Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0076
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Warum Brücken unsere Aufmerksamkeit brauchen
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David Cornu
Welche Rolle eine Brücke für die Infrastruktur und den Alltag von Menschen spielt, fällt oft erst auf, wenn sie aufgrund von Baufälligkeit geschlossen werden muss – oder im schlimmsten Fall im laufenden Betrieb auseinanderbricht. Viele der Bauwerke aus Stahl, Gusseisen und Spannbeton sind inzwischen in die Jahre gekommen. Wie stabil sie noch sind, lässt sich aber schwer von außen beurteilen. Das sogenannte Structural Health Monitoring (SHM) verspricht Abhilfe. SHM-Systeme aus Sensoren, Hard- und Software messen Veränderungen des Strukturverhaltens von Brücken und erkennen so frühzeitig Schäden am Baumaterial – unter anderem an der Great Belt Bridge in Dänemark.
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Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 36 Warum Brücken unsere Aufmerksamkeit brauchen Mit Structural Health Monitoring (SHM) und Weight In Motion (WIM) sensible Infrastruktur schützen Bauwerksstruktur, Bestandsaufnahme Schadenserfassung, Sicherheit Welche Rolle eine Brücke für die Infrastruktur und den Alltag von Menschen spielt, fällt oft erst auf, wenn sie aufgrund von Baufälligkeit geschlossen werden muss - oder im schlimmsten Fall im laufenden Betrieb auseinanderbricht. Viele der Bauwerke aus Stahl, Gusseisen und Spannbeton sind inzwischen in die Jahre gekommen. Wie stabil sie noch sind, lässt sich aber schwer von außen beurteilen. Das sogenannte Structural Health Monitoring (SHM) verspricht Abhilfe. SHM-Systeme aus Sensoren, Hard- und Software messen Veränderungen des Strukturverhaltens von Brücken und erkennen so frühzeitig Schäden am Baumaterial - unter anderem an der Great Belt Bridge in Dänemark. David Cornu A b dem 19. Jahrhundert konnten Ingenieure Brückenbauwerke immer genauer berechnen. Zudem wurden neue Materialien verfügbar - zunächst Gusseisen und Stahl, dann Spann- und Stahlbeton. Sie wurden zur bevorzugten Lösung, wenn es darum ging, tiefe Kluften, reißende Ströme und Meeresengen zu überwinden. Heute ragen viele von ihnen deutlich weniger stolz in die Landschaft. Lange Dienstjahre unter teils extremen Temperaturen, Wind- und Salzwassereinflüssen haben ihre Spuren hinterlassen. Trotz regelmäßiger Überprüfung und Nachbesserung kommt es daher immer wieder vor, dass Brücken einstürzen. Am 28. Januar 2022 fiel in Pittsburgh (USA) die Fern Hollow Bridge in sich zusammen, eine etwa 135 m lange Stahlbogenbrücke über eine Waldschlucht. Glücklicherweise gab es keine Opfer, obwohl mehrere Fahrzeuge, darunter ein Bus, in das dramatische Ereignis verwickelt waren. Wie lassen sich solche Unfälle vermeiden und welche Technologien gibt es, um Brücken besser zu schützen? Weight In Motion Technologie für effizienten Brückenschutz weltweit Eine Möglichkeit, Brücken vor übermäßiger Belastung durch schwere Fahrzeuge zu schützen, sind Weight In Motion-Systeme, wie etwa KiTraffic von Kistler. Sie werden in der Straße verbaut und messen das Gewicht der Fahrzeuge, die die Brücke überqueren möchten. Diese können dann anhand der Daten vor der Brücke erkannt und umgeleitet werden, wenn sie das zulässige Maximalgewicht überschreiten. Beispielsweise überwacht ein WIM-System seit Sommer 2018 die spektakuläre Brücke „El Carrizo“ in Mexiko. Überladene Fahrzeuge werden vorselektiert und am Befahren der mit 226 m zweithöchsten Brücke Nordamerikas gehindert - Bild 1 zeigt das Prinzip. Auch ältere und kleinere Brücken lassen sich mit kostengünstigen WIM-Systemen schützen. In Österreich wurde eine solche Lösung für eine Straßenbrücke genutzt, die eine viel befahrene Fernzugstrecke der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) überspannt. Die Brücke war durch schwere Holztransporte für das nahe Sägewerk bereits vorgeschädigt. Mithilfe von KiTraffic Statistics gelang eine zuverlässige Ermittlung der nicht selten massiv überladenen LKW, die in Zusammenarbeit mit den Behörden zur Kasse gebeten wurden. Die abschreckende Wirkung der Bußgelder zeigte schnell den erwünschten Effekt: Bereits nach kurzer Zeit reduzierte sich die Überlastung der Brücke. Structural Health Monitoring: Zustandsüberwachung in Echtzeit WIM-Systeme verraten allerdings nichts über den tatsächlichen Zustand der Bau- Die Storebaelt-Brücke in Dänemark wird mit K-Beam Beschleunigungssensoren laufend auf strukturelle Veränderungen überwacht. Foto: Kistler INFRASTRUKTUR Instandhaltung Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 37 Instandhaltung INFRASTRUKTUR werke. Hierzu dienen weitere Technologien, die häufig mit den Begriffen Condition Monitoring (Zustandsüberwachung) und Structural Health Monitoring (strukturelle Überwachung, SHM) verbunden sind. Dahinter stecken Sensoren, die direkt an Schlüsselstellen der Brücke angebracht werden, um beispielsweise Schwingungen oder Veränderungen des Baumaterials zu erfassen. Damit erkennen sie strukturelle Abweichungen und potenzielle Schwachstellen frühzeitig. Mithilfe dieser Informationen lassen sich dann auch Aussagen über den tatsächlichen Zustand der Brücke treffen und die verbleibende Zeit bis zur nächsten notwendigen Reparatur ermitteln. SHM-Systeme lassen sich sowohl bei neuen als auch bei älteren, bereits beschädigten Bauwerken einsetzen. Hier kann die Technologie einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit der Brücke leisten, denn sie ermöglicht es, sowohl Instandhaltungsmaßnahmen zu- planen als auch zu erkennen, wann die Brücke am Ende ihrer Lebenszeit angekommen ist. Seit 1998 ist an der Great Belt Bridge in Dänemark ein SMH-System von Kistler im Einsatz. Die Brücke überspannt mit einer Länge von insgesamt 1.624 m die Meerenge Großer Belt in der Ostsee. Das System wertet die Schwingungen der Brücke sowie die Frequenz der Stahlkabel aus. Dazu kommen K-Beam-Beschleunigungssensoren in den Stahlkabeln und Dehnungssensoren im Bogen der Brücke zum Einsatz. Eine besondere Herausforderung für das an Hängebrücken installierte System sind die geringen Frequenzen der überwachten Kabel und die zahlreichen Störgeräusche - von vorbeifahrenden Fahrzeugen über den Wind bis hin zum Meeresrauschen. Die Kabelbewegungen mussten also sauber von diesen Störgeräuschen getrennt werden. Kistler installierte dazu spezielle Sensortypen, die durch Tiefpassfilter Frequenzen ab 1 Hz innerhalb der Brücke und 10 Hz an den Kabeln zuverlässig messen. Um die Signale weiter von denen des Verkehrs zu isolieren, wurden die Sensoren am größten Brückenpfeiler mit mechanischen Dämpfern ausgerüstet. Die so gemessenen Schwingungen geben einen direkten Einblick in den Zustand der Brücke. Basierend auf einer „Idealmessung“ registriert ein Echtzeitmonitoring Abweichungen, die auf eine Beschädigung der Brücke hinweisen könnten. Auch bei der Installation der Kabel spielte das Reduzieren von Störgeräuschen eine große Rolle, da die Entfernung zwischen Sensor und Kontrollzentrum bis zu 800 m beträgt: Installiert wurden deshalb spezielle, geräuscharme Kabel und modernste Elektronik. Ein weiterer wichtiger Faktor für den Erfolg des SHM-Systems an der Great Belt Bridge ist die Langlebigkeit der verbauten Ausrüstung. Sensoren, Filter und Sender sind mit besonderen, durch Glasfaser verstärkten Gehäusen ausgerüstet, die selbst nach 25 Jahren noch in gutem Zustand sein dürften. Das gilt auch für die Signalkabel, von denen insgesamt 5 km auf der Brücke verbaut wurden. Systeme aus Hard- und Software für eine zuverlässige Datenanalyse Sensoren sind das Herz eines Structural Health Monitoring-Systems. Sie ermöglichen es, alle Paramenter rund um die Gesundheit einer Brücke zu messen: strukturelle Dehnung und Biegung, Bewegung und Verschiebung, Schiefstellungen sowie Vibrationen und Schwingungen. Ihre volle Wirkung entfalten sie im Zusammenspiel mit Soft- und Hardware. Für eine verlässliche Zustandsüberwachung ist die Datenqualität dabei essenziell. Gerade für eine Echtzeitüberwachung sind eine hochwertige Signalübertragung und Datenerfassung unverzichtbar. Daher ist es wichtig, jedes System an die Anforderungen und Bedürfnisse des jeweiligen Bauwerks anzupassen. Alle von Sensoren gemessenen Rohdaten werden zuerst vom Datenerfassungssystem KiDAQ mit Unterstützung eines industriellen Rechners aufbereitet und digitalisiert. Die so aufbereiteten Daten gelangen in eine Cloud-basierte Software-Plattform, die sie konsolidiert und auswertet. Weil alle Bestandteile des Systems aus einer Hand kommen, arbeiten sie reibungslos zusammen und stellen eine hohe Datenqualität sicher. Die von Kistler entwickelte Datenplattform ist modular und skalierbar und kann deshalb für eine (fast) beliebige Anzahl an Kanälen, Sensoren und Schnittstellen sowie hohe Datendurchsätze genutzt werden. Structural Health Monitoring auf dem Vormarsch Technologie von Kistler ist heute in Brücken auf dem ganzen Globus im Einsatz. Während WIM-Systeme dafür sorgen, dass sich der Verkehr an die Regeln hält, stehen Structural Health Monitoring-Lösungen den Brücken selbst zur Seite - und sorgen so nicht zuletzt für die Sicherheit derer, die sie im Alltag nutzen. Erweitere Möglichkeiten zur Datenanalyse und -Auswertung haben dabei den Monitoring-Prozess immer wieder einfacher und zuverlässiger gemacht. Das Potenzial von Structural Health Monitoring endet dabei nicht bei Brücken. Die durch Sensoren messbaren Parameter wie Dehnungen, Verschiebungen und Vibrationen sind auch wichtige Indikatoren für die Gesundheit anderer Gebäude. So nutzen beispielsweise die griechischen Behörden ein Health Monitoring System von Kistler, um die Stabilität eines Klosters aus dem 10. Jahrhundert zu überwachen. Auch bei Kraftwerken und Windturbinen kommen SMH-Systeme zunehmend zum Einsatz, sodass auch diese Bauwerke von den Erfahrungen aus dem Brückenschutz profitieren können. ■ David Cornu Head of Business Unit Traffic Solution, Kistler Gruppe, Winterthur (CH) david.cornu@kistler.com Bild 1: Weight In Motion dient zur Verkehrsdatenerfassung und Vorselektion überladener Fahrzeuge, Structural Health Monitoring zur Überwachung des strukturellen Zustands. Grafik: Kistler
