Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0074
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Ist das gerecht?
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Laura Mark
Annika Busch-Geertsema
Jessica LeBris
Gesa Matthes
Kerstin Stark
Ein wichtiger Teil der Verkehrswende ist die sozial-räumliche Gerechtigkeit von Maßnahmen. Ein systematischer „zweiter Blick“ auf Verkehrswende-Maßnahmen mit einer Brille der Gerechtigkeit hilft dabei, Wirkungen daraufhin zu überprüfen, welche Bevölkerungsgruppen von einer Maßnahme profitieren oder negativ betroffen sind. Es fehlt dafür allerdings an Instrumenten für eine zeitsparende und praktisch handhabbare Anwendung. Diese Lücke adressieren wir in diesem Beitrag unter Nutzung eines mehrdimensionalen Gerechtigkeitskonzepts und des Persona-Ansatzes.
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Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 28 INFRASTRUKTUR Planung Ist das gerecht? Eine Bewertungshilfe für lokale Mobilitätsmaßnahmen Gerechtigkeit, Persona-Ansatz, Planungshilfe, Verkehrswende, Soziale Teilhabe, Bewertungswerkzeug Ein wichtiger Teil der Verkehrswende ist die sozial-räumliche Gerechtigkeit von Maßnahmen. Ein systematischer „zweiter Blick“ auf Verkehrswende-Maßnahmen mit einer Brille der Gerechtigkeit hilft dabei, Wirkungen daraufhin zu überprüfen, welche Bevölkerungsgruppen von einer Maßnahme profitieren oder negativ betroffen sind. Es fehlt dafür allerdings an Instrumenten für eine zeitsparende und praktisch handhabbare Anwendung. Diese Lücke adressieren wir in diesem Beitrag unter Nutzung eines mehrdimensionalen Gerechtigkeitskonzepts und des Persona-Ansatzes. Laura Mark, Annika Busch-Geertsema, Jessica LeBris, Gesa Matthes, Kerstin Stark D er Begriff der Mobilitätsgerechtigkeit hat in Forschung und Praxis an Aufmerksamkeit gewonnen. Trotz seiner häufigen Erwähnung, etwa in Leitbildern, wird er oft ohne nähere Bestimmung oder tiefere Bedeutung als „Buzzword“ platziert. Unklar bleibt, unter welchen Bedingungen zum Beispiel politische Maßnahmen als gerecht bewertet werden können oder wie eine Maßnahme so geplant und gestaltet werden kann, dass sie gerecht ist. Eine Herausforderung dabei ist, dass es verschiedene Verständnisse von Gerechtigkeit gibt, nicht nur im Alltagsgebrauch, auch in der akademischen Welt existiert eine Vielzahl an Gerechtigkeitstheorien. Ein systematischer „zweiter Blick“ auf Maßnahmen wie z. B. Veränderungen an Infrastruktur oder Verkehrsregelung oder der Einführung eines Verkehrsangebots durch eine „‚Brille der Gerechtigkeit“ ist von hoher Bedeutung, um Wirkungen von Maßnahmen aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit zu prüfen - am besten vor Umsetzung der Maßnahme. Unser Anliegen ist es, ein fundiertes und handhabbares Werkzeug zur Analyse und Bewertung von Verkehrsmaßnahmen unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu bieten, das im operativen Geschäft der Planungspraxis Orientierung bietet. Qualitativen Kriterien wird dabei maßgebliche Bedeutung beigemessen. Das Werkzeug kann von allen eingesetzt werden, die auf lokaler oder regionaler Ebene an der Entwicklung und Implementierung von Verkehrskonzepten, Mobilitätsangeboten und Regulierungen beteiligt sind, neue oder bestehende Lösungen integrieren und diese hinsichtlich der Gerechtigkeitsdimension überprüfen möchten. Primäre Zielgruppen sind also Akteur: innen aus der kommunalen bzw. regionalen Verwaltung, aus Unternehmen, aus der Lokalpolitik und aus Institutionen, die Fördermittel vergeben. Das Werkzeug lässt sich als Zertifizierungsinstrument weiterdenken, an das bspw. Fördermittel gekoppelt sind. Das Werkzeug kann zu verschiedenen Zeitpunkten der Entwicklung von Maßnahmen zum Einsatz kommen: zur konzeptionellen Unterstützung bei der Planung und Umsetzung, zur prozessbegleitenden oder nachträglichen Reflexion, Bewertung und Anpassung sowie für ein fortlaufendes Monitoring. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, bestehende Maßnahmen zu überprüfen. Es können verkehrsplanerische Maßnahmen verschiedener Maßstabsebenen betrachtet werden, entweder ortsgebunden und kleinräumig - wie die Umgestaltung eines Straßenraums - oder auch flächendeckend wie die Einführung von Parkraumbewirtschaftung in einer ganzen Stadt. Es funktioniert sowohl für Pullals auch Push-Maßnahmen. Das Werkzeug soll die Anwender: innen für Fragen der Gerechtigkeit sensibilisieren, und damit die Grundlage schaffen, Gerechtigkeitsaspekte stärker in die eigene Arbeit zu integrieren. Es schafft eine gegenüber Kolleg: innen sowie Dritten transparente Abwägungsgrundlage und macht deutlich, an welchen Stellen ggf. Anpassungs- oder Kompensationsbedarf besteht. Es macht Entscheidungen besser nachvollziehbar und schafft mit dieser Transparenz die Argumentationsbasis, um Entscheidungen gegenüber der Öffentlichkeit und relevanten Akteur: innen kommunizieren und ggf. auch rechtfertigen zu können. Insbesondere im politischen Kontext ist dies wichtig. Im Folgenden stellen wir die konzeptionellen Grundlagen vor, erläutern schrittweise die Elemente des Werkzeugs und zeigen abschließend eine beispielhafte Anwendung. Der Download des Werkzeugs (siehe Info-Box) ist frei. Das Werkzeug und seine konzeptionellen Grundlagen Als konzeptionelle Fundierung des Werkzeugs haben wir den theoretischen Ansatz nach Fainstein (2011) und Walker (2012) operationalisiert. Wir stützen uns damit auf einen in der Umweltfolgenforschung etablierten gerechtigkeitstheoretischen Ansatz, der Gerechtigkeit im Zusammenspiel von drei Dimensionen begreift (in Anlehnung an [1] und [2]): 1. Verteilungsgerechtigkeit 2. Anerkennung verschiedener Lebensrealitäten 3. Verfahrensgerechtigkeit Gerechtigkeit im Bereich Mobilität zeigt sich demnach erstens als ein Verteilungsproblem. Es geht um den Zugang zu Infrastruktur und Mobilitätsangeboten und die Erreichbarkeit von Zielorten und Aktivitäten sowie um die individuelle Nutzbarkeit und Nützlichkeit im Rahmen von zeitlichen, finanziellen oder körperlichen und mentalen DOWNLOAD Das Bewertungs-Werkzeug besteht aus einer Excel-Datei mit mehreren Tabs: •• Bedienungsanleitung •• Bewertungmatrix_blanko •• Vorlage Personas •• Vorschläge Personas •• Anwendungsbeispiel Es kann auf der Seite des AK Mobilität der ARL heruntergeladen werden (nach unten scrollen): www.arl-net.de/ de/ projekte/ mobilitäterreichbarkeit-und-soziale-teilhabe Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 29 Planung INFRASTRUKTUR Anforderungen und Bedürfnissen. Dabei ist das Ziel der Problemlösung nicht eine Gleichverteilung aller Ressourcen und Kosten, sondern die verstärkte Begünstigung sozial benachteiligter Gruppen, um Allen eine grundlegende soziale Teilhabe zu ermöglichen (wie z. B. das Konzept der vertikalen Gerechtigkeit nach [3]). Zweitens ist die Anerkennung diverser Anforderungen und Bedürfnisse in der Gesellschaft wichtig, sodass Infrastrukturen und Angebote danach ausgerichtet werden können. Häufig steht nur ein Teil der Bevölkerung bei Angebotsplanungen im Mittelpunkt. Dies sind häufig z. B. Menschen auf dem Weg zur (Vollzeit-)Arbeit - überspitzt formuliert körperlich nicht beeinträchtigte Männer, Alleinreisende sowie Personen mit ausreichendem Einkommen. Bedürfnisse anderer Gruppen werden häufig vernachlässigt oder erst gar nicht gesehen. Hierzu zählen nicht nur die potentiellen weiteren Nutzer: innen vor Ort, sondern auch die Bedürfnisse der Menschen in anderen Gesellschaften weltweit und jene der jüngeren und künftigen Generation. Lokale und globale ökologische Risiken und Klimawandelfolgen sind hier wesentliche Faktoren, die bei der Bewertung von Maßnahmen und Angeboten berücksichtigt werden sollten. Drittens ist Verfahrensgerechtigkeit wichtig, die sich entlang der Frage bemessen lässt, welche Vertreter: innen welcher sozialen Gruppen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden sowie wessen Bedürfnisse mit welchem Gewicht Berücksichtigung finden. Um gerecht zu sein, müssen Erkenntnisse zu den Bedürfnissen der diversen Gruppen in Entscheidungen zur Auswahl und Gestaltung von Maßnahmen einfließen und Vertreter: innen verschiedener Gruppen oder geeignete Expert: innen an der Planung beteiligt sein. Zudem geht es bei dieser Dimension auch darum, wie das Wissen über gruppenspezifische Anforderungen zustande kommt, wer also z. B. von Befragungen erreicht wird und wer zu welchem Zeitpunkt und in welcher Weise partizipieren kann oder eben nicht. Für die Nutzbarmachung der vorgestellten konzeptionellen Überlegungen haben wir unser Werkzeug als Matrix aufgebaut. Diese besteht analog zu den Gerechtigkeitsdimensionen aus folgenden Elementen: •• Dimension Verteilungsgerechtigkeit (Bild 1, x-Achse), untergliedert in thematische Bereiche, die bei Maßnahmen der Verkehrswende häufig diskutiert werden, z. B. monetäre Auswirkungen, Erreichbarkeit, Teilhabe und Nutzbarkeit öffentlicher Räume, sowie Gesundheit und (Verkehrs-)Sicherheit; Auswirkungen sowohl positiver als auch negativer Natur. •• Dimension Anerkennung (y-Achse), Anwendung von sogenannten Personas als fiktive Repräsentant: innen einer Vielzahl möglicher Gruppen. So werden die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gruppen in der konkreten praktischen Anwendung leichter vorstellbar (siehe nächstes Kapitel). Neben Auswirkungen von Maßnahmen auf heute lebende Personen können auch die Effekte auf zukünftige Generationen und Gesellschaften im globalen Süden sowie Umwelteffekte Berücksichtigung finden. •• Dimension Verfahrensgerechtigkeit (x-Achse), zur Erfassung der Möglichkeiten der verschiedenen Personengruppen, Einfluss auf Entscheidungen im Zusammenhang mit Stadt- und Verkehrsplanung zu nehmen, z. B. Qualität und Wirkung von Beteiligungsprozessen. In der Matrix werden die drei Dimensionen der Gerechtigkeit aufeinander bezogen und somit Aspekte der Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit für bestimmte Personengruppen betrachtet. Die Nutzung des Werkzeugs erfolgt in vier Schritten. Im ersten Schritt wird die Maßnahme knapp, aber möglichst konkret beschrieben. Dann werden die Personas ausgewählt — aus dem Pool der bereits im Werkzeug angelegten oder nach Bedarf auch selbst kreierte oder angepasste Personas. Im dritten Schritt werden die Auswirkungen der Maßnahme auf die Personas und die Umwelt beschrieben. Abschlie- Persona 1 Persona 2 Persona 3 0 BEISPIEL TEXT TEXT + 'BEISPIEL TEXT TEXT Persona 4 -- 'BEISPIEL TEXT TEXT -- 'BEISPIEL TEXT TEXT Persona 5 ++ 'BEISPIEL TEXT TEXT - 'BEISPIEL TEXT TEXT Persona 6 0 'BEISPIEL TEXT TEXT Persona 7 Umwelt (Biodiversität, Versiegelung, Gewässer, Emissionsbelastung, etc.) Künftige Generationen ("intergenerationale Gerechtigkeit") Andere Gesellschaften (in ärmeren Ländern, globaler Süden) ("globale Gerechtigkeit") ++ + 'BEISPIEL TEXT TEXT Verteilung (positive und negative Betroffenheiten) Verfahrensgerechtigkeit Monetäre Auswirkungen Erreichbarkeit Teilhabe und Nutzbarkeit öffentlicher Räume Auswirkungen auf… Gesundheit und Sicherheit Sonstiges Partizipation und Demokratie Beschreibung der Maßnahme Anerkennung verschiedener Bedürfnisse und Fähigkeiten (Personas) WEITERE Auswirkungen Bsp TEXT TEXT Monetäre Auswirkungen Erreichbarkeit Teilhabe und Nutzbarkeit öffentlicher Räume Gesundheit und Sicherheit Sonstiges Partizipation und Demokratie Auswirkungen auf einen Blick Implikationen für die Maßnahme Bild 1: Vorlage der Gerechtigkeitsbewertungsmatrix Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 30 INFRASTRUKTUR Planung ßend erfolgt eine zusammenfassende Bewertung. Im Folgenden werden die Personas und der Umgang mit ihnen näher beschrieben. Die ausführlichere Beschreibung und exemplarische Anwendung des Werkzeugs in den vier Schritten wird aus Platzgründen im Werkzeug selbst, das als Excel-Tabelle im Download-Bereich heruntergeladen werden kann, vorgenommen. Personas Bei der Bewertung von Maßnahmen jenseits von Normen und Richtlinien passiert es häufig, dass Planende von ihren eigenen Alltagserfahrungen ausgehen. Es ist jedoch sinnvoll, bei der Entwicklung und Bewertung von Maßnahmen von der Alltagswelt Betroffener auszugehen. Um die Auswahl zu berücksichtigender Alltagswelten nicht dem Zufall oder der Repräsentanz im Planungsgremium zu überlassen, wird ein systematisches Verfahren vorgeschlagen. Um das vorgestellte Werkzeug auf möglichst konkrete, alltagsweltliche Fälle anwenden zu können, wird im Folgenden mit dem Ansatz der Personas gearbeitet, bezugnehmend auf das ursprünglich im Marketing und bei Produktentwicklungen verwendete Konzept (z. B. „User Experience Design” [4]). In einer Persona sind bestimmte Eigenschaften kombiniert, die maßgeblichen Einfluss auf Mobilitätsoptionen, Mobilitätsentscheidungen und Aktivitätsketten haben. Personas sind fiktive Personen, die hinreichend konkret dargestellt werden, um sich gedanklich in sie hineinversetzen zu können. So wird es möglich, sich systematisch Betroffenengruppen zu nähern. Die Konstruktion von Personas bedeutet zwangsläufig eine Reduktion von Komplexität. Dabei ist die Gefahr groß, Stereotype oder Klischees zu reproduzieren. Daher werden hier systematisch unterschiedliche Problemlagen betrachtet und daraus die Personas abgeleitet. Sie sollen nicht die gesamte Gesellschaft abdecken, sondern explizit Benachteiligungen aufzeigen. Unsere Herangehensweise der Persona- Entwicklung wurde in Anlehnung an die Kreativmethode des „morphologischen Kastens“ nach Fritz Zwicky [5] entwickelt, der insbesondere bei mehrdimensionalen Problemstellungen eine Übersicht in Form einer Entscheidungsmatrix bietet. Über die Darstellung lassen sich in systematischer Weise verschiedene Ausprägungen kombinieren. Dieses Vorgehen hat auch den Vorteil, dass auf Basis dieses Baukastensystem neue Personas zusammengesetzt werden können. Zur Entwicklung der Personas wurden drei Kategorien gewählt. Die Kategorien begründen sich aus der Forschung zu Einflussfaktoren des Mobilitätsverhaltens [6, 7] und aus Praxistheorien [8]. Diesen Kategorien sind jeweils mehrere Dimensionen mit verschiedenen Ausprägungen zugeordnet. Dabei betrachten wir zunächst (a) Mobilitätsanforderungen und -bedürfnisse, welche die Frage berühren, warum eine Person auf eine bestimmte Art mobil sein muss oder möchte. Die zweite Kategorie bezieht sich auf (b) Ressourcen und Ausstattung, auf die eine Person zurückgreifen kann, um mobil zu sein. Die dritte Kategorie lenkt den Blick auf (c) körperliche und kognitive Fähigkeiten, also die Kompetenzen einer Person zur Mobilität. KATEGORIEN UND DIMENSIONEN AUSPRÄGUNG DER DIMENSIONEN (Anwendung einer 2- (ja/ nein) oder 3-Skala (mit Mittelwert), kann angepasst werden; links = Ausprägungen die zu besonderen Mobilitätsanforderungen führen) (a) Mobilitätsanforderungen und -bedürfnisse Aktionsradius insbesondere bzgl. der regelmäßig aufzusuchenden Orte, Wegezwecke: Versorgung, Arbeit/ Bildung, Freizeit groß mittel (Fahrraderreichbarkeit) klein (fußläufig) Besondere Aktionszeiten (z. B. Arbeit in Randzeiten) ja / nein Autoabhängigkeit (Destination erzwingt PKW-Nutzung) ja / nein Sicherheitsbedarf erhöht / nicht erhöht Transporterfordernis (Gegenstände, Tiere) ja / nein Begleitungserfordernis (Personen begleiten) ja / nein (b) Ressourcen und Ausstattung Finanzieller Spielraum gering mittel groß Zeitlicher Spielraum (Betreuungs-Verantwortung, feste Zeiten bspw. durch Arbeit, Kita, Bereitschaftsdienst etc.) niedrig mittel hoch PKW-Verfügbarkeit nein eingeschränkt ja Fahrradverfügbarkeit nein / ja Mobilitätshilfe (Rollator, Rollstuhl, Kinderwagen) ja / nein Verfügbarkeit ÖPNV-Zeitkarte nein / ja (c) Körperliche und kognitive Fähigkeiten PKW-Fahrtüchtigkeit und Führerscheinbesitz nein / ja Fahrradfahrtüchtigkeit nein (nicht gelernt oder physisch eingeschränkt) ja aber nicht routiniert routiniert Digitalkompetenz niedrig mittel hoch Sehkraft (Wahrnehmung von Farbe, Kontrast, etc.) nein eingeschränkt ja Hörvermögen nein eingeschränkt ja Körpergewicht überdurchschnittlich / durchschnittlich oder niedrig Körpergröße und Sichthöhe unterdurchschnittlich / durchschnittlich oder hoch Gehtüchtigkeit und Fitness nein eingeschränkt ja Aufmerksamkeit (Einschätzen der verkehrlichen Situation, Reaktionsfähigkeit) unterdurchschnittlich / durchschnittlich oder hoch Orientierung und Ortskenntnis (Erinnerung, Lernen, Planen, Erfahrung) unterdurchschnittlich / Durchschnittlich oder hoch Lese- und Sprachkompetenz nein eingeschränkt ja Ängste und Phobien (z. B. sozial, raumbezogen) ja / nein Aus den Einschränkungen resultierende Begleiterfordernis Ja / nein Tabelle 1: Kategorien und ihre Dimensionen zur Persona-Bildung (markiert: Beispielpersona) Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 31 Planung INFRASTRUKTUR Eine Persona entsteht schließlich aus der systematischen Kombination mehrerer Ausprägungen. Dabei sollte ausgehend von möglichen Problemlagen gedacht werden. In Tabelle 1 sind die Kategorien und ihre Dimensionen aufgeführt. Beispielhaft sind die Ausprägungen für eine Persona markiert, die daraufhin vorgestellt wird. Im Downloadbereich sind neben der „leeren“ Tabelle als Gerüst zur Persona-Entwicklung weitere sieben bereits entwickelte Personas dargestellt. Folgende Beschreibung dient als Beispiel für die in der Tabelle farbig markierte Persona: Yussuf, 40 Jahre, ist seit seiner Geburt gehörlos. Er verbringt viel Zeit mit seinen Freunden, die er in der Schule für Gehörlose kennengelernt hat, wo er sich auch ehrenamtlich engagiert. Hier hat er regelmäßige Termine, denn er ist mehrmals in der Woche als Ausbilder vor Ort. Im Job faszinieren ihn Zahlen und Technik, er ist Informatiker und arbeitet in einem großen Software-Unternehmen. Finanziell geht es ihm gut. Schon länger kämpft er mit seinem Gewicht, was ihm viel mehr zu schaffen macht als das limitierte Hörvermögen. Fahrradfahren ist für ihn daher nicht möglich. Er bräuchte ein Spezialrad, aber da hat er sich bisher noch nicht „rangewagt“ und hat daher auch wenig Erfahrungen, sich mit dem Zweirad fortzubewegen. Im Alltag macht er daher fast alles mit dem Auto, insbesondere auch, weil sein Arbeitsort nur sehr schlecht mit dem ÖPNV angebunden ist. Hinzu kommt, dass er Schwierigkeiten hat, sich in der Stadt zu orientieren. Er bewegt sich i. d. R. auf festen Strecken, die er schon lange kennt. Für die Weiterentwicklung dieser Persona bieten sich visuelle oder textliche Ergänzungen an, welche die Identifikation mit der Persona unterstützen und sie plastisch machen. In Kombination mit weiteren Methoden lassen sich hierfür auch auflockernde und aktivierende Workshop-Formate nutzen. Zusammenfassung Eine gut gemeinte verkehrliche Maßnahme ist nicht immer gut gemacht. Mit den hier dargestellten und den im Downloadbereich abrufbaren Materialien haben wir den Prototyp eines Instruments entworfen, mit dem kommunale Akteur: innen Mobilität und Verkehr betreffende Maßnahmen darauf hin prüfen können, ob und für wen sie Verbesserungen bzw. auch Verschlechterungen mit sich bringen. Das theoriebasierte erarbeitete Werkzeug hilft dabei, die Folgen der Maßnahme für Personen herauszuarbeiten, die hinsichtlich ihrer Mobilität benachteiligt sind. Damit schafft das Tool Transparenz in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit und Verfahrensgerechtigkeit und erkennt unterschiedliche Lebensrealitäten an („justice as recognition“). Es dient damit der Unterstützung einer sachlichen Fachdiskussion. Das Werkzeug einschließlich einer Nutzungsanleitung und Vorschlägen für Personas kann im Excel-Format heruntergeladen werden. Die Autorinnen freuen sich über Rückmeldungen und ermutigen zur freien Verwendung und Weiterentwicklung. ■ Dieses Bewertungswerkzeug ist im Rahmen des Arbeitskreises „Mobilität, Erreichbarkeit und soziale Teilhabe“ der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) entstanden, wir danken seinen Mitgliedern, besonders Prof. Dr. Joachim Scheiner und Dr. Melanie Herget für ihre konstruktiven Anmerkungen. QUELLEN [1] Fainstein, S. (2011): The just city. Ithaca, NY: Cornell University Press. [2] Walker, G. (2012): Environmental justice. Concepts, evidence and politics. Abingdon, Oxon, New York: Routledge. [3] Litman, T. (2020): Evaluating Transport Equity. Guidance For Incorporating Distributional Impacts in Transportation Planning. URL: https: / / trid.trb.org/ view/ 1755608. [4] Häusel, H.-G.; Henzler, H. (2018): Buyer Personas. Wie man seine Zielgruppen erkennt und begeistert. Stuttgart: Haufe (Haufe Fachbuch, 10434). 1 Auflage 2018. [5] Zwicky, F. (1966): Entdecken, Erfinden, Forschen im morphologischen Weltbild, München/ Zürich, Droemer/ Knaur. [6] Harms, S. (2003): Besitzen oder Teilen. Sozialwissenschaftliche Analyse des Carsharings. Zürich, Chur (Rüegger). [8] Busch-Geertsema, A. (2018): Mobilität von Studierenden im Übergang ins Berufsleben. Wiesbaden: Springer Fachmedien (Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung). DOI: 10.1007/ 978-3-658- 18686-9 (Open Access). [8] Shove, E.; Chappels, H.; Van Vliet, B. (2012): Infrastructures of consumption: Environmental innovation in the utility industries. Earthscan, 2012. Laura Mark Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Sozialwissenschaften, Heinrich Heine Universität Düsseldorf laura.mark@hhu.de Annika Busch-Geertsema, Dr. Referentin für Mobilität, Logistik, Binnenschifffahrt, Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen, Wiesbaden annika.busch-geertsema@wirtschaft. hessen.de Gesa Matthes, Dr. Leitung Strategische Innovation, HafenCity Hamburg GmbH matthes@hafencity.com Kerstin Stark, Dr. Vorstand Changing Cities; Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin kerstin.stark@changing-cities.org Jessica LeBris, Dr. Leitung Strategische Beratung / Mobilität und öffentlicher Raum, experience consulting GmbH, München jessica.le-bris@experienceconsulting.de Call for Papers 2024 Themen und Termine auf www.internationales-verkehrswesen.de Ihre neuen Ergebnisse aus Forschung, Wissenschaft und Praxis in
