Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2024-0012
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Zukunft in der Warteschleife: KI in der Flugsicherung
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Jörg Buxbaum
Jens Konopka
Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, das Luftverkehrsmanagement nachhaltig zu verändern – relevante Anwendungen sind jedoch noch nicht marktreif.
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Internationales Verkehrswesen (76) 1 ǀ 2024 57 Xxxxx xxxxxxxxxxx LOGISTIK DOI: 10.24053/ IV-2024-0012 führen. Eine relevante Rolle spielt dabei das Luftverkehrsmanagement mit seinen drei Elementen [4] Luftraumgestaltung, Nachfrage-Kapazitäts-Ausgleich und Flugverkehrskontrolle. Getrieben durch technologisch bedingte Sprünge in der IT-Performance [5] sind in den vergangenen Jahren vermehrt KIgestützte Systeme in den Fokus gerückt, um das weltweite Luftverkehrsmanagement noch effizienter, sicherer und umweltgerechter zu machen. Es geht dabei nicht um die Entwicklung einer universellen künstlichen Intelligenz, sondern um die Nutzung von Maschinellem Lernen - also Algorithmen und Modelle, die dem System ermöglichen, aus Daten zu lernen und multidimensionale Muster und Zusammenhänge zu erkennen, die dem Menschen verborgen sind [6]. I m Luftverkehrsmanagement bieten KIgestützte Systeme sichtbare Potenziale für weitergehende Effizienz, Sicherheit und Umweltfreundlichkeit der Luftfahrt [1]. Trotz intensiver Forschung mit teils vielversprechenden Ergebnissen [2] sind weltweit noch keine maßgeblichen KI-Lösungen implementiert. Die Zurückhaltung bei der Umsetzung liegt an gewichtigen Gründen - in erster Linie dem Neuartigkeitscharakter, dazu einer konservativen Zuliefererindustrie und teilweise auch fehlenden Daten. Um die Potenziale von KI tatsächlich zu erschließen, hat die Branche diese Hürden aus dem Weg zu räumen und schlüssige Integrationsstrategien zu entwickeln. Rund 100.000 Flüge der kommerziellen Luftfahrt fanden weltweit 2023 im Mittel pro Tag statt [3]. Zahlreiche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um diese Flüge sicher und effizient an ihren Zielort zu Warum KI? Es gibt Rahmenbedingungen und Eigenschaften des Luftverkehrs, die Maschinelles Lernen für Anwendungen im Luftverkehrsmanagement geeignet erscheinen lassen: 1) Komplexität des Luftverkehrs Luftverkehr ist ein dynamisches, komplexes System mit einer Vielzahl an komplizierten Elementen, den Flugzeugen. Diese Elemente werden im kontrollierten Luftraum zentral orchestriert durch die Flugsicherung - allerdings in einer Grauzone zwischen Steuerung und Regelung. Sprachprobleme, Rufzeichenverwechslungen, unvorhersehbare Reaktionszeiten von Cockpitcrews, parallele Funksprüche und Nichtbefolgen von Anweisungen der Flugsicherung verhindern einen intakten Regelkreis. Diese Effekte machen Prozesse im Luftverkehr schwer vorhersehbar und führen zu emergenten Eigenschaften wie unerwarteten Engpässen Zukunft in der Warteschleife: KI in der Flugsicherung Luftverkehrsmanagement, Lösungen, Potenzial, Digitalisierung Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, das Luftverkehrsmanagement nachhaltig zu verändern - relevante Anwendungen sind jedoch noch nicht marktreif. Jörg Buxbaum, Jens Konopka Flugsicherung TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (76) 1 ǀ 2024 58 DOI: 10.24053/ IV-2024-0012 TECHNOLOGIE Flugsicherung oder Verzögerungen. Regelbasierte Algorithmen stoßen in diesem System schnell an ihre Grenzen. [7]. 2) Chaosverhalten des Flugwetters Luftverkehr findet im Freien statt - Flüge sind unablässig dem Einfluss von Wetter unterworfen. Wettergeschehen wiederum zeigt Eigenschaften von komplexen wie von chaotischen Systemen. Interaktionen seiner vielen Variablen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Windmuster führen zu nichtlinearen Effekten und emergenten Phänomenen, die nicht oder nur sehr eingeschränkt vorausgesagt werden können [8]. 3) Analog-digitale Regelungskette Das Flugverhalten jedes einzelnen Flugzeugs ist zum einen stark regelbasiert (Internationale Flugregeln, örtliche geltende Verfahren, airlinebasierte Operation Manuals) und genügt bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Es ist gleichzeitig stark abhängig vom individuellen Verhalten der Pilotendyade, die wiederum überwiegend mündlich per analogem Sprechfunk mit der Flugsicherung kommuniziert und das Flugzeug über die händische Eingabe von Zielparametern oder manuellen Steuerimpulsen regelt. Von einer durchgängigen Digitalisierung ist das System Luftverkehr weit entfernt. 4) Datenlücken Viele prognose- und steuerungsrelevante Daten im Luftverkehr sind vorhanden und verfügbar (Flugzeugmuster, Airline, Destination, Flughöhe, Position). Andere Informationen sind nur einigen Prozessbeteiligten bekannt (Freigabeinformationen, Flugzeugmasse, Cost-Index) und stehen auch nur eingeschränkt digital zur Verfügung. Fallweise sind verfügbare Daten lückenhaft oder - wie zum Beispiel bei Wetterinformationen - nicht zwingend aktuell. KI ist in der Lage, „maßvolle“ Informationslücken kompensieren zu können. Gleichzeitig stellt jedoch die Nichtverfügbarkeit relevanter Datenquellen eine große Hürde dar, wie später noch erörtert wird. Maschinelles Lernen verfügt über Eigenschaften, die sehr gut zu den Rahmenbedingungen des Luftverkehrs passen, und kann deswegen eine spürbare Unterstützung bieten: Es werden große Mengen an Einflussfaktoren gleichzeitig berücksichtigt. Es besteht eine große Toleranz in Bezug auf die Höchstmenge gleichzeitig zu verarbeitender Daten aus unterschiedlichsten Quellen. Ergebnisse, Muster und Erfahrungen können leicht auf ähnliche, aber nicht gleiche Situationen übertragen werden. Mit Maschinellem Lernen können Erfahrungen aus unterschiedlichen, hochkomplexen Situationen gesammelt und verfügbar gemacht werden, die ein einzelner Mensch (z. B. Fluglotse) nie sammeln kann bzw. wofür er mehrere Berufsleben bräuchte. Stand der Anwendung von KI- Lösungen bei Flugsicherungen Während das Potenzial von KI beim Einsatz im Luftverkehrsmanagement groß erscheint, sind relevante KI-Systeme in operativen Bereichen der Flugsicherung weltweit noch nicht im Einsatz. Allein von der Kontrollzentrale Maastricht von EUROCONTROL ist bekannt, dass dort ein KI-gestütztes Planungssystem verwendet wird, um standardisierte Routenführungen für Flüge vorzuschlagen [9]. Allerdings steht diese Aufgabe nicht in Verbindung mit der unmittelbaren, operativen Flugverkehrskontrolle. Einige Umsetzungen gibt es auch bei der KI-gestützten Bildauswertung - einem der ältesten KI-Anwendungsfelder. So wird am türkischen Alanya Gazipaşa International Airport automatisch mit dem System „A- FOD“ von Argos AI mittels KI nach Objekten und Tieren auf dem Vorfeld- und Pistensystem gesucht [10]. Auch am Flughafen London Heathrow sorgen KI-gestützte Algorithmen in Verbindung mit hochauflösenden Kameras dafür, dass vom Kontrollturm bei schlechten Sicht- Luftraum- und Verfahrensplanung Nachfrage-Kapazitäts- Ausgleich Flugverkehrskontrolle ▪ Berechnung von optimalen Sektorzuschnitten und optimalen Sektorgrößen ▪ Zusammenstellung sinnvoller Kombinationen von Sektoren in Abhängigkeit von verschiedenen Verkehrs- und Wetterszenarien ▪ Berechnung energieeffizienter An- und Abflugverfahren samt passender Übergabehöhen zwischen Sektoren und Betriebseinheiten ▪ Ermittlung „ähnlicher“ Sektoren und Ableitung der zugrundeliegenden Eigenschaften ▪ Zusammenstellung von Lösungsstrategien (Kombination Wetter, Verkehrsbelastung, weitere Rahmenbedingungen) ▪ Verkehrsangepasste Sektorkonfigurationen für das optimale Verhältnis zwischen Personaleinsatz und Kapazität ▪ Strategische Personaleinsatzplanung ▪ Wetterprognose / Zugrichtungsprognose / Auswirkungen von Wetter auf den Flugbetrieb ▪ Spracherkennung, Workloadmessung am Arbeitsplatz ▪ Workloadprognose: Berechnung der zu erwartenden Aufwände in den nächsten 30 Minuten ▪ Identifikation von Einzelflügen, die besonders viel Aufwand bedeuten ▪ Antizipatives Conformance Monitoring (Pilotenverhalten - wird Wetter umflogen? ) ▪ Time oder Distance to fly für Anflüge ab Top of Descent (letzte Reiseflughöhe) ▪ Ermittlung energieeffizienter Trajektorien für Einzelflüge am Betriebstag ▪ Konflikterkennung weit vor Einflug in den Sektor unter Berücksichtigung des Vertikalflugverhaltens (Basis: Gesamte Verkehrssituation auf Basis eines hierfür trainierten, neuronalen Netzes) ▪ Fernziele: Optionen für Konfliktlösungen, Arbeitsaufteilung („KI-basierter Assistent“) Sonstiges: ▪ Verbesserte Prognose von Landezeiten als Unterstützung für Flughafenprozesse ▪ „Autolotsenfunktion“ für Realzeitsimulationen und für das Training ▪ Predictive Maintenance Tabelle 1: Potentiale KI-gestützter Systeme im Luftverkehrsmanagement Internationales Verkehrswesen (76) 1 ǀ 2024 59 DOI: 10.24053/ IV-2024-0012 fürchtung, in ihrer beruflichen Rolle obsolet werden zu können [15]. Sachlich betrachtet ist für Fluglotsen diese Befürchtung derzeit unbegründet - die erfolgreiche Hochautomatisierung eines hochsicherheitsrelevanten, komplexen Systems wie der Flugsicherung ohne zentrale Verantwortung von menschlichen Experten ist bis auf Weiteres nicht absehbar [16]. d) Oligopolistische Lieferantenstrukturen Weltweit sind Flugsicherungssysteme stark von einer Zulieferindustrie abhängig, die vorwiegend von oligopolistischen Strukturen geprägt ist. In einem Oligopol bleiben bedeutsame (und kostenintensive) Innovationen oft im Hintergrund, solange kein anderer Marktteilnehmer den Weg bahnt. Ein Verdrängungswettbewerb findet in der ATM-Zuliefererindustrie kaum statt, da für Flugsicherungen der Wechsel von einem Anbieter zum anderen durchaus eine Dekade dauern könnte. Künstliche Intelligenz (KI) findet in diesem Umfeld eher Erwähnung in Prospekten und auf Fachmessen, anstatt sich als wirksame, marktreife Produkte zu manifestieren. e) Fehlende Daten Obwohl Künstliche Intelligenz grundsätzlich in der Lage ist, eine partielle Datenlücke zu kompensieren, stellt das gänzliche Fehlen relevanter Informationen eine erstellt eine Herausforderung für das Management dar und kann entsprechend kritisch betrachtet werden. b) Offene Zertifizierungsfragen Die nötige Zertifizierung von KI-Algorithmen ist noch nicht in allen Aspekten geklärt - weswegen auch die europäische Flugsicherheitsbehörde EASA KI in den Fokus genommen hat [13]. Es gibt Projekte, deren Schwerpunkt allein auf der Zertifizierbarkeit von KI liegt. So z. B. im Projekt „KIEZ 4.0“, das im Rahmen des Luftfahrtforschungsprogramms von der Bundesregierung gefördert wird [14]. Sicher ist schon jetzt, dass sich KI-gestützte Anwendungen nicht laufend auf Grundlage aktualisierter Datenstände „erneuern“ dürfen. Für eine Zertifizierung braucht es einen kalkulierbar statischen Entwicklungsstand und reproduzierbare Ergebnisse. Gleichzeitig sorgen Neuerungen im Luftverkehrsmanagement (neue Verfahren, neue eingesetzte Flugzeugmuster, Änderungen von Flugregeln) dafür, dass regelmäßig neue Trainingsdaten benötigt werden und verarbeitet werden müssen - mit anschließender Neuzertifizierung der Software. c) Skepsis Auch potenzielle Vorbehalte in der Arbeitnehmerschaft können eine Rolle spielen - weckt doch KI bei vielen Menschen die Bebedingungen das Abrollen von Flugzeugen von den Pisten zuverlässig erkannt werden kann [11]. Gründe für zurückhaltende Implementierungen Es gibt verschiedene Gründe für das branchenweite Fehlen bereits eingeführter und laufender KI-Lösungen: a) Hang zu bewährter Technik Flugsicherung ist geprägt von traditioneller, bewährter Technologie und dem Bestreben, sichere, vergleichsweise simple und vor allem nachvollziehbare Lösungen zum Management des Luftverkehrs zu bieten - und das kreative Element dem Entscheidungsträger Mensch (Fluglotse) zu überlassen. Neuartige technische Optionen leiden in der Luftfahrt unter einem extrem langen Realisierungszeitraum von teilweise mehreren Jahrzehnten - z. B. bei der Einführung von ADS-B [12]. (ADS-B steht für Automatic Dependent Surveillance-Broadcast - per ADS-B senden Flugzeuge automatisch ihre eigene Position und andere Informationen an Bodenstationen und andere Flugzeuge aus.) Solche langwierigen Entwicklungsprozesse führen dazu, dass schnelle Leistungsoptimierungen bei Flugsicherungssystemen oder unmittelbare Gewinne für Zulieferunternehmen nicht in Aussicht stehen. Dies Bild 1: Mögliche Einsatzgebiete KI-gestützter Systeme und Lotsenassistenz über den Flugverlauf und am Lotsenarbeitsplatz Flugsicherung TECHNOLOGIE Learning-basierte Prädiktionsverfahren im KI-AMAN deutlich bessere Anflugreihenfolgen berechnet als konventionelle AMANs [19]. Vorhersage wetterbedingter Betriebseinschränkungen für Flughäfen Im Forschungsvorhaben „Met4Airports“, das Ende 2023 abgeschlossen wurde, kam KI zum Einsatz, um Betriebseinschränkungen durch Gewitter für die Flughäfen Frankfurt und München vorherzusagen. Ziel davon war die verbesserte Planung für die Flugsicherung und das Flughafenpersonal durch die Verknüpfung meteorologischer Daten mit Betriebsdaten der Flughäfen und der DFS. Die Auswertungen für die Zielgrößen Einzelflugverspätung, Durchschnittsverspätung und Departure Rate zeigten Ergebnisse, die die vorhandenen Baselines übertreffen. Die entwickelte Vorhersage für wetterbedingte Verspätungen wurde von Operateuren der DFS und der Münchner Flughafengesellschaft FMG als hilfreich bewertet. Besonders bei prozessübergreifenden Koordinierungsaufgaben und der Personalplanung bei schlechtem Wetter erkannten die Beteiligten Vorteile. Das Forschungsvorhaben sah sich einigen Herausforderungen gegenüber. Die begrenzte Verfügbarkeit von Daten, insbesondere hinsichtlich der Archivierungszeiträume, erwies sich als zentral. Einschränkungen für das eingesetzte KI- Verfahren resultierten auch aus späten und nur reaktiven Aktualisierungen der TOBT (=Target Off Block Time) von Fluggesellschaften. Hier zeigte sich, dass die Qualität von KI-Berechnungen von der Güte der Eingangsdaten abhängt. Änderungen an den meteorologischen Vorhersagemodellen stellten eine weitere Herausforderung dar, da kontinuierliche Anpassungen erforderlich waren. Während der Corona-Pandemie traten spezifische Probleme auf, da die Daten in dieser Zeit nicht repräsentativ waren. Als Ergebnis des Projekts wurde deutlich, dass vor einer potenziellen Implementierung weitere Forschungsarbeit notwendig ist. LOKI: Mensch und KI als Partner? Das DLR untersucht seit 2022 in Zusammenarbeit mit Austro Control und DFS im Projekt LOKI (Kollaboration von Luftfahrt- Operateuren und KI-Systemen) die Möglichkeit, bestimmte Aufgaben am Lotsenarbeitsplatz in Zukunft (2040 oder später) an eine KI-Instanz zu delegieren. In LOKI wird der Prototyp eines KI-gestützten Assistenten entwickelt, der Fluglotsen in ihrer anspruchsvollen Arbeit unterstützt. flughafen München besser vorherzusagen. Dabei wurde das System, das sich nicht im operationellen Einsatz befindet, mit der aktuellen Position und Geschwindigkeit des Luftfahrzeugs sowie mit der Anzahl der anderen im Anflug befindlichen Flugzeuge und Informationen über das vorherrschende Windprofil gespeist. Die Vorhersagegüte lag deutlich über den bislang im Einsatz befindlichen Methoden. Die Abbildung zeigt die Positionen von Flugzeugen im Anflug auf die Pisten 26R/ L des Flughafen München 10 Minuten vor der per KI vorhergesagten Landung (grün) und 15 Minuten (orange). Die Abbildung illustriert anhand zweier stattgefundener Anflüge, dass aus der lateralen Position eines Flugzeugs im Flughafennahbereich nur schlecht auf die genaue Landezeit geschlossen werden kann. Grund dafür ist, dass weitere Faktoren die restliche Flugzeit bestimmen, u. a. das Windfeld, das Geschwindigkeitsprofil im Anflug sowie die Eindrehpunkte auf den „Transitions“ bzw. fallweise eine direkte Routenführung, was auch von anderen im Anflug befindlichen Flugzeugen beeinflusst wird. Mithilfe des maschinellen Lernens können diese Effekte berücksichtigt und die Genauigkeit der Landezeitvorhersage stark verbessert werden. Die mittels des neuronalen Netzes erzeugte Vorhersage hat - bezogen auf die tatsächliche Landezeit (Standardabweichung) - einen Fehler von 1 Minute 10 Minuten vor der Landung und von 1,4 Minuten 15 Minuten vor der Landung. Es wird erwartet, dass die Leistung weiter gesteigert werden kann, wenn beispielsweise Informationen über den Flugzeugtyp ebenfalls berücksichtigt werden. Örtliche Anpassung eines Arrival-Management-Systems Ein anderes Beispiel für die Potenziale eines KI-basierten Systems ist eine Entwicklung im Arrival-Management-System (AMAN) der DFS, der ebenfalls im Rahmen des Projekts „KIEZ 4.0“ stattfand. Bisher musste bei der Entwicklung von Anflugplanungen die Reihenfolgeplanung mit einem großen Aufwand an die speziellen operationellen Anforderungen des jeweiligen Standorts und die Arbeitsweisen der Lotsen angepasst werden. Verfahren aus dem Bereich des maschinellen Lernens erlauben es nun, dieses Wissen durch selbstlernende Algorithmen aus Daten zu extrahieren. Der Zeitaufwand einer Implementierung wird verringert - unter Aufrechterhaltung der Planungsqualität und der Lotsenakzeptanz. Als Nebeneffekt ergab sich eine massive Abnahme des Programmieraufwands. Durch Verwendung von KI-Verfahren im AMAN wurden die Anzahl nötiger Programmierzeilen um 97 % reduziert. Simulationen beim DLR in Braunschweig zeigten, dass das Machinehebliche Hemmschwelle für Fortschritte in der KI-Entwicklung dar. So gibt es teilweise national sehr strenge Regelungen zur Verwendung von (prinzipiell bei der Flugsicherung vorliegenden) Flugverlaufsdaten und Sprachdaten - andere Daten (z. B. Freigabeinformationen, Cost-Index, Vorgaben aus den Operation Manuals der Airlines) sind schlicht nicht verfügbar, weil die Verteilung dieser Information bisher keinen Nutzen versprach. Herauszuheben ist der Umstand, dass selbst der für eine Trajektorienprognose sehr relevante Wert der aktuellen Flugzeugmasse den Flugsicherungen von den Fluggesellschaften in der Regel nicht übermittelt wird. Ob Sicherheitsbedenken die Bewertung von KI-gestützten Lösungen für die Luftfahrt prägen, kann gerade die Steigerung der Sicherheit eine Motivation für den Einsatz von KI in der Flugsicherung sein. Begründet wird diese Erwartung mit der Eigenschaft maschineller Lernmethoden, das Verhalten von Systemen allein aus Daten erlernen und modellieren zu können. Insbesondere bei Systemen, die von einer Vielzahl von ggf. ebenfalls zueinander in Abhängigkeit stehenden Parametern abhängen, zeigt sich KI konventionellen Algorithmen oft überlegen. Von solchen disruptiven, immensen Verbesserungen wie durch Alpha-Fold [17] ist die Flugsicherungswelt noch weit entfernt, erste Entwicklungen sind aber vielversprechend. Steigflugprognose So zeigte sich in Untersuchungen im Forschungsbereich der DFS (DFS Deutsche Flugsicherung GmbH) in Zusammenarbeit mit dem chinesischen Forschungszentrum NRIEE (Nanjing Research Institute of Electronic Engineering), dass die Prognosequalität von Steigflugverhalten von Einzelflügen mittels Maschinellem Lernen gesteigert werden kann [18]. Die Methode erlaubte, die unbekannten Parameter für die (physikalischen) Modelle zu schätzen, für die Inferenz wurden für diese Zwecke trainierte neuronale Netze eingesetzt. Profitieren würde dabei u. a. die Zuverlässigkeit von Konflikterkennungssystemen, verbunden u. a. mit der Abnahme der Anzahl von Falschalarmen und Zunahme des Vertrauens des Operateurs in das System. Gleichzeitig illustriert dieser Anwendungsfall einen sehr wichtigen Punkt: KI ersetzt nicht die Fluglotsinnen und Fluglotsen - sondern unterstützt sie in ihrer Arbeit mit besseren Informationen und Vorschlägen. Landezeitvorhersage Ein weiteres neuronales Netz kam in einem Vorhaben der DFS zum Einsatz, um die Landezeit von Flügen auf dem Verkehrs- Internationales Verkehrswesen (76) 1 ǀ 2024 60 DOI: 10.24053/ IV-2024-0012 TECHNOLOGIE Flugsicherung Internationales Verkehrswesen (76) 1 ǀ 2024 61 DOI: 10.24053/ IV-2024-0012 4) Kompensation von Fluglotsenmangel Ein zukünftig zu erwartender, unerwünschter Fluglotsenmangel [24] erfordert innovative Lösungen. KI-gestützte Assistenzsysteme können die Arbeit der vorhandenen Fluglotsen unterstützen, indem sie komplexe Aufgaben übernehmen, Workloads prognostizieren und Konflikte frühzeitig erkennen. Damit könnte auch mit einem verringertem Personalstamm die nötige Sicherheit und Kapazität geboten werden, unter Einhaltung der Workload- und Arbeitszeitgrenzen für die Fluglotsinnen und Fluglotsen. Fazit KI hat das Potenzial, neue Dimensionen in der Sicherheit, der Kapazität und der Umwelteffizienz in der Luftfahrt zu erschließen. Während es wohl eine Vielzahl konkreter Einsatzoptionen, Forschungsvorhaben und Dutzende internationaler Gremien und Arbeitsgruppen in dem Kontext gibt, ist der Weg von KI in die Realität des Flugsicherungsbetriebs steinig. Insbesondere aufgrund der offensichtlichen Neuartigkeit, seinem geringen Überlapp mit angestammten Technologien in der Luftfahrt, fehlendem Wettbewerb unter den Systemlieferanten und fehlenden Daten sind die Fortschritte langsamer als in anderen Industrien. rieren und damit die Sicherheit signifikant erhöhen. 2) Umweltgerechte Flugführung Energieeffiziente Flugführung wird in den nächsten Jahren nochmals deutlich an Relevanz zunehmen. KI-gestützte Systeme können Fluglotsen unterstützen, den Luftverkehr treibstoffsparend zu führen und - wo nötig - um contrailfördernde, eisgesättigte Gebiete herumzuführen, ohne in den umliegenden Bereichen für eine Überlast zu sorgen [21] [22]. 3) Effekte des Klimawandels Der Klimawandel führt zu gravierenderen Wetterphänomenen, die einen signifikanten Einfluss auf das Luftverkehrsmanagement haben [23]. Mehr und mehr ist eine fortschrittliche Wetterprognose erforderlich, die diesen neuen Anforderungen Rechnung trägt - beispielsweise im erwähnten Projekt Met4airports. KI kann komplexe Zusammenhänge zwischen Wetterparametern analysieren und Vorhersagen erstellen, inklusive der Befliegbarkeit bestimmter Wetterzonen. Die Integration dieser Prognosen in Lotsenarbeitsplätze ermöglicht eine frühzeitige Erkennung von wetterbedingten Herausforderungen und verbessert die Resilienz des Luftverkehrssystems. Im Fokus von LOKI steht auch die Interaktion zwischen Mensch und KI: Wie zuverlässig muss eine derartige Assistenz sein? Welche Aufgaben können an eine KI delegiert werden - und welche auf keinen Fall? Wie verhält sich eine Assistenz, wenn die zu lösende Aufgabe nicht lösbar scheint oder technische Einschränkungen eine Lösung erschweren? Wie bleiben Fluglotsinnen und Fluglotsen im „Loop“ bei dem, was die KI entscheidet - und wie nachvollziehbar sollten deren Entscheidungen sein [20]? Treiber für KI-Anwendungen: Die Zeit Offen ist, ob die Entscheidung zur Nutzung von KI im Luftverkehrsmanagement allein durch die Flugsicherungen getroffen werden kann - oder Veränderungen in den Rahmenbedingungen für Luftverkehr von sich aus nach derartigen Lösungen verlangen. 1) Steigerung der Flugsicherheit bei zunehmendem Luftverkehr Mit dem zu erwartenden weiteren Anstieg des Luftverkehrs wird die gleichzeitig nötige Steigerung des Sicherheitsniveaus pro Flug zur obersten Priorität, um das Sicherheitsniveau des Gesamtsystems Luftverkehr auf dem etablierten Stand zu halten. KI-basierte Systeme können frühzeitig Konflikte identifizieren, Lösungsoptionen gene- Abbildung 2: Positionen von Flugzeugen im Anflug auf die Pisten 26R und 26L des Flughafen München 10 Minuten vor der per KI vorhergesagten Landung (grün) und 15 Minuten (orange). Die beiden eingezeichneten, beispielhaften Einzelflüge zeigen, dass die Restflugzeit nicht unmittelbar aus der Position des Anflugs abgeleitet werden kann. Datengrundlage sind alle Anflüge bei Betriebsrichtung West über ein volles Jahr. Flugsicherung TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (76) 1 ǀ 2024 62 Artikelstartbild Headerbild zur Illustration, AIgeneriert DOI: 10.24053/ IV-2024-0012 Je mehr der Umgang mit KI in der Gesellschaft, in der Mobilität und auch in der Luftfahrt zur Normalität wird - umso rascher und zielgerichteter werden sich auch KI-Lösungen im Flugverkehrsmanagement etablieren. Angefangen in unkritischen Anwendungsbereichen, bis hin zum langfristigen Ziel einer wirkungsvollen Unterstützung von Lotsen in ihrer zentralen Aufgabe - der sicheren Steuerung und Kontrolle von Luftverkehr. LITERATUR [1] AlishaS (2023). How Artificial Intelligence Is Used in Air Traffic Control (2023) Aufgerufen am 14.1.2024. 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