eJournals Internationales Verkehrswesen 75/4

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0070
121
2023
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Das Deutschlandticket aus Sicht des hvv und in der bundesweiten Betrachtung

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2023
Andreas Krämer
Anna Korbutt
Im Rahmen einer kombinierten Betrachtung einerseits für den Hamburger Verkehrsverbund (hvv), anderseits mit bundesweiter Perspektive, werden die Wirkungsweisen des Deutschlandtickets untersucht. Im Vordergrund des Beitrags stehen die Abhängigkeiten zwischen Abonnement-Bestand, Fahrtenzuwachs im ÖPNV und der Verlagerung von Fahrten mit PKW zu Bussen und Bahnen. Der hvv erreicht mithilfe des Deutschlandtickets einen Rekordwert an Abos und ein Fahrtenniveau, welches das Corona-Vorkrisenniveau überschreitet. Fahrten werden primär vom PKW verlagert. Eine bundesweite Studie bestätigt die Ergebnisse, zeigt allerdings auch regional sehr unterschiedliche Effekte auf. Das Deutschlandticket hat eine dynamische Entwicklung vor sich und ist ein wichtiger Baustein zur Verkehrswende.
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Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 10 Das Deutschlandticket aus Sicht des hvv und in der bundesweiten Betrachtung Hamburger Verkehrsverbund, Deutschlandticket, 9-Euro-Ticket, Verkehrsmittelverlagerung Im Rahmen einer kombinierten Betrachtung einerseits für den Hamburger Verkehrsverbund (hvv), anderseits mit bundesweiter Perspektive, werden die Wirkungsweisen des Deutschlandtickets untersucht. Im Vordergrund des Beitrags stehen die Abhängigkeiten zwischen Abonnement-Bestand, Fahrtenzuwachs im ÖPNV und der Verlagerung von Fahrten mit PKW zu Bussen und Bahnen. Der hvv erreicht mithilfe des Deutschlandtickets einen Rekordwert an Abos und ein Fahrtenniveau, welches das Corona-Vorkrisenniveau überschreitet. Fahrten werden primär vom PKW verlagert. Eine bundesweite Studie bestätigt die Ergebnisse, zeigt allerdings auch regional sehr unterschiedliche Effekte auf. Das Deutschlandticket hat eine dynamische Entwicklung vor sich und ist ein wichtiger Baustein zur Verkehrswende. Andreas Krämer, Anna Korbutt D as Deutschlandticket ist in der Wirkung nicht unumstritten. Während das 9-Euro-Ticket eine bundesweite Nutzung des Nahverkehrs in den Monaten Juni bis August 2022 für umgerechnet 0,30 EUR pro Tag ermöglichte, ist das Nachfolgeangebot Deutschlandticket mit monatlich 49 EUR deutlich teurer (entsprechend 1,61 EUR pro Tag). Dies führt nicht nur dazu, dass das Absatzpotenzial vergleichsweise geringer ist und korrespondierend damit auch die CO 2 - Entlastungen [1, 2], sondern auch zu einer kritischen Bewertung in Fachkreisen und teilweise auch in den öffentlichen Medien. Kritisiert wird beispielsweise, dass die Verlagerungseffekte vom PKW sehr gering sind (vgl. [3, 4]) und sich daher kaum nennenswerte Klimaeffekte ergeben oder dass die Subventionen für das Ticket besser für einen Ausbau des ÖPNV-Netzes hätten genutzt werden können. Kritikpunkt ist auch der hohe Preis, der für viele gesellschaftliche Gruppen zum Beispiel Bezieher von Sozialhilfe, aber auch Schüler, Auszubildende und Studierende nicht akzeptabel sei [5]. Einige Kritiker gehen sogar so weit und stellen die hohe Kostenentlastung für Pendler, die außerhalb von urbanen Zentren leben, als besonderes Problem dar, weil es eine „Subvention von unten nach oben“ darstelle-[6]. Gerade die unterschiedlichen Ziele, die auch in ihrer Gewichtung nicht explizit transparent gemacht wurden, machen es Kritikern leicht, auf Schwächen im Wirkungsmechanismus hinzuweisen. Allerdings werden wesentliche Nutzergruppen in der Diskussion vielfach außen vor bleiben, z. B. Personen, denen die Nutzung des Hamburg Hbf Foto: Thomas G / pixabay POLITIK Verkehrswende Verkehrswende POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 11 ÖPNV bisher zu teuer war oder die durch komplexe Tarifstrukturen schlichtweg von der Nutzung von Bussen und Bahnen abgehalten wurden, und nicht zu vergessen, Personen, die aufgrund des Deutschlandtickets tatsächlich eine persönliche Verkehrswende erleben und sich beispielsweise entscheiden, für die Fahrt zum Arbeitsplatz auf das eigene Auto zu verzichten. Laut Marktforschung des VDV sollen dies im Juli 2023 etwa 0,9 Mio. Personen sein (8 % von 11 Mio. Abo-Besitzern [7]). Vor diesem Hintergrund werden in dem folgenden Beitrag einerseits spezifische Erfahrungen mit dem Deutschlandticket im Hamburger Verkehrsverbund (hvv), aber andererseits auch Studienergebnisse mit einer bundesweiten Perspektive beleuchtet und mit einander in Beziehung gesetzt. Erfahrungen mit dem Deutschlandticket im hvv Entwicklung des Abonnement-Bestands und der Fahrgastzahlen Wichtig für das Verständnis zum Wirkungsmechanismus des Deutschlandtickets im hvv sind die besonderen Rahmenbedingungen. Der hvv hat bereits vor dem 1. Mai 2023 eine umfassende Tarifreform durchgeführt [8]. Außerdem gibt es neben einem speziellen Angebot beim Jobticket auch Angebote für besondere Zielgruppen: So zahlen Auszubildende 29 EUR für das Deutschlandticket, mit Sozialrabatt kostet es monatlich 19-EUR. Der Erfolg des Deutschlandtickets im hvv-Gebiet lässt sich an unterschiedlichen Kriterien festmachen, auf die wichtigsten wird nachfolgend eingegangen: War während der Corona-Krise ein erheblicher Bestandsverlust bei ÖPNV-Abos zu beklagen, verfügen im September 2023 mehr als eine Million Menschen im hvv über ein Abo für Busse und Bahnen (davon mehr als 330.000 Neu-Abo-Kunden). Gegenüber dem bisherigen Höchststand aus dem Jahr 2019 ist das ein Plus von 30 % [9]. Diese Zahlen spiegeln einen enormen Zuwachs an Kundenbindung wider [10]. Mit diesem Aspekt ist unmittelbar ein zweiter Effekt verbunden, und zwar der Zuwachs an Fahrgästen. Zur Quantifizierung ist eine Zeitreihenanalyse der Fahrgastzahlen im hvv sinnvoll, um saisonale und Trendeffekte bestimmen und extrahieren zu können. In Bild 1 ist im linken Teil die Veränderung der Fahrgastzahlen ab Januar 2019 erkennbar. Nach dem drastischen Einbruch der Fahrgastzahlen mit Beginn der Corona-Pandemie wird ein Hochlauf in Wellen erkennbar. Vor Einführung des 9-Euro-Tickets (Juni bis August 2022) lagen die Nutzerzahlen bei etwa 80 % des mittleren Monatswertes aus 2019. Nach Ablauf der 9-Euro-Ticket-Aktion, welche einen Sprung in der ÖPNV-Nutzerzahl bewirkte, lag die Nachfrage bei etwa 85 % des Vor-Corona-Niveaus. Die Situation Anfang 2023 ähnelt vielen anderen Kommunen und Verkehrsverbünden [11]. Umso erfreulicher: Mit dem Deutschlandticket werden im hvv die Nutzerzahlen aus 2019 dann ab Juni 2023 übertroffen. Um zu bestimmen, wie groß der Nachfragezuwachs durch das Deutschlandticket ist, wird ein Szenario modelliert („No-Change-Szenario“), das eine Welt ohne Deutschlandticket abbildet. Im Vergleich zu diesem Referenz-Szenario ergeben sich Fahrgastzuwächse von etwa 16 % (Mittel der Monate Mai bis August 2023, Bild 1, rechter Teil). Deutliche Nachfragesteigerungen werden auch in vielen weiteren Berichterstattungen im Bundesgebiet beschrieben, so zum Beispiel ein Plus von 20 % im Verkehrsverbund Berlin Brandenburg [12], 10 % für die Region Leipzig-Halle (MDV) [13] und ebenfalls in Bayern (Mai 2023) [14]. DB Regio beziffert den Nachfragezuwachs im Juni 2023 auf 25 % ggü. April 2023 [15]. Die Nachfrage-Effekte in Abhängigkeit von Kundengruppen und Fahrttypen ähneln denen des 9-Euro-Tickets, nur mit abgeschwächten Wirkungen (vgl. [16,-17]). Der Parallelvergleich: Deutschlandticket vs. 9-Euro-Ticket im hvv Um die Wirkungsweise des Deutschlandtickets im hvv einzuordnen, bietet sich der direkte Vergleich mit dem 9-Euro-Ticket an. Dies ist möglich, weil für beide Tickets Ergebnisse aus Studien mit einem vergleichbaren Erhebungsansatz vorliegen. Zusätz- AT A GLANCE Within the framework of a combined analysis on the one hand for the Hamburg Transport Association (hvv) and on the other hand with a nationwide perspective, the effects of the Deutschlandticket are examined. The interdependencies between the number of season tickets, the increase in the number of public transport journeys and the shift from car journeys to buses and trains are examined. With the help of the Deutschlandticket, the hvv achieves a record level of subscriptions and a trip level that exceeds the Corona precrisis level. Trips are primarily shifted from cars. A nationwide study confirms the results, but also shows regionally very different effects. The Deutschlandticket has a dynamic development ahead of it and is an important building block for the transport turnaround. Bild 1: Entwicklung der Fahrgastzahlen im hvv und Prognose der Nachfragezuwächse durch das Deutschlandticket Alle Darstellungen: Autoren POLITIK Verkehrswende Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 12 lich nutzbar sind bundesweite Ergebnisse aus der Studie OpinionTRAIN (September 2023). Wie Bild 2 erkennen lässt, erreicht das Deutschlandticket im hvv nicht nur eine geringere Absatzmenge (0,9 Mio. Nutzer vs. 1,8 Mio. Nutzer 9-Euro-Ticket), sondern die Ticketbesitzer unterscheiden sich auch strukturell von denen des Vorgängerangebotes. Anteilig nutzen mehr ÖPNV-Stammkunden das Deutschlandticket (der Anteil an ÖPNV-Selten- und Nicht-Nutzern ist mit 4 % relativ gering). Zwei Drittel sind bisherige Abo-Kunden. Insgesamt ist der Fahrtenzuwachs im hvv erheblich, die Mehrverkehrsquote beträgt 13 %. Bei etwa 7 % der Fahrten, die mit dem Deutschlandticket unternommen werden, handelt es sich um substituierte Autofahrten. Hochgerechnet sind dies etwa 2 Mio. Fahrten monatlich (beim 9-Euro-Ticket waren dies noch 14 % [10]). Die geringeren Absatzzahlen sind nicht nur durch den deutlich höheren Preis des Deutschlandtickets zu erklären. Bestimmt sind diese auch durch die Abo- und Kündigungsregelungen. Fast 20 % der Personen, die sich nicht für den Ticketkauf entschieden haben, begründen dies mit der Ablehnung eines Abos bzw. den aktuellen Kündigungsregelungen. Methodische Herausforderung bei-der Messung der Verlagerungswirkungen Mehrstufiger Messansatz (Befragung) Die Abschätzung der Nachfragewirkungen, also der Frage, wie viele Fahrten durch das Ticket zusätzlich für den öffentlichen Personennahverkehr generiert werden und welche Fahrtenverlagerungen von anderen Verkehrsmitteln zustande kommen, ist alles andere als trivial. Schon die Feststellung des Nachfragezuwachses hatte beim 9-Euro-Ticket viele Unternehmen überfordert (alleine deshalb, weil sich die Branche in einer Hochlaufphase nach der Corona-Pandemie befand [16]). Um hier eine empirisch fundierte Grundlage zu schaffen, muss ein Erhebungsdesign gewählt werden, dass eine valide Messung der Nachfrageeffekte ermöglicht. In der Regel setzen Mobilitätsforschungen dabei auf die Beschreibung einer konkreten Nutzung des Tickets an einem Referenztag. Wichtig für das Verständnis der abgeschätzten Verlagerungseffekte ist, dass zunächst die alternative Nutzung zum Ticket mit einem Mess-Ansatz erfolgt, bei dem nicht nur eine typische Nutzung des Tickets als Bezugspunkt ausgewählt wird, sondern dass den Studienteilnehmern alle Optionen bzw. Alternativen vor Augen geführt werden [18]. Im Zuge der Evaluierung des 9-Euro- Tickets wurde bereits auf die teilweise erheblichen Design-Effekte hingewiesen, verbunden mit der Gefahr eines systematischen Bias [19], die zu Missverständnissen in der öffentlichen Diskussion führten. Fahrten-Verlagerung oder induzierter Verkehr Wenn es gelingt, den Fahrtenzuwachs durch das Deutschlandticket zu bestimmen, besteht die nächste Herausforderung darin, den Zuwachs an Nachfrage auf eine Verlagerung von anderen Verkehrsmitteln oder auf neu entstandene Nachfrage (induzierter Verkehr) aufzuteilen. Der VDV weist eine Mehrverkehrsquote von 22 % aus, die sich zu zwölf Prozentpunkten aus induziertem Verkehr und zehn Prozentpunkten Fahrtenverlagerung zusammensetzt. Die Mehrverkehrsquote übersetzt sich in eine Fahrtensteigerung von im Mittel etwa 30 %, die zum größten Teil neu entstanden ist [20]. Der mit 6 % ausgewiesene Anteil an Verlagerung von PKW-Fahrten führt zwingendermaßen in der Hochrechnung zu geringen Klimaeffekten. In der Studie Opinion- TRAIN liegt die abgeschätzte Mehrverkehrsquote geringer (15 %, diese übersetzt sich in ein Fahrtenplus von durchschnittlich 18 %), die Fahrtenverlagerung vom PKW relativ jedoch höher (11 %). In der Hochrechnung erscheinen CO 2 -Einsparungen von jährlich 3 Mio. t realistisch, die sich mit den ersten Abschätzungen des BMDV decken (das Verkehrsministerium ist von einer Klimawirkung von ca. 3 Mio. t CO 2 (Äquivalent) im zweiten Jahr der Markteinführung ausgegangen, der spätere Projektionsbericht an die Bundesregierung geht nur von 0,5 Mio. t p.a. aus-[21]). Ankerung der empirischen Ergebnisse an Sekundärdaten Die Einordnung der empirischen Ergebnisse - insbesondere der Verlagerungseffekte - erfordert die Einbeziehung von „harten“ Eckpunkten, die zur Plausibilisierung herangezogen werden. Primärer Eckpunkt sollte der absolute Fahrtenzuwachs (Fahrgastzählsysteme) sein. Darüber hinaus: Wenn die Befragungsergebnisse besonders starke Mehrverkehrs-Effekte auf Strecken feststellen, die über den Wohnort und die Verbundgrenze hinausgehen, dann sollten diese Wirkungen auch in Vergleichsdaten erkennbar sein. Auf Basis seiner Mobilfunk- Daten stellt der Telekommunikationsanbieter O 2 Telefónica genau das fest [22]. Wenn die Befragungsergebnisse auf primäre Verlagerung von PKW-Fahrten hindeuten, dann kann dies im Stadtverkehr zusätzlich durch die Messung der Verkehrsdichte bestätigt werden. Für die Stadt Hamburg zeigen Zeitreihen-Modellierungen für das 9-Euro-Ticket (Juni bis August 2022) und das Deutschlandticket (ab Mai 2023) nicht nur einen Anstieg der Fahrgastzahlen für den ÖPNV, sondern gleichzeitig auch einen reduzierten KFZ-Verkehr [23], also eine kausale Beziehung. Auch interne Daten können - und müssen - für die Ankerung der Ergebnisse herangezogen werden. Dabei spielen sowohl die absoluten Abo-Bestandszahlen als auch die Bestandsstruktur eine Rolle (Zusammensetzung der Deutschlandticket-Besitzer aus Alt-Abo-Kunden und Neu-Abo-Kunden, die vor dem Mai 2023 nicht über ein Abo im Nahverkehr verfügt haben). Einen beispielhaften Rahmen für die Vernetzung unterschiedlicher Datenquellen zeigt Bild 3. Bild 2: Vergleichs-Kennziffern zum Deutschlandticket (Mai bis September 2023) und 9-Euro- Ticket (Juni bis August 2022) im Hamburger Verkehrsverbund (hvv) und in der bundesweiten Betrachtung Verkehrswende POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 13 Einfachheit des Deutschlandtickets vs. Einfachheit der Autonutzung Für eine gesamthafte Bewertung des Deutschlandtickets ist der einfache Zugang zu diesem Angebot von zentraler Bedeutung, insbesondere auch im Vergleich zum Verkehrsmittel PKW. Nicht genutzte Absatzpotenziale Wenn der VDV eine Anzahl von monatlich 10 bis 11 Mio. Nutzern des Deutschlands nennt, dann beinhaltet eine faire Bestandsaufnahme, dass dies unter dem Zielwert von 17 Mio. Abonnenten liegt, den die Branche sich selbst gesetzt hatte [15]. Es besteht also ein erhebliches, noch nicht ausgeschöpftes Absatzpotenzial für das Deutschlandticket [24]. Bestimmt ist dies einerseits dadurch, dass keine flächendeckenden Deutschlandticket-Angebote für Zielgruppen wie Schüler, Auszubildende oder Studierende im Markt sind. Wie unterschiedliche Studienergebnisse bestätigen, stellt aber nicht nur die Höhe des Ticketpreises eine Nutzungsbarriere dar. Hier kommen beispielsweise auch Tarifkonditionen ins Spiel. Ein nicht zu unterschätzender Faktor: Tarifkonditionen Für Personen, die das Deutschlandticket - ähnlich zum 9-Euro-Ticket - einfach einmal ausprobieren möchten, stellen die Tarifkonditionen des Abonnements in Verbindung mit den Kündigungsregelungen wichtige Faktoren dar. Das 49-Euro-Ticket kann jeweils bis zum 10. eines Kalendermonats gekündigt werden (ansonsten verlängert es sich automatisch). Wird das Ticket erst nach dem 10. gekauft, sind auch im darauffolgenden Monat 49 EUR fällig [25]. Dies bedeutet für eine Person bereits minimale Ausgaben von 98 EUR, die sich leicht vervielfachen, wenn es um Reiseentscheidungen von Familien geht. Wenn den Kunden dann die Kündigung erschwert wird (Verbraucher kritisieren bspw. fehlende Kündigungsbuttons in Apps), drängt sich unmittelbar der Eindruck einer Abo-Falle auf. Hier sind die Konsumenten sehr sensitiv, gerade in einer Phase hoher Inflationsraten und wirtschaftlichen Drucks. Dies unterstreichen auch die Ergebnisse von Opinion- TRAIN. In der Studie wurden vier Verbesserungen im Rahmen eines Konstant-Summen-Designs bewertet [26]. Die Studienteilnehmer gewichten eine Preissenkung um 10- EUR monatlich (-20 %) am stärksten (Bild-4). Neben dem Angebot von Mitnahmemöglichkeiten erreichen auch Maßnahmen zur Flexibilisierung des Abos (Laufzeit, Kündigungsregelungen) eine signifikante Wertschätzung aus Kundensicht. Diese ist besonders stark in der Gruppe derjenigen Personen ausgeprägt, die aktuell nicht über ein Deutschlandticket verfügen, den Kauf aber innerhalb der kommenden zwei Monate planen. Debiasing in punkto Autoverkehr Soll die Verkehrswende gelingen, muss es nicht nur darum gehen, günstige Mobilität mit Bussen und Bahnen anzubieten, sondern die Wahrnehmungen alternativer Verkehrsmittel, also primär des PKW, zu verändern. Dies geht weit über die Diskussion von Tempo-30-Regelungen in Städten oder einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120- km/ h auf Bundesautobahnen hinaus (die in der Umsetzung fast „unmöglich“ erscheinen). Es geht darum, dass die Wahrnehmung des PKW zumindest in zwei Dimensionen verzerrt ist. Zum einen werden die Kosten des Autofahrens unterschätzt (vgl. [27, 28]). Viele Autofahrer beziehen lediglich die variablen Kosten in ihre Kalkulation ein. Zum anderen werden die Risiken des Autofahrens unterschätzt [29]. Beim Auto werden Risiken gesellschaftlich akzeptiert, wie das in anderen Bereichen nicht erkennbar ist, im Wesentlichen, weil sich auf unterschiedlichen Beeinflussungs-Ebenen (Macro-Systeme wie Medien bis zu den individuellen Erfahrungen) überproportional positive Einstellungen manifestieren. Dies führt auch zu erheblichen Widerständen in der Öffentlichkeit und Politik, wenn es darum geht, die Nutzung des PKW einzuschränken [30]. Ausblick Beim Deutschlandticket treten - anders als beim 9-Euro-Ticket - zunehmend Finanzierungsfragen in den Vordergrund. Die Klärung dieser Fragen ist wichtig und erforderlich. Es drängt sich allerdings als ungünstiger Nebeneffekt der Eindruck auf, bei den Aufwendungen für das Ticket handele es sich um Kosten (= Belastungen). Diese Kostenperspektive ist aus zwei Gründen problematisch: Erstens sollte hier die Einordnung Bild 3: Validierung der Mehrverkehrsquote und der Fahrtenverlagerung Preis 49 Euro monatlich“ „Bis zum 10. Tag des Monats zum Monatsende kündbar“ „Gültigkeit für den Kalendermonat“ „Keine Mitnahme- Möglichkeit“ Ausgestaltung aktuell nach Ausgestaltung neu 1) „Preis 39 Euro monatlich“ … „Jederzeit zum Gültigkeitsende kündbar“ „Gültigkeit 30 Tage rollierend nach Aktivierung“ „Mitnahme-Möglichkeit gegen Aufpreis (Kinder/ Erwachsene im Verkehrsverbund)“ 1 3 2 4 Gewicht 44% 20% 17% 19% 1) Im Folgenden erhalten Sie unterschiedliche Verbesserungen zum Deutschland-Ticket angezeigt. Verteilen Sie bitte insgesamt 100 Punkte auf die dargestellten Verbesserungen. Die aus Ihrer Sicht wichtigste Verbesserung sollte die meisten Punkte erhalten. 56 % Zielgruppe 57% 15% 11% 17% 57% 17% 14% 13% 35% 21% 23% 20% Alt-Abo- Kunden DT Neu-Abo- Kunden DT Kauf-Potenziial (nächste 2 Monate) Verbesserte Ausgestaltung für die Kunden: 4 Optionen Abwägung (100 Punkte) Differenzierte Präferenz Quelle: exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG Bild 4: Bewertung von Verbesserungen zum Deutschlandticket (OpinionTRAIN 2023) POLITIK Verkehrswende Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 14 als Investition in den Vordergrund gestellt werden (Schritt zur Verkehrswende) und zweitens bestehen unterschiedliche Nutzenkomponenten (Entlastung der Verbraucher, Zugang zu bezahlbarer Mobilität, Verlagerung von PKW-Verkehr), die zu wenig Beachtung finden. Vor diesem Hintergrund ist eine Kosten-Nutzen-Analyse zum Deutschlandticket dringend erforderlich, genauso wie ein erweiterter Maßnahmenplan zum Erreichen der Verkehrs- und Klimaziele. Neben dem Blick nach vorne, hier ein kurzer Blick zurück. In der Phase des auslaufenden 9-Euro-Tickets hatten wir formuliert [18]: „Abschließend eine Vision: Was spricht dagegen, ein günstiges Nachfolgeprodukt anzubieten, das zentral über eine bundesweite App (in einer rein digitalisierten Form) angeboten wird und das an die Bedingung geknüpft ist, der Erfassung von Nutzungsdaten in anonymisiert auswertbarer Form zuzustimmen… Dies wäre dann auch ein Riesenschritt in Richtung Digitalisierung im ÖPNV.“ Bei nüchterner Bewertung bleibt zu sagen, dass es noch einiges zu tun gibt. Weder eine zentrale Datenhaltung liegt vor, die beispielsweise in Echtzeit Angaben über den aktuellen Bestand an Deutschlandtickets ermöglicht, noch eine anonymisierte Erfassung der Bewegungsdaten. Stattdessen (oder genau deshalb) können die positiven Wirkungen des Deutschlandtickets immer wieder in Frage gestellt werden, weil es an einer evidenzbasierten Datenlage mangelt. Gleichzeitig ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Deutschland die Sektor-Ziele für den Klimaschutz nicht erreicht und eine neue „Bestmarke“ erzielt wird: Der Bestand an PKW liegt auf einem Rekordniveau - kein gutes Omen für eine Verkehrswende. Denn: Besitz führt zur Nutzung, und zwar beim Deutschlandticket genauso wie beim Auto. ■ LITERATUR [1] Krämer, A . (2023): Wie einfach wird die Tarifwelt unterhalb des Deutschlandtickets? In: Internationales Verkehrswesen (75), H. 2, S. 49-45. [2] Krämer, A.; König; T.M., Manthey, K.; Grund, L.; Bohr, S. (2023): Effectiveness of Public Transport Promotion Tickets - The example of the 9-Euro-Flatrate-Ticket in Germany. EMAC 2023, Odense, May 25 th . [3] Mietzsch, O. (2023): Vom 9-Euro-Ticket zum Deutschlandticket. Rabattierte Pauschalpreistickets als Gamechanger für die Verkehrswende? In: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft (93) H. 1 (Jan. 2023). 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Andreas Krämer, Prof. Dr. Vorstandsvorsitzender, exeo Strategic Consulting AG, Bonn; Direktor, VARI (Value Research Institute), Iserlohn andreas.kraemer@exeo-consulting.com Anna Korbutt Geschäftsführerin, Hamburger Verkehrsverbund hvv, Hamburg korbutt@hvv.de