umweltbilanz des Verkehrssektors ist in diesem Nachbarland vorbildlich. Die Bahnen sind rundum beliebt und besitzen erfreulich hohe Marktanteile. Diese Erfolge waren dabei absolut unabhängig von der Frage „integrierte oder getrennte Eisenbahnunternehmen“ (Infrastruktur und Betrieb). Was ist nach diesen Erkenntnissen notwendig, um auch in Deutschland rascher zu umweltgerechten Lösungen im Verkehr zu gelangen? Zunächst müssen wir nochmals betrachten, welche externen und internen Einflussfaktoren die Wettbewerbsfähigkeit und den Erfolg dieses unverändert umweltfreundlichsten Verkehrsträgers bestimmen bzw. behindern. Die EU und ihre Wirkung Die EU-Institutionen haben bei ihren Bemühungen um die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Bahnen eine ganze Reihe von Einflussfaktoren, aber auch Schwachstellen des Systems der Bahnen in Europa selbst, analysiert. Eines der historisch bedingten Probleme war die technische Inkompatibilität der verschiedenen nationalen Bahnsysteme (technische Normen, Vorschriften der Betriebsführung, vier verschiedene Stromsysteme, mehrere Spurweiten,18 unterschiedliche Signalsysteme, etc.) Hier sind unter Federführung der EU Kommission erhebliche Harmonisierungen, Struktur-, Finanzierungs- und Betriebsvorschriften erarbeitet und umgesetzt worden (Eisenbahnpakete). Neben den Zielen der technischen und betrieblichen Harmonisierung (einheitlicher europäischer Eisenbahnmarkt) hat die Kommission auch sehr früh das Thema „intramodaler“ Wettbewerb (also Wettbewerb zwischen den Bahnen) aufgegriffen. Er soll durch diskriminierungsfreien Zugang konkurrierender Bahngesellschaften in den Bahnnetzen die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs erhöhen und so zu höheren Marktanteilen dieses umweltfreundlichen Verkehrsträgers führen. Im Idealfall forderte die EU Kommission dabei eine unternehmerische Trennung der Bahninfrastruktur von den Betriebsgesellschaften. In der EU-Gesetzgebung ist dies zunächst für den Güterverkehr und später auch für den Personenfernverkehr festgelegt worden. Aber nicht alle EU Länder haben sich bisher daran gehalten. Frankreich folgte zwar formal sehr rasch dieser Trennungsvorschrift; durch eine Beauftragung des Netzbetreibers Réseau Ferré de France an die nationale Bahngesellschaft SNCF, den Netzbetrieb zu organisieren, es wurde de facto aber keine echte Trennung geschaffen. Trotz dieser engen organisatori- Standpunkt FORUM Internationales Verkehrswesen (75) 3 | 2023 79 schen Verbindung zwischen Netz und Betreibergesellschaften wird jedoch heute der französische Bahnverkehr durch regulatorische Maßnahmen großenteils im Wettbewerb betrieben und weiter ausgebaut. In Deutschland wehrte sich die Deutsche Bahn lange Zeit vehement gegen eine Trennung des Netzes vom Betrieb. Es wurde trotzdem möglich, vor allem im Güterverkehr, erheblichen intramodalen Wettbewerb aufzubauen. Die Überwachung des diskriminierungsfreien Netzzuganges oblag zunächst dem Eisenbahnbundesamt und heute der Bundesnetzagentur. Allein die hohe Zahl der Wettbewerber im deutschen Bahnnetz für den Güterverkehr und deren beachtliche Marktanteile beweist, dass eine organisatorische Trennung von Netz und Betrieb nicht unbedingt erforderlich ist, um den Schienenverkehr in Deutschland erfolgreicher zu gestalten. Der noch recht geringe Wettbewerb im Personenfernverkehr hat teilweise andere Gründe. Hauptproblem in Deutschland: die-Infrastruktur Gemeinsames Problem aller Bahnverkehre in Deutschland ist die seit Jahren vernachlässigte Infrastruktur, das Netz. Wenn nun das Verkehrsministerium in diesen Tagen ankündigt, dass im nächsten Jahr sowohl das Netz als auch die Bahnhöfe der Deutschen Bahn in eine neue „gemeinwohlorientierte Infrastruktursparte“ innerhalb des DB-Konzerns überführt werden sollen, dann ist dies als Beitrag zu mehr Transparenz im intramodalen Wettbewerb innerhalb des deutschen Schienenverkehrs zwar zu begrüßen. Die Universallösung zur Rettung des Bahnverkehrs in Deutschland ist diese Trennung jedoch nicht. Das Problem des Schienenverkehrs hat, wie bereits mehrfach angesprochen, andere Gründe. Diese sind eindeutig nach wie vor die „unfairen“ Wettbewerbsbedingungen für diesen Verkehrsträger. Der Straßenverkehr bezahlt in Deutschland bei weitem nicht alle seine externen Kosten. Es gibt, wie schon dargelegt, bei uns immer noch keine volkswirtschaftlich korrekte Gesamtrechnung analog zu der des Bundesamtes für Verkehr in der Schweiz, die in Deutschland ideologiefrei als Richtlinie für ein verbindliches level playing field in der Verkehrspolitik dienen könnte. Gravierendes Manko ist seit Jahren die hieraus entstandene, letztlich unverantwortliche Politik bei den Investitionen in die Eisenbahninfrastruktur. Hier wurden über Jahrzehnte weder Substanzerhaltung noch notwendige Zukunftsvorsorge betrieben. Darin sind sich inzwischen fast alle Parteien in Deutschland einig. Es ist an dieser Stelle aber müßig, über die verschiedenen Ursachen und früheren Verantwortlichkeiten zu spekulieren. Wichtig ist heute die möglichst rasche Korrektur dieser Versäumnisse. Wie schon erwähnt, sind Vorschläge zu einem Investitionsprogramm für eine zukunftsfähige Schieneninfrastruktur sowohl bei der Bundesregierung als auch bei der Deutschen Bahn inzwischen reichlich vorhanden. Zur raschen Umsetzung ist jetzt aber vor allem die Politik gefordert. Die eindeutige Verantwortung der Verkehrspolitik für die dringend erforderlichen Korrekturen in den Netzinvestitionen und für die Schaffung eines echten fairen level playing fields im Gesamtverkehr unseres Landes ist heute auch Grundvoraussetzung für das Erreichen der Klimaziele in diesem Bereich. Das darf auf keinen Fall durch zeitaufwendige und möglicherweise kontraproduktive Diskussionen über organisatorische Detailfragen zur Trennung von Infrastruktur und Betrieb bei der Deutschen Bahn verwässert werden. Steht die Ampel (noch) auf Grün? Die Ampelkoalition hatte zu Beginn mit Elan eine Wende in der Verkehrspolitik angestrebt, heute ist dies durch eine Fülle von Koalitionsauseinandersetzungen aber in akute Gefahr geraten. Somit bleibt jetzt nochmals ein deutlicher Appell an alle Verantwortlichen: Wir dürfen diese „letzte Chance“ im Verkehrsbereich auf keinen Fall verpassen. Unsere wirtschaftliche und soziale Zukunft hängt hiervon entscheidend ab, zumal eine gelungene Verkehrswende darüber hinaus den mehrfach erwähnten Beitrag zur Rettung unseres Klimas leisten kann. ■ Der deutsche Industriemanager Prof. Dr. rer. pol., Dipl.-Ing. Klaus Milz war Vice President Bombardier Transportation, Senior Vice President ADtranz, President AEG Westinghouse Transportation, Generalbevollmächtigter und Leiter des Geschäftsbereiches Bahnen der AEG a.D. Ab 1976 war er Lehrbeauftragter für Elektrische Bahnen an der TU Berlin, seit 1982 Honorarprofessor. kmilz@gmx.eu Lesen Sie Internationales Verkehrswesen und International Transportation lieber auf dem Bildschirm? Dann stellen Sie doch Ihr laufendes Abo einfach von der gedruckten Ausgabe auf ePaper um - eine E-Mail an service@trialog.de genügt. Oder Sie bestellen Ihr neues Abonnement gleich als E-Abo. Ihr Vorteil: Überall und auf jedem Tablet oder Bildschirm haben Sie Ihre Fachzeitschrift für Mobilität immer griffbereit. www.internationales-verkehrswesen.de/ abonnement DAS FACHMAGAZIN IN DER JACKENTASCHE Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de IV Drittel quer.indd 2 IV Drittel quer.indd 2 28.08.2018 16: 22: 46 28.08.2018 16: 22: 46