eJournals Internationales Verkehrswesen 75/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0083
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2023
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Klimaziele: Die „Mobilitätswende“ und ihre Probleme

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2023
Hermann Knoflacher
Der Klimawandel ist da, eine „Mobilitätswende“ dringend erforderlich. Nach seriösen klimawissenschaftlichen Erkenntnissen bedeutet dies die absolute Reduktion der Gesamtemissionen um bis zu 95 % gegenüber dem Jahr 1990. In der Europäischen Union konnten einige Mitgliedsstaaten ihren Treibhausgasausstoß bereits deutlich senken, in Österreich dagegen ist noch reichlich „Luft nach oben“, wie die folgende Analyse der österreichischen Verhältnisse für Länder, Städte und Bezirke zeigt.
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Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 61 Verkehrswende MOBILITÄT Klimaziele: Die „Mobilitätswende“ und ihre Probleme Klimaforschung, Treibhausgas, Emissionen, Modal Split Der Klimawandel ist da, eine „Mobilitätswende“ dringend erforderlich. Nach seriösen klimawissenschaftlichen Erkenntnissen bedeutet dies die absolute Reduktion der Gesamtemissionen um bis zu 95 % gegenüber dem Jahr 1990. In der Europäischen Union konnten einige Mitgliedsstaaten ihren Treibhausgasausstoß bereits deutlich senken, in Österreich dagegen ist noch reichlich „Luft nach oben“, wie die folgende Analyse der österreichischen Verhältnisse für Länder, Städte und Bezirke zeigt. Hermann Knoflacher D ie Klimawissenschaften halten eine absolute Reduktion der Gesamtemissionen um 90 bis 95 % gegenüber der Ausgangslage 1990 für notwendig, was einen vollständigen Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle erfordert. 1 „Diese klimawissenschaftlichen Erfordernisse sollten als klare Leitplanken der Politik in ganz Österreich Gültigkeit haben“ schreibt GLOBAL2000 in seinem „Klimareport“ vom Mai 2020 2 , der eine Bilanz der Bundesländer und auch die Veränderungen der CO 2 -Emissionen im Nicht- Emissionshandels-Bereich (Nicht-EH-Bereich) seit 2005 enthält. Bis 2019 konnten diese im Nicht-EH-Bereich in Österreich im Vergleich zu 2005 3 lediglich um 11 % reduziert werden. Andere EU-Mitgliedsstaaten konnten ihren Treibhausgasausstoß seit 1990 hingegen deutlich senken (Schweden: -29 %, Deutschland: -36 %, Dänemark -37 %) 4 . Die Bundesländer Kärnten (-15 %), Steiermark (-14 %), Wien (-13 %) und Niederösterreich (-12 %) erzielten zwar höhere THG-Reduktionen als der österreichweite Durchschnitt, befinden sich aber auch nicht auf dem Pfad der Zielerreichung. Im Referenz-Klimaplan des österreichischen Klimaforschungsnetzwerks (CCCA) 5 wird eine Reduktion um mindestens 50 % im Vergleich zu 2005 im Nicht-EH-Bereich als notwendig angesehen. Zwar bekennt man sich in den meisten Bundesländern zu den mittelfristigen Mindestzielen der EU 6 . In Vorarlberg und Salzburg steckt man sich ehrgeizigere Ziele und will bis 2030 die Treibhausgasemissionen um 50 % reduzieren. Ziele allein reichen nicht, sondern es müssen umfassende Maßnahmen definiert werden, deren Umsetzung zur Zielerreichung führt. Da die Bundesländer Kompetenzen für einen großen Teil, wie zum Beispiel die Gestaltung des Baurechts, der Wohnbauförderung, die Planung des Siedlungsbaus und die dazugehörige Verkehrsinfrastruktur haben, können sie auch die Rahmenbedingungen für die Gemeinden schaffen, damit diese die Klimaziele erreichen können. Dabei werden große Erwartungen an den öffentlichen Verkehr gestellt, dessen Anteil auf Bundesebene von 2018 auf 2040 von 16 % auf 23 % erhöht werden soll 7 . Welche Elastizitäten unter den heutigen Bedingungen bestehen, soll anhand verfügbarer Daten für die Ebenen der Bundesländer, Städte und Bezirke analysiert werden. Dabei wird nur die im Bestand erkennbare Dynamik behandelt und nicht auf die für eine Wende erforderlichen Werkzeuge eingegangen. „Sorgenkind Mobilität“ Während in den Sektoren Energieverbrauch, erneuerbare Energie, Ökostrom, Wärme und Bio-Landwirtschaft teilweise Erfolge erzielt wurden, ist der Verkehrssektor, der für 50 % der Treibhausgas-Emissionen (ohne EH) 8 verantwortlich ist, nach wie vor in einem steigenden Trend. „Der Verkehrssektor ist das Sorgenkind der österreichischen Klimapolitik. Dieser Befund lässt sich auch an den Daten der Bundesländer klar ablesen. Problematisch ist der hohe und steigende Motorisierungsgrad, der sich vor allem am Trend zum Zweit- und Dritt- PKW und dem bundesweit hohen Anteil des PKW-Verkehrs ablesen lässt. Um eine Mobilitätswende voranzutreiben, ist eine Entwicklung weg vom motorisierten Individualverkehr (MIV) hin zum öffentlichen Verkehr und zum Fuß- und Radverkehr, die zum Begriff „Umweltverbund“ zusammengefasst werden, erforderlich und auch die Abkehr von Antriebssystemen mit fossilen Brennstoffen.“ (GLOBAL2000 Klimareport. S. 23). Die Schlagworte „vermeiden, verlagern, verringern“ haben seit mehreren Jahrzehnten in einschlägigen Master-, Gesamtverkehrs- und sonstigen Rahmenplänen einen Stammplatz im Zusammenhang mit Verkehrssicherheit und dem Klimaproblem. In der Realität ist davon, abgesehen von Ausnahmen in einigen Städten, allerdings noch nichts zu merken. Der MIV nimmt nach wie vor im Personenverkehr wie auch im Straßengüterverkehr Österreichs weiter zu. Hoffnungsträger Öffentlicher Verkehr Die enormen Investitionen für den Ausbau der Eisenbahn von 30 Mrd. EUR allein für Tunnelgroßprojekte werden kaum einen Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl der Kommunen (weil praktisch keine neuen Bahnhöfe damit errichtet werden) und auch nur geringen Einfluss auf die der Städte haben, kennt man die Reiseweitenverteilungen. Auf Bundesebene liegt das Ziel für die Reduktion des MIV von derzeit 61 % 2018 auf 42 % im Jahr 2040. Für die Verlagerung vom MIV zum Umweltverbund haben auch die Bundesländer und Gemeinden hohe Erwartungen an die Wirkungen des öffentlichen Verkehrs. Es ist daher von Interesse zu analysieren, in welchem Ausmaß im bestehenden System der Strukturen Verlagerungselastizitäten bestehen und unter welchen Bedingungen diese bereits wirksam sind. Problem: Datenmangel Während seit Jahrzehnten Querschnittszählungen des MIV stattfinden, gibt es Daten zum Umweltverbund einerseits nur aus den Bundesländern und Städten, aber nur aus wenigen Gemeinden, in denen Haushaltserhebungen stattgefunden haben, andererseits stammen diese aus unterschiedlichen Jahren und meist nur einmal, wie zum Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 62 MOBILITÄT Verkehrswende Beispiel österreichweit aus 2013/ 2014 9 . Außerdem ist es schwierig, den öffentlichen Verkehr in seiner gesamten Breite und Vielfalt auf Indikatoren zu reduzieren. Es können daher nur grobe Maßzahlen, die teilweise auf eine Ordinalskala reduziert sind, verwendet werden. Der Motorisierungsgrad und ÖV- Güteklassen als Indikatoren für die Klimabelastung des Systems Da Daten zum Modal Split in dem benötigten Ausmaß nicht verfügbar sind, wird als grober Indikator der Motorisierungsgrad von PKW/ 1.000 Einwohner verwendet, mit der Annahme bzw. Einschränkung, dass zwischen Fahrzeugbesitz und -verwendung eine Korrelation besteht. 10 Der Vorteil des Motorisierungsgrades (PKW/ 1.000 Einwohner) ist seine Datenverfügbarkeit auf der Ebene der Bundeländer, Bezirke und Städte. Mit dem Motorisierungsgrad sind auch mehrere Klimawirkungen verbunden, wie graue Energie des MIV und seiner Infrastrukturen, versiegelte Flächen, Zersiedlung/ Bauform, Mobilitätsaufwand, Umweltverbund, um nur die wichtigsten zu nennen. Die „ÖV-Güteklassen“ sind ein österreichweit einheitliches Modell zur räumlichen Darstellung der Erschließungsqualität von Standorten und Gebieten durch öffentliche Verkehrsmittel, 11 analog zu den ÖV-Güteklassen in der Schweiz. 12 Die ÖV-Güteklassen setzen sich primär aus Bedienungshäufigkeit, Haltestellenentfernung, Wertung des öffentlichen Verkehrs nach Haltestellenkategorien Schiene oder Straße (Bus) und Netzdichte. Von den sieben ÖV-Güteklassen A bis G, werden vier, A bis D, für den primär städtischen Bereich und E bis G für den ländlichen Bereich vorgeschlagen. 13 Im Prinzip wird hier der von Bernhard Mai bereits 1974 definierte „Verkehrswert“ 14 aufgegriffen, in dem neben der Bedienungshäufigkeit, Reise- und Zugangszeiten noch Motorisierungsgrad und Kosten berücksichtigt wurden. Heinz Hörlsberger hat gemeinsam mit Gerald Kovacic (ÖIR) und Michael Schwendinger (VCÖ) eine Datenbasis geschaffen und den Zusammenhang zwischen Motorisierungsgrad, ÖV-Güteklassen und Einkommenskategorien ermittelt und in seinem Blog 15 veröffentlicht, in dem er auf begrenzende Faktoren der Motorisierung hinweist. Auf der Grundlage der von ihm dankenswert zur Verfügung gestellten Daten wurden folgende Fragen behandelt. In welchem Ausmaß kann der Motorisierungsgrad repräsentativ die Klimaproblematik abbilden? Auf der Ebene der Bundesländer lässt sich zwischen Motorisierungsgrad und CO 2 - Emissionen eine statistisch gut gesicherte Beziehung nachweisen. Der statistisch signifikante Zusammenhang zwischen Motorisierungsgrad und CO 2 Emissionen ergibt sich aus den zahlreichen Beziehungen zwischen Autoverkehr und der Industrie, der Infrastruktur, der Art und räumlichen Siedungsverteilung und deren Strukturen und den daraus resultierenden menschlichen Aktivitäten bis hin zur heutigen Form der Landbewirtschaftung (Bild 1). 16 Die Analyse zeigt, dass zwischen dem Motorisierungsgrad der Bevölkerung und den Gesamtemissionen der Treibhausgase ein statistisch signifikanter Zusammenhang besteht. Es kann daher angenommen werden, dass der Motorisierungsgrad als Indikator zur Abbildung der Klimawirkungen verwendet werden kann. Als komplementäre Größe wird der Umweltverbund verwendet, ein Indikator für die Art der räumlichen Mobilität. Wie beeinflusst der Motorisierungsgrad den-Umweltverbund? Diese scheinbar triviale Frage ist bei näherer Betrachtung interessant, weil sie die Wirkungen der Bestandsgröße Motorisierungsgrad auf die Verkehrsmittelwahl beeinflusst. Wie zu erwarten, nimmt mit zunehmender Motorisierung der Anteil des Umweltverbundes proportional ab und das System entfernt sich damit von den Klimazielen (Bild 2). Wien als Bundesland unterscheidet sich aufgrund der historischen Baustruktur, die noch aus der Zeit vor dem MIV stammt, von den anderen Bundesländern sowohl durch den niedrigen Motorisierungsgrad wie auch durch den hohen Anteil an öffentlichem und Fußgängerverkehr. Am weitesten von den Klimazielen entfernt sind die Bundesländer Burgenland, Kärnten, Nieder- und Oberösterreich und die Steiermark. Vorarlberg, Tirol und Salzburg liegen sowohl beim Umweltverbund wie auch im Gesamtenergieverbrauch deutlich günstiger. Alle Bundesländer können aber den Klimazielen nur bei einer grundlegenden Änderung der bisherigen Mobilitätsentwicklung näherkommen. Ob dies über dem öffentlichen Verkehr möglich ist, soll geprüft werden. Innerhalb des Umweltverbundes werden sowohl der öffentliche Verkehr wie auch der Radverkehr als Alternativen zum PKW betrachtet. Für die Landeshauptstädte ergibt zwischen dem Anteil des ÖV und dem Anteil des Radverkehrs folgende Beziehung (Bild 3). Verwendet man als Trendlinie den Logarithmus zur Beschreibung des Verhaltens, würde sich für die Verhältnisse in Österreich der Anteil des Radverkehrs extrapoliert 50 % ergeben, wenn der öffentliche Verkehr fehlt. Innerhalb der vorhandenen Bandbreite des ÖV sinkt der Anteil des Radverkehrs um 1 %, wenn der ÖV um 2 % zunimmt. Abgesehen von der komplementären Beziehung dieser Verkehrsträger, gilt dies nur für die aktuelle Situation in den Hauptstädten der Bundesländer, weil man durch entsprechende Strukturen die Anteile beider gezielt gestalten und verändern kann. Für die Klimaziele sind aber die Anteile beider Verkehrsträger wirksam zu vergrößern, was Einschnitte für den Autoverkehr bedeutet. Hier soll der Bereich des ÖV näher beleuchtet werden. Welche Wirkung hat die Qualität der Bedienung mit öffentlichem Verkehr auf den Motorisierungsgrad der Bundesländer? Die Bewertung des ÖV erfolgt wie oben angeführt über die Bedienungshäufigkeit, die Bild 1: Motorisierungsgrad der Bundesländer - CO 2 Emissionen in t/ Einwohner Alle Darstellungen: Autor Bild 2: PKW/ 1.000 EW - % Umweltverbund Bild 3: Beziehung zwischen % ÖV - % Radverkehr Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 63 Verkehrswende MOBILITÄT Haltestellenkategorie und deren räumliche Erreichbarkeit. Die Bilder 4 und 5 enthalten die von der ÖROK vorgeschlagenen Bewertungsfaktoren und in Bild 5 die Qualitätsbeschreibung und räumliche Zuordnung (Bild-6). Für die Analyse wird die numerische Bezeichnung der Güteklassen von A bis G, wie bei Hörlsberger mit 7 = A und 1 für G als ÖV- Kennzahl bezeichnet. Für alle Bundesländer ergibt sich zwischen ÖV-Kennzahl und Motorisierungsgrad der in Bild 7 und Bild 8 dargestellte Zusammenhang. In Bild 7 beeinflusst Wien durch den guten ÖV den Gesamtzusammenhang. Ohne Wien (Bild 8) zeigt sich ein geringfügig höherer, aber statisch etwas geringer gesicherter Zusammenhang zwischen ÖV-Kennzahl und Motorisierungsgrad. Insgesamt zeigt die Analyse eine statistisch signifikante Wirkung der ÖV-Qualität auf den Motorisierungsgrad. Die Erhöhung der ÖV-Kennzahl um eine Güteklasse in den Bundesländern verringert den Motorisierungsgrad um 71 bis 79 PKW/ 1 000 Einwohner bzw.um 11 bis 14 %. Der öffentliche Verkehr in den überwiegend ländlichen Bundesländern unterscheidet sich von der Qualität der Bedienung in den Landeshauptstädten mit ihren ÖV- Kennzahlen zwischen 4 bis 7, bzw. D bis A, gemäß ÖROK. Die ÖV-Kennzahlen der Bundesländer liegen um zwei bis drei Güteklassen unter denen in ihren Landeshauptstädten (Bild 9), ausgenommen Vorarlberg und Wien (Stadt = Bundesland) Wie beeinflusst der Öffentliche Verkehr den Motorisierungsgrad in den Städten? Die Zunahme der ÖV-Qualität um eine Güteklasse führt zu einem Rückgang der Motorisierung in den Städten zwischen 67 PKW/ 1.000 EW (Städte ohne Wien) und 84 PKW/ 1.000 EW (alle Städte). Auffallend sind in diesen Beziehungen die Städte Graz, Salzburg und Linz mit hohen Güteklassen des ÖV, also Kennzahlen >5. Wie wirkt die Verbesserung des ÖV auf den Motorisierungsgrad bei ÖV-Qualität >5,5; Güteklassen nach ÖROK A, B, C? In diese Güteklasse fallen alle Wiener Gemeindebezirke 2. bis 23., so wie die Städte, Linz, Innsbruck, Salzburg und Graz. (Der 1. Bezirk in Wien ist durch die über den Firmensitz gemeldeten Autos atypisch und wird nicht einbezogen.) Die Verbesserung des ÖV-Angebotes in Städten mit guter ÖV-Bedienung führt bei einer Erhöhung der ÖV-Kennzahl zu einer doppelt so starken Reduktion der Motorisierung wie in den Bundesländern (Bild 12). Bei gutem ÖV-Angebot ist es daher relativ leichter die Umweltziele im Verkehr zu erreichen, obwohl auch bis dorthin noch ein weiter Weg liegt. Sonderfall Wien Die Stadt Wien ist in 23 Gemeindebezirke gegliedert, die sich sowohl in ihrer historischen Entwicklung wie auch ihrer Baustruktur nach wesentlich unterscheiden. Auch die Bedienung mit dem ÖV hat eine entsprechende Bandbreite (Bild 13). Die Analyse ergibt folgendes Ergebnis: Die Außenbezirke Liesing, Donaustadt und Floridsdorf sowie die „Villenbezirke“ Hietzing und Döbling liegen bei hohem Motorisierungsgrad in der ÖV-Güteklasse C, während die ÖV-Bedienung in den historischen, dicht besiedelten Inneren Bezirken zwischen Ring und Gürtelstraße mit den Güteklassen A und B einen Motorisierungsgrad haben, der um bis zu 50 % niedriger liegt. Es sind auch die Bezirke, in denen seit 1994 schrittweise die allgemeine Parkraumpflicht eingeführt wurde und in denen mit den Verkehrsberuhigungsmaßnahmen die meisten Fortschritte erzielt wurden und die einstige Dominanz des Autoverkehrs dem öffentlichen Verkehr sowohl im Straßenraum wie bei den Signalanlagen weichen musste. Das dominierende öffentliche Verkehrsmittel in diesen Bezirken sind die Straßenbahnen an der Oberfläche und die U- Bahn mit ihren Wirkungen um die Stationen. Analyse der Beziehungen zwischen ÖV-Kennzahl und Motorisierungsgrad der ländlichen Bezirke Die Beziehung zwischen Motorisierungsgrad und ÖV-Qualität ergeben für die ländlichen Bezirke zeigt Bild 14: Der hohe Motorisierungsgrad von über 500 PKW/ 1.000 Einwohner und die geringe ÖV-Qualität in den ländlichen Gebieten zeigen die Grenzen der Beeinflussung des Motorisierungsgrades für besser ÖV-Angebote selbst in den Bezirken mit einer ÖV-Kennzahl C, ÖV-Qualität 5. Das Erreichen der Klimaziele in diesen Gebieten wird durch die starke Abhängigkeit vom PKW-Besitz und Bild 4: Haltestellenkategorien (ÖROK 2022, S.12) Bild 5: ÖV-Güteklassen (ÖROK 2022, S. 13) Bild 6: ÖV-Güteklassen mit Qualitätsbeschreibung und räumlicher Zuordnung (ÖROK 2022, S. 13) Bild 7: ÖV-Kennzahl - PKW/ 1000 EW, alle Bundesländer Bild 8: ÖV- Kennzahl - PKW/ 1000 EW Bl. ohne Wien Bild 9: Vergleich der ÖV-Kennzahl zwischen Bundesländern und ihren Hauptstädten Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 64 MOBILITÄT Verkehrswende die entsprechenden Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen enorm erschwert. Neben der bisherigen Sicht auf die Angebotsseite zeigt, wenn man die Nachfrage als Defizit zu den Güteklassen A bis C bezeichnet, den Zusammenhang zum Motorisierungsgrad. Wie wirkt der Motorisierungsgrad auf das ÖV-Defizit? Als ÖV-Defizit wird der Unterschied zwischen der höchsten ÖV-Kennzahl und der aktuellen in den Bezirken bezeichnet. Mit zunehmender Motorisierung steigt das Defizit in der ÖV-Bedienung exponentiell an (Bild 15). Da in der ÖV-Kennzahl die Haltestellenentfernung eine wichtige Größe darstellt, beschreibt dieses Diagramm das Verhalten der Bevölkerung und die von den Kommunen und Landesverwaltungen betriebene autoorientierte Siedlungsentwicklung, dass mit zunehmender Motorisierung Siedlungs- und Wirtschafsstrukturen in den Bezirken abseits der Haltestellen des ÖV entgegen den Zielen der Raumordnungsgesetze 17 , geplant, bewilligt und gebaut wurden. Damit hat man die Abhängigkeit vom Auto exponentiell vergrößert. Wie schwer in den Städten die Klimaziele im Verkehr zu erreichen sind, zeigen die bisherigen Erfahrungen und lassen erkennen, um wieviel schwieriger es für die Kommunen und die ländlichen Bereiche sein wird. Wie passen die Ergebnisse der Beziehung zwischen ÖV-Anteil und Motorisierungsgrad in die Zeitreihe der Länder? Trägt man die Veränderungen der Motorisierungsgrade und der ÖV-Anteile für Deutschland und Österreich für den Zeitraum 1950 bis 2020 auf ergibt sich folgendes Bild. Der Verlauf der Trendlinie ist nahezu identisch mit geringen Unterschieden des Parameters und der Regressionskonstanten. In Österreich nahm der ÖV-Anteil zu Beginn der Motorisierung schneller ab, konnte sich aber auf einem höheren, wenn auch niedrigem Niveau halten. In Deutschland sinkt der Anteil der ÖV mit zunehmender Motorisierung stetig. Erst bei einem Motorisierungsgrad unter 200 PKW/ 1.000 Einwohner steigt der Anteil des ÖV mit weiter sinkendem Motorisierungsgrad bezogen auf das jeweilige Bundesgebiet (Bild 16). Die Analyse der Städte und Bezirke weicht davon nicht grundlegend ab, wohl aber zeigt sich ab einer ÖV-Kennzahl über 5,5 nicht nur eine stärkere Wirkung des ÖV- Angebotes auf den Motorisierungsgrad (Bilder 12 und 13). Erste bei durchschnittlichen Kursintervallen von 20 Minuten und weniger und Distanzen zur Haltestelle unter 750 m nimmt der Motorisierungsgrad bereits ab 300 bis 400 PKW/ 1.000 EW mit verbesserter Bedienung signifikant ab. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die Korrelation zwischen dem Motorisierungsgrad und den CO 2 -Emissionen zeigt, dass der Motorisierungsgrad ein wichtiger Indikator zur Beurteilung der Klimaziele ist. Will man diese auch im Verkehr erreichen, wird es notwendig, den hohen Motorisierungsgrad in die Diskussion und die Maßnahmen aufzunehmen. Bei den gegebenen Verhältnissen in den Bundesländern und ländlichen Gemeinden ist zwar die Elastizität zwischen ÖV-Angebot und Motorisierungsgrad nachweisbar, aber nur etwa halb so groß wie in den Städten mit hochwertigem ÖV und Kursintervallen unter 20 Minuten sowie kurzen Distanzen zu den Haltestellen. Um den öffentlichen Verkehr klimawirksam einsetzen zu können, ist sowohl eine grundlegende Umorganisation wie auch den Umbau bestehender Strukturen und eine Änderung der Bauordnungen erforderlich, die durch die Stallplatzreglung den Wettbewerb zwischen ÖV und PKW zugunsten des Autos grundlegend verzerren. Die Hoffnung, im Bestand nur durch den Wechsel von fossilen Energien auf „grüne Energiequellen“ 18 die Klimaziele im Verkehr zu erreichen, ist wegen der engen Verflechtung des Autoverkehrs mit der Wirtschaft, den Siedlungsstrukturen und den Industrien und der großen Menge „grauer Energie“, die damit nicht nur in den Fahrzeugen, sondern auch der Infrastruktur zu berücksichtigen ist, schwer oder nicht zu Bild 10: ÖV-Kennzahl-Motorisierung alle Städte Bild 11: ÖV-Kennzahl-Motorisierung, Städte ohne Wien Bild 12: ÖV-Kennzahl - Motorisierungsgrad, Städte mit guter ÖV-Bedienung Abb. 13: ÖV-Qualität und Motorisierungsgrad der Wiener Bezirke Bild 14: ÖV-Kennzahl - PKW/ 1.000 EW, ländliche Bezirke Bild 15: PKW/ 1.000 Einwohner - ÖV-Defizit Bild 16: Motorisierungsgrad - ÖV-Anteile für Deutschland und Österreich 1950 bis 2020 Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 65 Verkehrswende MOBILITÄT erfüllen. Allein durch die Versiegelung in den autoorientierten Siedlungen wird die ökologische Kapazität der Natur als zentraler Partner für die Klimadämpfung nachhaltig geschädigt. Die Elastizitäten zwischen Motorisierungsgrad und ÖV zeigen aber, dass der Motorisierungsgrad über ÖV wirksam und nachhaltig reduziert werden kann, wenn man in den Städten energisch und zeitnahe mit wirksamen Strukturverbesserungen für den Umweltverbund beginnt, 19 und wagt neben den pull-Maßnahmen auch push- Maßnahmen gegen die erzeugte Dominanz des PKW- und LKW-Verkehrs nicht nur in die Klimapläne aufzunehmen, sondern auch mit wirksamen Maßnahmen umzusetzen. „Klimaneutralität“, was das auch jeweils bedeuten mag, wird nur dann erreicht, wenn man den Bestand an PKW auf einen Bruchteil von heute reduziert, der deutlich unter 200 PKW/ 1.000 Einwohner liegt, um den öffentlichen Verkehr gemeinsam mit Fußgänger- und Radverkehr wirksam werden zu lassen. Hier liegt auch der kritische Weg der politischen Entscheidungen zu den Klimazielen im Bereich Mobilität. ■ 1 https: / / climate-laws.org/ document/ climate-act_4bc4 2 www.global2000.at/ sites/ global/ files/ Klima-Bundeslaender-Report-2020.pdf 3 2005 lagen die CO₂3 Emissionen um rd. 12 % über 1990. Dem international üblichen Bezugsjahr für die angestrebten Ziele. https: / / wegcwp.uni-graz.at/ innovate/ wp-content/ uploads/ sites/ 3/ 2015/ 12/ Innovate-Fact-Sheet_2_ Deutsch.pdf 4 file: / / / C: / Users/ HKnoflacher/ Downloads/ co2_emissions_ of_all_world_countries_online_final_2.pdf 5 https: / / ccca.ac.at/ fileadmin/ 00_DokumenteHauptmenue/ 03_Aktivitaeten/ UniNEtZ_SDG 1 3/ RefNEKP/ Ref- NEKP_Gesamtband_Nov2019_VerlOeAW.pdf 6 www.ots.at/ presseaussendung/ OTS_20230309_OTS0133/ neue-eu-klimaziele-oesterreichs-bundeslaender-muessen-co2-emissionen-bis-2030-halbieren 7 www.bmk.gv.at/ themen/ mobilitaet/ mobilitaetsmasterplan/ mmp2030.html 8 https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 962273/ umfrage/ treibhausgas-emissionen-des-sektors-verkehr-inoesterreich-nach-verursacher/ 9 Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (2016): Österreich unterwegs 2013/ 2014, Wien 10 www. d i e p re s s e . c o m / 3 8 7 8 6 0 3 / p kwb l e i b e n b i s - 2040-wichtigstes-verkehrsmittel 11 ÖROK, Die österreichweiten ÖV-Güteklassen. Rahmen Struktur und Bespiele, H. 10, Wien 2022, www.oerok.gv.at/ fileadmin/ user_upload/ publikationen/ Broschueren/ O__ ROK-Broschuere_Heft_10_O__V-Gu__teklassen.pdf 12 www.are.admin.ch/ are/ de/ home/ mobilitaet/ grundlagenund-daten/ verkehrserschliessung-in-der-schweiz.html 13 www.oerok.gv.at/ raum/ themen/ raumordnung-und-mobilitaet 14 Mai, Bernhard (1974): Die Reiseweite im Stadt-Umland- Verkehr und ihr Einfluss auf Verkehrsaufkommen und Verkehrwegenetze. In: DDR Verkehr, Zeitschrift für komplexe Fragen der Leitung und Planung des Verkehrswesens, transpress VEB Verlag für Verkehrswesen, Berlin 9/ 1974, S. 360-364 15 https: / / awblog.at/ wovon-haengt-der-besitz-eines-autosab/ ? jetztlesen 16 Knoflacher, Hermann (2021): Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung. Böhlau Verlag, 2012 17 www.ris.bka.gv.at/ GeltendeFassung.wxe? Abfrage=LrNO& Gesetzesnummer=20001080 18 Synthetische Kraftstoffe: Sind E-Fuels die Zukunft der Mobilität? www.adac.de/ verkehr/ tanken-kraftstoff-antrieb/ alternative-antriebe/ synthetische-kraftstoffe/ 19 Knoflacher, Hermann (1991): Zur Harmonie von Stadt und Verkehr. Böhlau, Wien, 1991 Hermann Knoflacher, em. o.Univ. Prof. Dipl. Ing. Dr. tech. Forschungsbereich für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, Institut für Verkehrswissenschaften, Technische Universität Wien hermann.knoflacher@tuwien.ac.at Wie klimaneutrale Mobilität gelingen kann Wie klimaneutrale Mobilität gelingen kann Quartierskonzepte | Zufußgehen | Radfahren | ÖPNV | Serious Gaming Quartierskonzepte | Zufußgehen | Radfahren | ÖPNV | Serious Gaming 4 · 2023 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Die urbane Verkehrswende Lesen Sie in der neuen Ausgabe 4|2023 von Transforming Cities:  Bedeutungsplan Fußverkehr in Leipzig  Straßenbahntrassen als energetische Gunsträume  Maßnahmensensitives Verkehrs- und Klimamonitoring  Der Beitrag von Mobiltelefonen und intelligenten Arbeitszeitmodellen für die Verkehrswende  Verhaltensveränderung durch Incentivierung und Gamification  Bürgerbeteiligung für eine erfolgreiche Mobilitätswende Erscheint am 4. Dezember 2023. Jetzt bestellen unter: https: / / www.transforming-cities.de/ einzelheft/ Urbane Systeme im Wandel. Das Technisch-Wissenschaftliche Fachmagazin TranCit_4 2023_halbe_quer.indd 1 TranCit_4 2023_halbe_quer.indd 1 06. Nov. 2023 12: 30: 50 06. Nov. 2023 12: 30: 50