Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0088
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Konnektivität für den automatisierten Bahnbetrieb
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Lars Schnieder
Bei der Erneuerung von Zugsicherungssystemen bieten funkbasierte Systeme den Vorteil eines möglichen Verzichts auf Gleisfreimeldesensorik und ortsfeste Signale. Dies stellt hohe Anforderungen an die
Dienstgüte des Funksystems für einen sicheren und verfügbaren Betrieb. Hierbei treten in den nächsten Jahren neue Technologien hervor. Die Technologieauswahl richtet sich jedoch nicht allein nach technischen Kriterien. Es müssen auch die betrieblichen Randbedingungen der Verkehrsunternehmen mitberücksichtigt werden. Hier bedarf es einer betriebswirtschaftlichen Analyse („make or buy“).
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Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 80 TECHNOLOGIE Kommunikation Konnektivität für den automatisierten Bahnbetrieb Technologieoptionen und Betreibermodelle für digitale Datenfunktechnologien Konnektivität, Automatisierung, Digitalisierung, 5G, Betreibermodell, Kritische Infrastruktur Bei der Erneuerung von Zugsicherungssystemen bieten funkbasierte Systeme den Vorteil eines möglichen Verzichts auf Gleisfreimeldesensorik und ortsfeste Signale. Dies stellt hohe Anforderungen an die Dienstgüte des Funksystems für einen sicheren und verfügbaren Betrieb. Hierbei treten in den nächsten Jahren neue Technologien hervor. Die Technologieauswahl richtet sich jedoch nicht allein nach technischen Kriterien. Es müssen auch die betrieblichen Randbedingungen der Verkehrsunternehmen mitberücksichtigt werden. Hier bedarf es einer betriebswirtschaftlichen Analyse („make or buy“). Lars Schnieder B ei der Erneuerung von Zugsicherungssystemen ermöglichen funkbasierte Systeme den Verzicht auf Gleisfreimeldesensorik und ortsfeste Signale. Dies stellt hohe Anforderungen an die Dienstgüten (Quality of Service, QoS) des Funksystems für einen sicheren und verfügbaren Betrieb. Hierbei muss aus verschiedenen Technologieoptionen die geeignete ausgewählt werden. Die Technologieauswahl richtet sich jedoch nicht nur nach technischen Kriterien. Es muss auch unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien abgewogen werden, ob die Funksysteme in Eigenregie oder durch externe Dienstleister betrieben werden sollen. Notwendigkeit digitaler Datenfunktechnologien In den letzten Jahrzehnten haben sich im Nahverkehr die Kommunikationstechnologien grundlegend geändert. Früher wurden hauptsächlich proprietäre Technologien und der Analogfunk für die betriebliche Kommunikation genutzt. Da insbesondere auch die Schnittstellen der technischen Systeme oftmals proprietär ausgelegt waren, war ihre Vernetzung sehr aufwendig. Durch das aus der Office- und Internetwelt bekannte TCP/ IP-Protokoll und die auf Ethernet basierten Netzwerke konnte diese Barriere überwunden werden. Mittlerweile sind auf den Schienenfahrzeugen Endgeräte wie Videokameras, Displays, Bordrechner ohne Ethernet/ IP-Schnittstelle nicht mehr vorstellbar [1] und auch infrastrukturseitig setzt sich die IP-basierte Anbindung von Teilsystemen auf Basis standardisierter Schnittstellen zunehmend durch [2]. Dieser Fortschritt in der Standardisierung ermöglicht neue Dienste, die zukünftig einen höher automatisierten Bahnbetrieb ermöglichen. Technologieoptionen für den digitalen Datenfunk Insbesondere für den leistungsfähigen schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr gibt es einige wenige Funktechnologien, die sich im Laufe der Zeit in diesem Marktsegment etabliert haben: Wireless Local Area Networks (WLAN) Die Entwicklung der WLAN-Standards von IEEE 802.11 (1997) bis IEEE 802.11ac ermöglichte eine fortwährende Erhöhung der Bruttodatenrate von 1-2 Mbit/ s bis in den Gigabitbereich [3]. Ursprünglich war WLAN für stationäre Anwendungen gedacht (zunächst vor allem Büroumgebungen). Allerdings hat man es im Schienenverkehr mit beweglichen Objekten zu tun, was einen nahezu verlust- und verzugsfreien Handover zwischen den Access Points erfordert. Diese Herausforderung wurde von den Herstellern in unterschiedlicher Weise aufgenommen und mit mehr oder weniger proprietären Erweiterungen des Standards gelöst (vgl. Bild 1). Die Konsequenz für das Verkehrsunternehmen ist, dass nicht frei zwischen Geräten unterschiedlicher Hersteller ausgewählt werden kann. Die WLAN-Standards setzen auf lizenzfreien Bändern auf, was deren Einsatz quasi weltweit ermöglicht und damit zum Teil auch deren Popularität begründet. Für den Einsatz im Schienenverkehr bedeutet dies aber natürlich auch, dass die Frequenzressourcen nicht exklusiv zur Verfügung stehen, sondern mit anderen, meist privaten, Nutzern geteilt werden müssen. Aus diesem Grund muss umso mehr Wert auf IT-Security gelegt werden. Mobilfunktechnologien der 4. Generation (4G) Mit dem 4G-Standard sind Datendienste mit einigen Mbit/ s möglich. Diese Mobilfunknetze sind allerdings dadurch charakterisiert, dass sie ausschließlich von Mobil- Bild 1: Beispiel eines WLAN-Systems für ein U-Bahnsystem (Hamburger Hochbahn) Foto: Autor Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 81 Kommunikation TECHNOLOGIE funkbetreibern bereitgestellt und betrieben werden. Ein Verkehrsunternehmen kann seine Endgeräte durch Kauf von Mobilfunkverträgen an das Mobilfunknetz anbinden. Er spart sich dabei die Investition in eigene Funknetzinfrastruktur. Garantierte Dienstgüten sind aber nur bedingt vorhanden. Die verfügbare Bandbreite (zwischen 50 und 150 Mbit/ s pro Mobilfunkzelle) wird je nach Anzahl der Teilnehmer, die sich in einer Mobilfunkzelle befinden, aufgeteilt. Dies macht es momentan unmöglich, bestimmte Dienstgüten von entsprechenden Services zu garantieren. Der Betrieb privater LTE- Netze ist - anders als beispielsweise in ausländischen Projekten - in Deutschland auf Grund des regulatorischen Rahmens der Frequenzzuteilung an öffentliche Mobilfunkbetreiber grundsätzlich keine Option. Selbst wenn ein öffentlicher Mobilfunkbetreiber seine Frequenznutzungsrechte an ein Verkehrsunternehmen abtreten würde, müssten die Kosten einer eigenen LTE- Netzinfrastruktur in Bezug auf die mittlerweile weit fortgeschrittene Entwicklung zu 5G genau abgewogen werden. Mobilfunktechnologien der 5. Generation (5G) Mit dem 5G-Standard sind Datenraten von einigen Gbit/ s möglich. Außerdem verfügt dieser Mobilfunkstandard über wesentliche Zusatzfunktionen wie das Network Slicing. Mit Network Slicing können mehrere virtuelle Netzwerke auf Basis eines gemeinsamen, physischen Netzwerks betrieben werden. Jede einzelne „Scheibe“ (Slice) dieses Netzes ist ein isoliertes Ende-zu-Ende- Netzwerk, das maßgeschneidert auf die spezifischen Erfordernisse von einzelnen Anwendungen, Diensten oder Nutzern ist. Da die Slices strikt voneinander getrennt sind, behindert sich der Datenverkehr der einzelnen Slices nicht gegenseitig. Egal ob eine Anwendung besondere Ansprüche an eine hohe Bandbreite hat, besonders reaktionsschnell sein muss oder bestimmte sicherheitskritische Anforderungen erfüllen muss, die separaten Scheiben des Netzwerks werden jedem einzelnen Anwendungsfall gerecht. Network Slicing ist softwaregesteuert, so dass die einzelnen Netzwerkscheiben einfach verwaltet werden können und flexibel anpassbar sind - zum Beispiel bei unvorhergesehenen Ereignissen. Durch Software Defined Networking (SDN) und Network Functions Virtualization (NFV) wird es möglich, jedem einzelnen virtuellen Teilnetzwerk (Slice) bestimmte Funktionen zuzuordnen, damit es den individuellen Bedürfnissen der jeweiligen Anwendung entspricht. Zusätzlich zu diesen technischen Merkmalen stellt sich 5G-Mobilfunk auch hinsichtlich der Zugänglichkeit von Mobilfunkfrequenzen grundsätzlich anders dar als der Vorgängerstandard 4G. Mit dem 5G- Mobilfunk ist es möglich, exklusive Mobilfunknetze für ein definiertes lokales Gelände zu errichten. Das Mobilfunknetz (Campus-Netz) deckt dabei einen eng abgegrenzten räumlichen Bereich ab, für welchen von der Regulierungsbehörde ein ausschließliches Nutzungsrecht an der Funkfrequenz eingeräumt wird. Das private Campus-Netz ist von außen nicht zugänglich und die Kapazität des Campus-Netzes steht dem Kunden zu jeder Zeit exklusiv zur Verfügung. In Bezug auf die zuvor dargestellten Technologieoptionen wird 5G für den hochautomatisierten Nahverkehr zukünftig die präferierte Technologieoption darstellen. Hierbei muss das 5G-Mobilfunknetz jedoch so errichtet werden, dass es die hohen Anforderungen an die Dienstgüte, die für sicherheitskritische Anwendungen erforderlich sind (vgl. [4]), auch nachweislich erfüllt. Außerdem ist eine sehr hohe Verfügbarkeit des Funksystems umzusetzen. Dies bedingt erstens den Einsatz möglichst zuverlässiger Komponenten des Funksystems (geringe Ausfallraten, bzw. hohe mittlere Betriebsdauer zwischen Ausfällen, MTBF). Zweitens muss das Funksystem auch dann noch korrekt arbeiten, wenn Teile seiner Hardware und Software ausfallen (Fehlertoleranz), so dass in der Regel ein vollständig redundanter Aufbau des Funknetzes erfolgt (Kanal A und Kanal B mit jeweils eigener Daten- und Spannungsversorgung). Drittens muss das Funksystem unter gegebenen Einsatzbedingungen in einem Zustand erhalten oder in ihn zurückversetzt werden können, in dem es seine geforderte Funktion erfüllen kann (geringe mittlere Wiederherstellungszeit, MTTR). Der Zusammenhang dieser die Verfügbarkeit beeinflussenden Faktoren ist in Bild 2 dargestellt [5]. Ist mit 5G die grundlegende Technologieentscheidung gefallen, stellt sich jedoch die Frage, ob die zwei Funknetze als öffentliches 5G-Netz (Slice) oder als Campus-Netz (Betrieb in Eigen- oder Fremdregie) betrieben werden sollen. Betreibermodelle für den digitalen Datenfunk Neben der rein technischen Systementscheidung stellt sich die Frage, in welcher Form das Funksystem betrieben werden soll. Soll das redundante Funksystem komplett vom Betreiber beschafft und anschließend von diesem in Eigenregie betrieben werden? Ist möglicherweise eine ganz andere Strategie der Beschaffung und des Betriebs relevant, bei welcher das Verkehrsunternehmen auf von Externen betriebene Mobilfunkdienste zurückgreift? Dieser Abschnitt stellt die verschiedenen Möglichkeiten des Betriebs eines redundanten Funksystems dar. Hierbei werden zwei Kernfragen betrachtet, die sich auch in den verschiedenen Achsen der Matrix in Bild 3 dargestellt sind: •• Ist es aus Sicht des Verkehrsunternehmens sinnvoll, den Betrieb beider redundanter Funksysteme in die Hände externer Dienstleister zu legen oder ist es vielmehr sinnvoll, ein Mobilfunksystem oder gar beide Mobilfunksysteme in eigener Regie zu betreiben? Diese Frage beschreibt die horizontale Achse der Matrix in Bild 3. •• Ist es aus Sicht des Verkehrsunternehmens sinnvoll, die für den Betrieb eines Funksystems erforderlichen Tätigkeiten teilweise in die Hände externer Dienstleister zu legen? Was sind die Kernbereiche, die in der Hoheit der Verkehrsunternehmen bleiben sollten, um die speziellen aus dem Betrieb einer kritischen Verkehrsinfrastruktur resultierenden Anforderungen (vgl. [6]) nachweislich zu erfüllen? Diese Frage beschreibt die vertikale Achse der Matrix in Bild 3. Bild 2: Einflussgrößen auf die Verfügbarkeit eines Funksystems Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 82 TECHNOLOGIE Kommunikation Vertikale Achse: Betrachtung der Wertschöpfungstiefe des Netzbetriebs Als Ausgangsbasis der Betrachtung werden zunächst die Extrempositionen einer vollständig vertikal integrierten Wertschöpfungskette betrachtet. Hierbei wird die Leistung „aus einer Hand“ erbracht. Es wird hier noch nicht auf mögliche graduelle Abstufungen eingegangen. Insofern erfolgt zunächst die Darstellung der vollständigen Bereitstellung der Funkkonnektivität durch externe Dienstleister (Beschaffungsoption „buy“). Anschließend erfolgt eine Darstellung der vollständigen Bereitstellung der Funkkonnektivität durch eine eigene Fachorganisation des Verkehrsunternehmens (Beschaffungsoption „make“). Variante „Buy“: Funknetzbereitstellung und -betrieb vollständig durch externe Dienstleister Die Beschaffungsvariante „Buy“ bedeutet, dass das Verkehrsunternehmen sich in ein vorhandenes (ggf. auch extra für seinen Zweck errichtetes) Funknetz einmietet, die hierfür erforderlichen Komponenten mietet und auch den kompletten Service ebenfalls beim externen Dienstleister bestellt. Dies unterstützt den Ansatz der Spezialisierung, der besagt, dass ein Unternehmen durch wiederkehrende Tätigkeiten eine gleichbleibend hohe Qualität bei gleichzeitig niedrigem Preis liefern kann. Dieser Ansatz weist aus Sicht der Verkehrsunternehmen die folgenden Vorteile auf: •• Knowhow-Verfügbarkeit beim Funknetzbetreiber: Bei technologisch komplexen Funksystemen liegt das Wissen gebündelt beim Funknetzbetreiber vor und muss nicht aufwendig im Verkehrsunternehmen aufgebaut werden. Darüber hinaus verfügen die Experten des Funknetzbetreibers über umfassende Erfahrungen aus anderen Projekten, welche in das Projekt des Verkehrsunternehmens einfließen. •• Geringere Kosten durch Synergien mit dem Funknetzbetreiber: Die Kosten für das qualifizierte Personal müssen vom Verkehrsunternehmen nur anteilig getragen werden. Es sind keine Kosten für qualifiziertes Personal zu tragen, die ggf. nicht vollständig im Projekt eingesetzt werden können. •• Verfügbarkeit des Frequenzspektrums für den Funknetzbetreiber: Nicht für jede Funktechnologie steht es dem Verkehrsunternehmen überhaupt offen (bspw. 4G), eine eigene Netzinfrastruktur aufzubauen. Teilweise sind zwar Technik und Komponenten vorhanden, jedoch ergeben sich wesentliche Hürden bei der Beantragung von Funklizenzen. Verfügbare Lizenzen befinden sich momentan in Deutschland ausschließlich in der Hand der drei großen Mobilfunkanbieter. Aus Sicht des Verkehrsunternehmens weist dieser Ansatz die folgenden Nachteile auf: •• Abhängigkeit des Verkehrsunternehmens von Dritten: Das Verkehrsunternehmen ist bei Realisierung, der Administration und der Instandhaltung von Dritten abhängig. Dies steht im Konflikt zu einer als Betreiber einer Kritischen Verkehrsinfrastruktur angestrebten weitgehend autarken Betriebsführung. •• Eingeschränkte Reaktionsfähigkeit des Verkehrsunternehmens: Die Instandhaltung von Systemkomponenten im Bahnbetrieb bringt besondere logistische Herausforderungen mit sich. So greifen beispielsweise spezielle betriebliche Regelungen, die den Zugang zum Gleisbereich regeln. Hierbei ist das Verkehrsunternehmen in der Instandhaltung ohnehin eingebunden, um den sicheren und ordnungsgemäßen Betrieb nicht zu gefährden. Erforderliche Abstimmungen zwischen dem Verkehrsunternehmen und dem Betreiber sind ggf. zeitaufwändig und stehen im Konflikt mit den angestrebten kurzen Wiederherstellungszeiten. •• Abwälzung kommerzieller und technischer Risiken vom Mobilfunkbetreiber auf das Verkehrsunternehmen: Die eingesetzte Leit- und Sicherungstechnik der Verkehrsunternehmen ist gekennzeichnet durch lange Lebenszyklen. Lebensdauern von 25 bis 40 Jahren sind hier keine Seltenheit, sondern eher die Regel. In diesem Zeitraum wird die Mobilfunktechnologie mehrere Innovationszyklen durchlaufen (vgl. [7]). Angebote der Mobilfunkbetreiber basieren auf der aktuellen Generation an Mobilfunknetzen. Eine etwaige Migration auf den Folgestandard wird in den Angeboten abgegrenzt. Dies adressiert die Bedarfe nach einer zukunftssicheren Technikstrategie der Verkehrsunternehmen in keiner Weise. Variante „Make“: Funknetzbereitstellung und -betrieb vollständig durch interne Fachorganisation Die Beschaffungsvariante „Make“ bedeutet, dass das Verkehrsunternehmen das Funknetz selbst aufbaut, die Komponenten hierfür beschafft und den kompletten Service (Wartung, Inspektion, Instandhaltung, …) in der eigenen Hand behält. Die Vorteile dieses Ansatzes liegen in der Vermeidung der Nachteile des zuvor dargestellten Ansatzes. Das bedeutet konkret: •• Unabhängigkeit des Verkehrsunternehmens von Dritten sowohl bei der Realisierung als auch beim Service. •• Schnellere Reaktionsfähigkeit im Falle von Störungen, da die Verkehrsunternehmen ohnehin über eine Betriebsführungsorganisation verfügen, die in der Lage ist, einen Betrieb 24 Stunden am Tag an sieben Tagen der Woche zu gewährleisten. Die Notwendigkeit von Absprachen - insbesondere im Falle des erforderlichen Zutritts zu Gleisanlagen - ist hier nicht gegeben. Aus Sicht des Verkehrsunternehmens bedeutet dieser Ansatz die folgenden Nachteile: •• Knowhow-Verfügbarkeit: Bei technologisch komplexen Funksystemen muss das Wissen intern erarbeitet und/ oder geschult werden. Dieser Aufbau wird zusätzliche, nicht betrachtete, Kosten ver- Bild 3: Ausprägungen möglicher Betreibermodelle Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 4 | 2023 83 Kommunikation TECHNOLOGIE ursachen. Auf bestehendes Wissen, aus eventuell anderen Projekten, kann meist nicht zurückgegriffen werden. •• Kosten: Es müssen Kosten für qualifiziertes Personal vom Verkehrsunternehmen getragen werden. Diese spezialisierten Mitarbeiter sind möglicherweise nur anteilig im Projekt einsetzbar. •• Verfügbarkeit des Frequenzspektrums: Nicht für jede Funktechnologie ist es überhaupt möglich, eine eigene Netzinfrastruktur aufzubauen. Teilweise sind zwar Technik und Komponenten vorhanden, jedoch ergeben sich wesentliche Hürden bei der Beantragung von Funklizenzen (bspw. bei 4G). Verfügbare Lizenzen befinden sich momentan ausschließlich in der Hand der drei großen Mobilfunkanbieter. Horizontale Achse: Eigentumsverhältnisse der Funknetze („in mehreren Händen“) Stand zuvor - unabhängig von der Eigentumsstruktur der Mobilfunknetze - die Aufteilung der Wertschöpfungskette zwischen Verkehrsunternehmen und externem Dienstleister im Vordergrund ist auch zu betrachten, in wessen Regie die Mobilfunknetze betrieben werden können oder sollen. Hierbei können verschiedene Strategien unterschieden werden: •• Das Verkehrsunternehmen ist Eigentümer beider Funknetze. Die Eigentumsstruktur schließt jedoch nicht aus, dass hier teilweise die Wertschöpfung für ausgewählte Aspekte an einen externen Dienstleister übergeben werden. Es gelten hierfür die Darstellungen des vorhergehenden Abschnittes. •• Das Verkehrsunternehmen ist Eigentümer eines Funknetzes, wohingegen das zweite Mobilfunknetz von einem externen Dienstleister betrieben wird. Auch hier können - zumindest für das eigene Mobilfunknetz - ausgewählte Aspekte des Betriebs fremd vergeben werden. Für das Netz des Mobilfunkbetreibers ist davon auszugehen, dass dieser - wegen der Besonderheiten des Bahnbetriebs - den Betrieb seines Funknetzes nicht vollständig selbständig durchführen können wird. •• Der externe Dienstleister ist Eigentümer beider Funknetze. Auch in diesem Fall ist davon auszugehen, dass der externe Dienstleister den Betrieb des Funknetzes nicht vollumfänglich allein durchführen kann und auch hier der punktuellen Unterstützung durch das Verkehrsunternehmen bedarf. Schlussfolgerungen für das Betreibermodell Bereits zuvor ist auf die Dimensionen der Matrix in Bild 3 eingegangen worden. Die Auswahl des konkreten Betreibermodells für das Funksystem bemisst sich an den folgenden Kriterien: •• Wirtschaftlichkeit: Hierunter werden sowohl die Kosten in absoluter Höhe subsummiert als auch die Genauigkeit der Kostenermittlung. In Bezug auf die absolute Höhe der Kosten gehen die Verkehrsunternehmen davon aus, dass Sie in der Lage sind, das Mobilfunksystem in Eigenregie und zu ähnlichen Kosten wie die Mobilfunkbetreiber instand zu halten. Bei Betrieb in Eigenregie entfallen Kosten für die Koordination im Betrieb mit Externen. Auch die Genauigkeit der Kostenschätzung ist für die Eigenbeschaffung höher, da die Mobilfunkbetreiber sich nur eingeschränkt zu Kostensätzen über die gesamte Lebensdauer verpflichten. •• Betreibereigenschaft nach BOStrab: Die Verkehrsunternehmen unterliegen den Betreiberpflichten nach der Verordnung über den Bau und den Betrieb von Straßenbahnen. Die Erfüllung dieser Rechtspflichten ist leichter, wenn weniger organisatorische Schnittstellen bestehen. •• KRITIS-Eigenschaften der Verkehrsunternehmen: Die Verkehrsunternehmen sind Betreiber einer kritischen Verkehrsinfrastruktur. Sie sind daher bestrebt, Abhängigkeiten von Dritten weitgehend zu minimieren, wenn nicht gar auszuschließen. Auch hier fällt die Erfüllung der Rechtspflichten leichter, wenn weniger organisatorische Schnittstellen bestehen. Die zuvor genannten Kriterien zeigen, dass die Auswahl des Betreibermodells in Richtung einer vollständigen Integration der Wertschöpfungskette und der Wahrnehmung der Eigentümerrolle am Mobilfunknetz getrieben wird (vgl. Ziffer 9 in Bild-3). Ausblick Die Verkehrsunternehmen erhalten mit dem Mobilfunksystem der 5. Generation weitergehende Freiheitsgrade in der Ausprägung ihrer Funkinfrastruktur als Grundlage der Einführung hochautomatisierter Nahverkehrssysteme. Wie zuvor dargestellt, ist es sinnvoll, dass die Verkehrsunternehmen in stärkerem Maße Verantwortung für den Aufbau und den Betrieb des Mobilfunknetzes übernehmen. Verkehrsunternehmen werden jedoch in konkreten signaltechnischen Erneuerungsprojekten bestrebt sein, einen Teil der Risiken auf die Hersteller von Communications-Based Train Control Systemen (CBTC) abzuwälzen. Die Verkehrsunternehmen werden vor Ausschreibung der signaltechnischen Erneuerung die Durchführung einer Campus- Netzplanung separat beauftragen. Die Netzplanung ist dann eine Vorgabe des Verkehrsunternehmens, die von den Lieferanten der CBTC-Systemlösung in gleicher Weise umzusetzen ist. Auf diese Weise wird der Wettbewerb nicht verzerrt, da alle CBTC-Systemlieferanten eine in Bezug auf die Konnektivität vergleichbare Leistung anbieten werden. Dies stellt einen transparenten und diskriminierungsfreien Wettbewerb im Rahmen der Ausschreibung sicher. Etwaige Risiken im Projekt durch unzureichende Funkausleuchtung können dadurch vermieden werden, dass eine Position für die nachträgliche Ergänzung einer Funkantenne im Leistungsverzeichnis vorgesehen wird. In der konkreten Umsetzung eines signaltechnischen Erneuerungsprojekts wird die Herstellung der 5G-Campus-Netze in die Beschaffung der CBTC-Lösung integriert. Aus Risikoerwägungen heraus wird es voraussichtlich keine parallele Vergabe der Herstellung der Campus-Netze seitens der Verkehrsunternehmen geben. Hierdurch fällt dem Lieferanten des CBTC-Systems die Rolle des Systemintegrators zu. Im Zuge von Funkabdeckungstests muss im Projekt von den Herstellern nachgewiesen werden, dass beispielsweise das Hand-over der Funkverbindung zwischen benachbarten Funkzellen bruchlos funktioniert und die geforderten Dienstgüten im Betrieb auch tatsächlich erreicht werden. ■ LITERATUR [1] Kluge-Fiedler, R.; Radermacher, B. (2016): Digitalisierung im ÖPNV: Auf dem Weg zum Standard. In: Der Nahverkehr, H. 11, S. 50-53. [2] Sattler, H.; Müller, R. (2022): Systemarchitektur für das digitale Bahnsystem: neue Akzente für die Standardisierung. In: Deine Bahn, H. 11, S. 54-61. [3] Schienbein, M. (2018): Trends und Anforderungen der Funkübertragung für Betriebsdaten und Passagierservices. In: Signal + Draht (110), H. 7+8, S. 23-30. [4] UNISIG: GSM-R Bearer Service Requirements (SUBSET 093), Version 4.0.0, 04. März 2022. [5] Schnieder, L. (2022): Communications-Based Train Control (CBTC) - Komponenten, Funktionen und Betrieb. 3. Auflage. Berlin: Springer,. (2022). [6] Schnieder, L. (2023): Schutz Kritischer Infrastrukturen im Verkehr - Security Engineering als ganzheitlicher Ansatz. 4. Auflage. Berlin: Springer, (2023). [7] Schienbein, M. (2021): 5G-Innovationen im öffentlichen Nahverkehr. In: Signal + Draht (113), H. 5, S. 13-16. Lars Schnieder, Prof. Dr.-Ing. habil. Chief Executive Officer (CEO), ESE Engineering und Software-Entwicklung GmbH, Braunschweig lars.schnieder@ese.de