Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2024-0017
51
2024
762
Gibt es eine Pflicht zum (Automobil-)Verzicht?
51
2024
Henning Tegner
iv7620009
DOI: 10.24053/ IV-2024-0017 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 9 Wirkungsmaßstabs (des konsequentialistischen bzw. teleologischen Ansatzes) den Maßstab der Pflichtenethik (einen „deontologischen Maßstab“) anzulegen. 3 Dann lautet unsere Fragestellung: „Gibt es aus deontologischer bzw. pflichtenethischer Perspektive eine Pflicht, jedwede oder zumindest bestimmte klimaschädliche Mobilitätshandlungen zu unterlassen? Falls ja, wie kann diese Pflicht begründet werden? “ Wir werden nachfolgend eine Reihe von Anwendungsversuchen unternehmen, um uns einer Antwort auf diese Frage zu nähern. 1 Einordnung der Pflichtenethik Im Gegensatz zum teleologischen Ansatz leitet die deontologische Ethik die Moralität des Handelns aus einer inneren Einstellung der Handelnden (etwa aus eigener Überzeugung, Gesinnung, eigenen Handlungsmaximen) oder der Handlung selbst heraus ab. 4 Was kennzeichnet also eine Pflicht? Einleitung Ist eine einzelne Mobilitätsentscheidung wie die Freizeitfahrt mit einem Diesel-SUV aus moralischem Blickwinkel beurteilbar? Stellen wir uns vor, wir würden diese Fahrt mit unseren Freunden gern unternehmen, und die Wetterprognose zeigt sich freundlich. Dennoch stellt sich aus Umweltgründen irgendwie ein „schlechtes Gewissen“ ein. Ich befinde mich im Mobilitätsdilemma. Kann mir die Philosophie bzw. die Ethik dabei helfen? Es wäre bestürzend, sollte dies nicht der Fall sein, doch der Reihe nach. Geht es nach Walter Sinnott-Armstrong, der die Eingangsfrage bereits 2005 moralphilosophisch untersucht hat, 1 lautete die Antwort eindeutig nein. Das liegt vor allem daran, dass Sinnott-Armstrong konsequentialistisch auf die Folgen einer einzelnen Mobilitätshandlung blickt und diese im betrachteten Fall als vernachlässigbar gering einstuft. 2 Wie aber ist es, wenn wir uns der gleichen Fragestellung aus einem anderen ethischen Blickwinkel nähern? Gerade im „Kant-Jahr“ 2024 liegt es nahe, anstelle des 1. Pflichten sind Regeln für den Willen; durch die Pflicht erfahren wir quasi eine Nötigung; ein Gebot gegen inneren Widerstand. 5 2. Pflichten beziehen sich auf ein korrespondierendes Objekt - dies kann ein Recht desjenigen sein, der von meiner Pflichtverletzung betroffen wäre -, schließlich geht sein Recht mit meiner Pflicht einher, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, Pflichten können sich aber auch nicht-reziprok auf spezielle Werte oder auf die Würde von Menschen beziehen, was nachfolgend noch erörtert wird. 3. Der Ruf der Pflicht kann von einer äußeren oder einer inneren Autorität (Vernunft, Einsicht, Liebe, dem eigenen „Pflichtgefühl“) ausgehen, wobei von einer moralischen Pflicht nur die Rede sein kann, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: a) Ich habe mir die Pflicht zu eigen gemacht und b) Das geschah aus moralischen Erwägungen heraus, und Gibt es eine Pflicht zum (Automobil-)Verzicht? Henning Tegner 300 Jahre Kant POLITIK DOI: 10.24053/ IV-2024-0017 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 10 POLITIK 300 Jahre Kant entstehen aus weltanschaulichen oder religiösen Einsichten heraus. 17 2. Gültigkeit und damit Verbindlichkeit erhalten Werte nur durch Anerkennung, also durch autonomen Willensentscheid. 18 Vorausgesetzt, es gäbe eine bestimmte Kategorie von objektiven Werten, dann ist Autonomie in der Wertsetzung nicht zwangsläufig mit völliger Beliebigkeit gleichzusetzen, denn solche objektiven Werte sind nach Reiner intersubjektiv gegeben („objektiv fruitiv“), ihr Sein-Sollen ist „in sich selbst einsichtig“ und somit von individueller Willkür unabhängig. 19 3. Vermittelt und damit meinem Willen zur Entscheidung vorgetragen werden Wertvorstellungen vom sozialen Umfeld oder auch bestimmten gruppenprägenden Charakteren, 20 politischen Charakteren, 21 von meinem individuellen Gefühl, meinem vernunft- oder auch religiös getragenen Glaubensbegriff. 22 Eine weitere Funktion nimmt das Gewissen ein, das uns nicht selten ungewollt zur Ordnung ruft und an unsere Werteentscheidung erinnert. 23 Es scheint, als sei meine Grundsatzentscheidung zugunsten bestimmter Werte - und mögen sie noch so abstrakt sein - geeignet, bis in meinen moralischen Alltag hineinzuwirken. Zwei sachlich verknüpfte Werte sollen in diesem Zusammenhang Erörterung finden: die Würde des Menschen sowie der Wert einer Menschheit an sich. Die Würde des Menschen gilt manchem nach wie vor als schillernder Begriff 24 , und tatsächlich existiert dieser in unterschiedlichen Ausprägungen. 25 Hervorzuheben ist die würdebegründende Fähigkeit des Menschen, über eigene Belange befinden zu können, zugleich die wesentliche Voraussetzung seiner inneren Unabhängigkeit. 26 Insofern nimmt die menschliche Würde bei Kant auch keineswegs den Rang eines einfachen „pragmatischen“ Wertes an, sondern drückt vielmehr die transzendentale Voraussetzung aus, Werte zu setzen. 27 Daher genießt der Mensch als „Zweck in sich selbst“ besonderen Schutz, es verbietet sich kategorisch, ihn als bloßes Mittel zum Zweck zu missbrauchen. 28 Hinzu kommen das - nicht selten mit Verfassungsrang verankerte - Verständnis einer natürlichen, unveränderlich gleichen Stellung aller Menschen sowie - als Ausdruck neuerer Entwicklungen - die „ökonomischen Würdebedingungen“. 29 Mangelt es daran in gravierendem Ausmaß, so kann dies die Betreffenden so sehr einschränken, dass ihre Selbstbestimmung über Belange höherer Ordnung gefährdet ist. 30 Wir brauchen nicht so weit zu gehen. Die von Kant betonte Selbstbestimmungsfähigder notwendigen Ressourcen führen - der Zweck „SUV-Fahren“ würde somit unmöglich gemacht; das Gesetz würde sich selbst aufheben. Da die Umkehrung nicht denkbar ist, könnte man an dieser Stelle also festhalten, dass der Imperativ „Fahre nicht verschwenderisch mit deinem Diesel-SUV“ ein durchaus kategorischer ist, gleichwohl bestünde weiterhin erheblicher Interpretationsspielraum in der Beurteilung von „verschwenderisch“. 10 Die Universalisierungsformel: Nach dieser wohl bekanntesten Formel des kategorischen Imperativs stelle ich mein Handeln nach Grundsätzen auf, von denen ich ohne Widerspruch zugleich wollen und denken kann, dass sie allgemeine Gesetze werden. 11 Anwendungsversuch: Begeben wir uns also auf die Suche nach Widersprüchen im Denken oder im Wollen, 12 die sich aus dem Gesetz „Fahre verschwenderisch mit dem Diesel-SUV“ ergeben. Vermutlich können wir uns denken, dass ein vorausschauender (politischer) Gesetzgeber zum Schutz der Ressourcen irgendwann erhebliche Hürden gegen das Fahren mit dem SUV oder einem Pkw überhaupt errichten würde. Einerseits zu meinen, ich könne unbeschränkt SUV fahren, und andererseits zu wissen, dass ein Gesetzgeber dies nicht auf immer zulassen kann, lässt sich folglich nicht widerspruchsfrei denken. 13 Wir halten fest, dass jedenfalls die Negation des hier in Rede stehenden Verhaltens in Form eines „jederzeit unbeschränkten SUV-Fahrens“ sich selbst widerspricht, weil sie nicht zum allgemeinen Verhalten werden kann. 14 Insofern müssen wir - wenn es sie nicht bereits gäbe - nach geeigneten Beschränkungen suchen, womit dadurch noch nicht ausgesagt ist, dass diese nur im vollständigen Verzicht auf Diesel-Freizeitfahrten liegen können. 3 Werte Was bringt nun das sittliche Sollen in uns zum Vorschein, das uns zur Beachtung der kategorischen Forderungen drängt? Bei Kant ist es schlicht die „Achtung vor dem Gesetz“. 15 Nicht nur Laien, auch manche Philosophen tun sich hiermit schwer. Sie führen diesen Rigorismus auf eine bei Kant nur schwach ausgeprägte Wertlehre zurück und suchen in einer erweiterten Wertlehre eine notwendige Ergänzung der Kant’schen Imperative. In drei Schritten führen uns diese Autoren zur Akzeptanz von Werten: 1. Durch die Entstehung von Wertvorstellungen, die als solche nicht einmal ihrer Verwirklichung bedürfen - es reicht aus, dass sie uns mit etwas Phantasie vorstellbar erscheinen. 16 Legt man die Studie von Hans Joas zugrunde, so haben Werte einen transzendentalen Charakter, sie etwa nicht aus bloßer Angst vor Sanktionen. Anwendungsversuch: Wie auch immer sich die Forderung der „Gesetzgebungsinstanz“ zu meiner inneren Überzeugung heranbildet: Leite ich daraus ab, dass eine Freizeitfahrt mit dem SUV mit meiner inneren Überzeugung nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, so wäre es folglich meine Pflicht, diese Fahrt zu unterlassen. Teilte jeder Mensch diese meine innere Überzeugung, so wäre unsere Fragestellung an dieser Stelle bereits gelöst und wir könnten die Abhandlung schließen. Tatsächlich trifft das empirisch evident nicht auf alle Menschen zu, sodass wir wohl unsere Suche nach einer robusteren, universal anwendbaren Pflichtenbegründung fortsetzen müssen. Wer könnte uns auf dieser Suche besser geleiten als Altmeister Immanuel Kant? 2 Imperative Immanuel Kant entwickelte seine Pflichtenethik u. a. in seiner 1785 veröffentlichten „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Darin geht es ihm um die Identifizierung von Prinzipien, die der Bestimmung des moralischen Handelns vorgelagert sind. Die Prinzipien bzw. Maximen oder auch Imperative bilden das (moralische) Gesetz, welches seinerseits den Willen nötigt. Pflicht ist bei Kant die Nötigung durch das moralische Gesetz, 6 das eine Handlung als für sich selbst notwendig vorschreibt, der zugrunde liegende Imperativ des Handelns ist insofern kategorisch. 7 Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, was erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird. 8 Imperative für das Mobilitätsverhalten? Woran aber erkennt der Mensch das moralische Gesetz? Nun, der Mensch findet die gesetzgebenden Imperative nicht einfach vor, er muss sie aufstellen. Wie dies geschehen kann, dafür bietet Kant zur Veranschaulichung eine Reihe von Formulierungen des kategorischen Imperativs an, er spricht von Formeln. Zwei sollen hier kurz behandelt und mit Blick auf unsere Ausgangsfrage interpretiert werden - und zwar die Naturgesetz-Formel und die Universalisierungsformel. Die Naturgesetz-Formel besagt: Handle so, dass die „Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ 9 Anwendungsversuch: Stellen wir uns zunächst in der Umkehrung der Maxime vor, jeder dürfe seinen Diesel-SUV mengenmäßig vollkommen unbeschränkt und verschwenderisch nutzen. Dies würde zweifellos über kurz oder lang zu einem Verzehr DOI: 10.24053/ IV-2024-0017 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 11 300 Jahre Kant POLITIK uns einen E-Pkw) tatsächlich und kompensieren den damit einhergehenden Treibhausgas-Verbrauch (im Folgenden kurz: THG). Unschwer lässt sich erkennen, dass wir beim Lösen von Pflichtenkollisionen dem moralischen Subjektivismus Raum gewähren müssen. 42 Mag die Pflicht zur sorgfältigen Lösung solcher Kollisionen ethisch noch außer Frage stehen - weder das Ergebnis meiner Gewissensentscheidung noch meiner spezifischen Abwägung sind in gleicher Weise moralisch vorbestimmt, erst recht nicht von außen beurteilbar. 43 5 Sollen, Wollen und Können 5.1 Sollen und Wollen - integrative Ethik Müssen wir zur Bildung unseres moralischen Kompasses eine strikte Auswahl treffen zwischen dem konsequentialistischen und dem deontologischen Ansatz? Geht es nach neueren Ansätzen der integrativen Ethik, so ist dies mitnichten der Fall. Vielmehr können sich unterschiedliche „Moralen“ logisch wie pragmatisch zu einem durchaus plausiblen Moralsystem zusammenfügen. Stellt sich die Ethik der Aufgabe, unterschiedliche Auffassungen moralischen Handelns zu entwickeln, die auch aus unterschiedlicher Perspektive akzeptierbar sind, 44 so kann dies in eine leistungsfähigere Ethik münden. 45 Denkbar wäre, die deontologische Ethik schlichtweg den weiteren Quellen der Moral hinzuzurechnen. 46 Was sind die Quellen einer solchen multiperspektivischen Moral, und welchen Platz findet darin die Pflichtenethik? Vier Quellen erscheinen uns hier relevant; mit dem zeitgenössischen US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel könnte man meinen, dass „zusammengenommen dieses Ensemble […] einen Großteil des Territoriums der unhinterfragten bürgerlichen Moral“ umfasst. 47 1. Die Strebensethik: In der „Strebensethik ist das Gute gut für den Akteur selbst“ 48 , während in der Sollensethik das Gute gut für den anderen ist. 2. Eine Sollensethik, die Rücksicht auf das Allgemeinwohl im Sinne des (modernen) Utilitarismus nimmt und die sich vereinfachend als teleologisch bezeichnen lässt. 49 3. Eine Sollensethik im Sinne universalistischer deontologischer Gründe. 4. Gruppenmoral: Gründe der Verpflichtung gegenüber nahestehenden Personen, der Gemeinschaft oder auch der Nation. 50 Zu 1.: Hans Krämer suchte 1992 den Nachweis, dass die heutige Moralvorstellung zu einem guten Teil auf einer gewissermaßen modernisierten Strebensethik Zweckbegriff die Lösung einer Kollision enthält.“ 36 Anwendungsversuch: In unserem Fall wäre bei Empfinden kollidierender Pflichten insoweit für den Autor keine der beiden Handlungen - Tun oder Unterlassen der SUV-Fahrt - als Pflicht ersichtlich, das Dilemma wäre auf dieser Handlungsebene dem Anwendungsbereich der Pflichtenethik vielmehr entzogen. Nicht ausgeschlossen hingegen erscheint eine höher gelagerte, „schlichtende“ Pflicht zum sorgfältigen Gewissensentscheid. 2.) Für einen weitreichenden abwägungsorientierten Ansatz, die Problematik konkurrierender Pflichten zu systematisieren, steht die Pflichtenlehre von William D. Ross - ein schottischer Philosoph des 20. Jahrhunderts. Er führt darin einen Katalog von sogenannten prima-facie- Pflichten ein. Damit meint er Pflichten, die aus ihrer gesamten Natur herrühren, von denen „wir wissen, dass sie wahr sind“. 37 Ross’ Pflichtenkatalog umfasst Treue- und Wiedergutmachungspflichten, Dankbarkeit, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Selbstvervollkommnung und die Pflicht, andere nicht zu schädigen. 38 Ross selbst nimmt innerhalb dieses Kataloges keine Hierarchisierung vor, allerdings lasse sich beurteilen, welche Pflicht mir in der spezifischen Situation mehr als jede andere als Pflicht schlechthin erscheint. 39 Insofern führt die Erwägung in meiner jeweiligen Situation zu einer Vorrangigkeit bzw. Pflichtenhierarchie. Entscheidend ist für Ross nicht das sichere Wissen, sondern lediglich die Vermutung, dass ein moralisches Abwägen möglicher Handlungen zu besseren Ergebnissen führt als ein Entscheiden ohne Nachdenken: „Mit dieser größeren Wahrscheinlichkeit müssen wir uns zufriedengeben“ 40 . Anwendungsversuch: Die deontologische Lösung unseres SUV-Dilemmas ergibt sich somit nach Ross durch individuelles Abwägen von prima-facie-Pflichten, die von unserer Entscheidung betroffen sein können: Treue und Dankbarkeit 41 auf der einen Seite, die Pflicht, niemanden (in der Zukunft) zu schädigen, auf der anderen Seite. Das Ergebnis entzieht sich jedoch jeder äußeren Beurteilung. 3.) Schließlich dürfte es in der moralischen Praxis nicht selten gelingen, das Pflichtendilemma pragmatisch aufzulösen, ohne den Anwendungsbereich der Pflichtenethik gänzlich zu verlassen. Das Vorgehen dazu ist uns vertraut: Wir verlegen unseren Ausflug auf einen anderen Tag mit weniger widrigen Umständen, die eine Nutzung des ÖPNV möglich machen, oder wir unternehmen die uns unausweichlich notwendig erscheinende Fahrt mit dem Diesel-Pkw (bzw. leihen keit des Menschen hat den Bestand seines Lebens zur notwendigen Voraussetzung. 31 Bereits in der antiken Stoa begegnet uns daher die sittliche, eigengerichtete Forderung nach dem individuellen Selbsterhalt. 32 In seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ weitet Hans Jonas den Adressatenkreis dieser Forderung auf die gesamte Menschheit aus. Mit Blick auf eine nicht zu Unrecht denkbare apokalyptische Perspektive spricht er der Menschheit das Recht zum Selbstmord ab. 33 Die unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein begründet seinen „ersten Imperativ“: „Auf dass eine Zukunft sei“. Es liegt auf der Hand, dass diese Forderung nicht im luftleeren Raum steht, sondern die Fortexistenz der Menschheit in Jonas Werttheorie eine zentrale Rolle einnimmt. Anwendungsversuch: Führt meine Willensstellungnahme dazu, die Würde des Menschen, den Fortbestand der Menschheit oder auch den Zustand der Natur in einem nachhaltigen Zustand als absolute Werte anzuerkennen, sie mir also mit meinem ganzen Ich zu eigen zu machen und dies auch von meinen Mitmenschen so erwarten, 34 so kann der Schutz dieser Werte für mich einen weitreichend imperativen Charakter ausmachen, sich gewissermaßen zu meiner Pflicht auswachsen. Wie weit diese Pflicht in mein konkretes Mobilitätsverhalten hineinreicht, wird in Abschnitt 5.2 noch zu erörtern sein. 4 Pflichten und Pflichtenkollisionen Gegen die Pflichtenethik Kants wird gelegentlich eingewendet, dass sie für den Dilemma-Fall einer Pflichtenkollision keine Anhaltspunkte liefert. Als Pflichtenkollisionen werden Konstellationen bezeichnet, in denen die Erfüllung einer Pflicht nur mit der Verletzung einer anderen einhergehen kann. Greifen wir auf unsere Fragestellung zurück, welche Pflichten für oder gegen eine Autofahrt ins Grüne zu Freizeitzwecken sprechen können: Auf der Pro-Seite können Pflichten wie Erholung (Beitrag zum Selbsterhalt) oder auch ein Ausflugsversprechen gegenüber Familie oder Freunden stehen. 35 Auf der Contra- Seite sei es die Pflicht, weder meinen Mitmenschen noch künftigen Generationen mit meinem Mobilitätsverhalten unnötig zu schaden. Auf drei Ebenen lässt sich derartigen Pflichtenkollisionen begegnen: kategorisch, abwägend oder pragmatisch. 1.) Der kategorische Ansatz findet sich bei Friedrich Schleiermacher, wie Kant ein Vertreter des Idealismus: Schleiermacher verlagert strenge Pflichten auf die Ebene, auf der es zur Auflösung einer Pflichtenkollision kommt: „Nur diejenige Handlung ist Pflicht, die in ihrem DOI: 10.24053/ IV-2024-0017 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 12 POLITIK 300 Jahre Kant deontologischer Perspektive dennoch das Gewissen, so könnte ich - in eigener Entscheidung - meine Emissionen zusätzlich kompensieren und so einen positiven Nettoeffekt für das Klima erwirken. Müsste ich mir in diesem Fall einen Ablasshandel vorwerfen lassen? Ich denke nicht, dass meine Offenheit für vernunftwidrige Argumente so weit gehen muss. Kann ich die mit meiner Freizeitfahrt gewonnene Energie im Sinne der Strebensethik nutzen, mir Gedanken über mein eigentliches Wollen zu machen? Welche geografischen Ziele z. B. möchte ich als Nächstes ansteuern, was erhoffe ich mir davon, und wie gestalte ich meinen Weg dorthin verträglich für mich und meine Mitmenschen? Zweifellos ja. 5.2 Sollen und Können Wir haben in Abschnitt 3 gesehen, dass aus objektiven, absoluten Werten ein kategorischer Imperativ folgen kann. Somit könnte in jeder moralischen, absolut wertbehafteten Entscheidungslage eine kategorische Tendenz liegen. Um es mit Hans Reiner zu sagen: „Objektive Werte erheben stets und überall ihre sittliche Forderung (dann kann es kein sittlich Indifferentes geben).“ 60 Folgt man dem, dann können nicht-strenge Forderungen nur entstehen, soweit ich in Erfüllung strenger Werte Zeit und Kraft dafür habe. 61 Damit hält zwar eine subjektive Kategorie Einzug in den an mich gerichteten, allumfassenden moralischen Anspruch, ob diese angesichts eines entgrenzten Anwendungsbereichs objektiver Werte jedoch pragmatisch überhaupt zum Tragen kommen kann, bleibt offen. Pragmatische moralische Überforderung zeichnet sich ab. Anders bei Kant, der wie bereits Marcus Tullius Cicero in seinem Spätwerk „De officiis“ zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten unterscheidet. „Vollkommene Pflichten sind solche, die ganz bestimmte Handlungen oder Handlungsunterlassungen gebieten (z. B. Selbstmordverbot); unvollkommene Pflichten sind solche, die zwar [ohne Widerspruch im Wollen, der Verf.] bestimmte Zwecksetzungen gebieten, (z. B. Wohltätigkeit), es dabei aber offen lassen, wie weit oder intensiv man diesen Zweck verfolgt und welche Mittel bei der Zweckrealisierung eingesetzt werden müssen.“ 62 Folgen wir Reiner und fragen uns (mit Kant), welche Art von Pflicht aus einem objektiven, absoluten Wert („Erhalt der Erde“) erwächst. Wieder nehmen wir Kants Umweg über die Negation: 63 Eine abwehrende Haltung „Ich will zum Erhalt der Welt nicht aktiv beitragen“ lässt sich sicherlich eine Zeit lang denken und aufrechterhalten, ohne dass die Welt untergeht, sie lässt sich allerdings nicht wollen, weil der Erhalt der der individuellen Verantwortung zu einer Besonderheit der Klimapolitik werden? 56 Eine mögliche Antwort darauf liefert die analytische Moralphilosophie. Ausgangspunkt ist das sogenannte (deontologische) Prinzip der Doppelwirkung. Es besagt in seiner traditionellen Ausprägung zunächst nur, dass eine Handlung aus moralischer Absicht schon dadurch unsittlich wird, dass sie ein moralisch unerwünschtes Ergebnis oder einen entsprechenden Nebeneffekt bewirkt. 57 Einen Schritt weiter lässt sich paradoxerweise diagnostizieren, dass einer aktiven Handlung mit persönlichem Bezug (ob im Tun oder Unterlassen) offenbar ein höheres moralisches Gewicht zukommt als dem Nicht-Tun einer guten, prima facie unpersönlichen Handlungsoption mit gleicher Wirkung. In verständlicheren Worten: Ich muss in Kauf nehmen, dass ich wegen meiner Freizeitfahrt mit dem Diesel-SUV moralisch gescholten werde, wohingegen niemand auf die Idee kommen würde, mich dafür zu schelten, dass ich kein Geld dafür spende, damit ein Mensch seine dieselbetriebene Rikscha gegen eine batteriebetriebene ersetzen kann. Und es scheint so, als würde mein Gewissen diesen Unterschied sehr gut kennen. 58 Mehr noch: In dieser Sichtweise kann ich nicht einmal hoffen, dass mir die THG-Kompensation meiner SUV-Fahrt, die aufgrund des oben beschriebenen Wasserbetteffekts ohnehin klimairrelevant ist, moralisch positiv angerechnet wird, obwohl diese im Endeffekt einen positiven Nettoeffekt auf das Klima hätte. Vielmehr muss ich mit dem Vorwurf rechnen, ich hätte mir die SUV- Fahrt mit einem „Ablasshandel“ erkauft. Wie kann das sein? Ganz offensichtlich betont diese spezielle deontologische Perspektive nicht den - in unserem Beispiel (schon ohne Kompensation) neutralen - Wert einer Tat, sondern vielmehr die Tatsache, dass man sie selbst ausführt. 59 Wir müssen uns diese spezifische deontologische Perspektive nicht zu eigen machen, sollten sie aber offenbar als existent zur Kenntnis nehmen, auch wenn es dem konsequentialistisch denkenden Umweltökonomen gewiss schwerfällt. Was folgern wir aus dieser Pluralität moralischer Instanzen? Anwendungsversuch: Aus utilitaristischer Perspektive muss mich meine SUV- Fahrt nicht grämen. Dies nicht deswegen, weil sie ggf. quantitativ kaum ins Gewicht fällt, sondern weil meine Fahrt dem THG- Handelssystem Emissionen „entnimmt“, die von anderen nicht mehr in Anspruch genommen werden können. „Unter dem Strich“ geschieht ökologisch also rein gar nichts. Plagt mich aus tief verwurzelter bestehen kann. Diese könne nicht einmal bestimmt erstarrt bleiben, sondern müsse postteleologisch angelegt sein, also die wirklichen Ziele oder bevorzugten Ziele des Wollens finden helfen. 51 Für ein gutes und gelingendes Leben muss sich der Mensch zu seiner Lebenszeit und zur Welt verhalten. So wundert es nicht, dass Krämer auch die Umweltethik primär aus der strebensethischen Klugheitslehre herleitet, denn die Betroffenen einer geschädigten Umwelt sind zunächst einmal wir selbst. Moralische Aspekte im Sinne einer Sollensethik treten zu diesem Gebot der Klugheit „nur nachträglich“ hinzu - sie betreffen: 52 y disproportionale Anteile an Umweltschädigungen: Nicht selten entsteht die Umweltproblematik aus einem Verantwortungsgefälle zwischen Verursacher und Betroffenen, von Ökonomen als Phänomen der „externen Kosten“ bezeichnet; y die Notwendigkeit, unsere Sorge im Sinne einer Zukunftsmoral auf künftige Generationen zu erweitern. 53 Somit verbliebe Raum für eine Sollensethik, soweit diese nicht von einer zunehmenden Verrechtlichung der Moralsphäre verdrängt wird. 54 Die zunehmende Verrechtlichung wiederum schafft Raum für die Strebensethik, so das paradoxe Ergebnis Krämers. Übersetzt: Je stärker der Staat regulierend in das Mobilitätsgeschehen eingreift, desto mehr moralischer Freiraum wird mir gegeben, im erlaubten Rahmen meine Mobilität so zu gestalten, wie sie mir und meinen Mitmenschen guttut. Zu 2. Eine Sollensethik im Sinne eines (modernen) Utilitarismus hätte sicherlich zu berücksichtigen, dass Deutschland die THG-Emissionen aus dem Verkehr 2021 dem Emissionshandel und damit einer Obergrenze unterworfen hat. Diese Begrenzung führt dazu, dass THG-Emissionen aus unserer SUV-Fahrt die verbleibende zulässige Emissionsmenge reduzieren, oder mit anderen Worten: Die von uns verbrauchten Ressourcen werden den anderen Verkehrsteilnehmern entzogen. Umgekehrt führt ein Verzicht auf die Autofahrt lediglich dazu, dass THG von jemand anderem freigesetzt werden können. Wambach bezeichnet dies als „Wasserbetteffekt“. Plagt mich nach fröhlicher Freizeitfahrt dennoch das schlechte Gewissen, so könnte ich die von mir verursachten Emissionen zusätzlich marktüblich kompensieren, sodass im Endeffekt ein positiver Nettoeffekt auf das Klima entstehen würde. 55 Zu 3. Eine Sollensethik im Sinne universalistischer deontologischer Gründe: Wie aber kommt es, dass sich trotz Kenntnis derart geltender Emissionsobergrenzen unser Gewissen rührt? Wie konnte die Betonung DOI: 10.24053/ IV-2024-0017 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 13 300 Jahre Kant POLITIK [6] Garvey, J. (2010): Geistiger Klimawandel, Wie uns die Erderwärmung zum Umdenken zwingt, Wiesbaden [7] Gehlen, A. (2016): Moral und Hypermoral, Eine pluralistische Ethik, 7. Aufl., Frankfurt/ M. [8] Höffe, O. (2012): Kants Kritik der praktischen Vernunft, Eine Philosophie der Freiheit, München [9] Höffe, O. (2014): Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik, München [10] Horn, C. (2020): Einführung in die Moralphilosophie, 3. Aufl., Freiburg/ München [11] Jonas, H. (2020): Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 8. Aufl., Frankfurt/ M. [12] Joas, H. (2019): Die Entstehung der Werte, 8. Aufl., Frankfurt/ M. [13] Kant, I. (1786): Grundlegung zur Methaphysik der Sitten, 2. Aufl., Riga (Abdruck in W. Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant, Werke, Darmstadt 1998, Bd. IV). [14] Krämer, H. (2018): Integrative Ethik, 2. Aufl., Frankfurt/ M. [15] Muders, S., Schwind, P. (2021): Das Prinzip der Doppelwirkung, in: Dies. (Hrsg.): Analytische Moralphilosophie, Grundlagentexte, Frankfurt/ M., S. 373-380 [16] Nagel, T. (2022): Der Blick von Nirgendwo, 4. Aufl., Frankfurt/ M. [17] Nussbaum, M. (2020): Kosmopolitismus. Revision eines Ideals, Darmstadt [18] Pogge, T. W. (2010): The Categorial Imperative, in: O. Höffe (Hg.): Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/ M., S. 172-193 [19] Reiner, H. (1951): Pflicht und Neigung, Die Grundlagen der Sittlichkeit, erörtert und neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant und Schiller, Meisenheim/ Glan [20] Richter, P. (2013): Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein systematischer Kommentar, Darmstadt [21] Schleiermacher, F. A. (1911): Grundriss der philosophischen Ethik (Grundlinien der Sittenlehre), herausgegeben von A. Twesten, Leipzig [22] Schönecker, D., Wood, A. W. (2011): Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, 4. Aufl., Paderborn [23] Schriefel, A. (2019): Stoische Philosophie. Eine Einführung, Ditzingen [24] Sinnott-Armstrong, W. (2005): It’s not my Fault, in: Ders., W.; Howarth, R. (Hrsg.): Perspectives on Climate Change: Sciene, Economics, Politics, Ethics, Milford, S. 285-307 [25] Steigleder, K. (2023): Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, Hamburg [26] Stoker, H. G. (1925): Das Gewissen, Bonn [27] Tegner, H. (2022): Ist meine Mobilitätsentscheidung eine Frage der Moral? In: Internationales Verkehrswesen 74, H. 4, S. 74-77 [28] von der Pfordten, D. (2023): Menschenwürde, 2. Aufl., München [29] Wambach, A. (2022): Klima muss sich lohnen, Ökonomische Vernunft für ein gutes Gewissen, Freiburg Verbrauch von Ressourcen als vernunftwidrig anzusprechen, weil dieser nicht widerspruchsfrei - heute würden wir sagen: nicht nachhaltig - für alle Menschen zu denken ist. Allerdings mündet diese Feststellung noch nicht in moralisch allgemeinverbindliche Handlungsanweisungen für jede einzelne Mobilitätsentscheidung. Wir können jedoch guten Wissens festhalten: 1. Es existiert kein moralisches Recht auf eine unbeschränkte fossile Individualmobilität. 2. Pflichten der Vernunft sowie die Achtung der Menschenwürde heutiger und künftiger Menschen verpflichten uns auf eine sorgfältige Abwägung unseres Mobilitätsverhaltens. Dies schließt weder aus, konkurrierende Pflichten oder wirksame staatliche Rahmenbedingungen im Einzelfall mitzubedenken und so zu dem Ergebnis zu kommen, dass bestimmte Mobilitätshandlungen für mich erlaubt sind. Noch schließt es aus, den staatlich gesetzten Rahmen als unzureichend zu erachten und an mein Handeln höhere Ansprüche anzulegen oder von mir verursachte Emissionen zu kompensieren. Es schließt jedoch moralisch aus, mich einerseits gegen wirksame, verhältnismäßige staatliche Maßnahmen wie einen höheren CO 2 -Preis einzusetzen und gleichzeitig die Notwendigkeit individueller Selbstbeschränkung zu negieren, auch wenn starke psychologische Motive diese Verdrängung begünstigen. 67 3. Je mehr Mittel mir zu einer CO 2 -ärmeren Fortbewegung zur Verfügung stehen - seien sie finanzieller Art oder in Form eines guten ÖPNV-Angebotes -, desto strenger richtet sich die Forderung an mich, hiervon Gebrauch zu machen. Und tue ich dies, so ist dies kein Anlass, mich moralisch auf einem „hohen Ross“ zu fühlen. 4. Mit zunehmender Bedrohlichkeit des Klimawandels nimmt die Dringlichkeit der Forderungen zu, und sie beschränken sich keineswegs auf das Mobilitätsverhalten. ■ LITERATUR [1] Bielefeldt, H. (1998): Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt [2] Braun, F., Baatz, C. (2017): Klimaverantwortung, in: L. Heidbrink, C. Langbehn und J. Loh (Hrsg.): Handbuch Verantwortung, Wiesbaden, S. 855- 886 [3] Brown, W. (2023): Nihilistische Zeiten. Denken mit Max Weber, Berlin [4] Feldhaus, S. (1998): Verantwortbare Wege in eine mobile Zukunft, Grundzüge einer Ethik des Verkehrs, Hamburg [5] Friesen, V. (2013): Die Idee der Verallgemeinerung in der Ethik, Würzburg Welt auf Dauer dem bloßen Zufall überlassen bliebe. Eine unvollkommene Pflicht, seinen Beitrag zur Erhaltung der Welt zu leisten, läge somit vor. Was aber ist, wenn der Ernst der Weltlage so weit gediehen ist, dass die abwehrende Haltung als allgemeine Verhaltensweise über kurz oder lang den globalen Kollaps herbeiführen könnte? Dann hätten wir womöglich einen moralischen Kipppunkt erreicht, an dem die unvollkommene Pflicht zum Welterhalt zu einer vollkommenen wird. 64 Bemerkenswerterweise kommt Reiner ebenfalls zu dem Ergebnis, dass unter bestimmten Voraussetzungen unvollkommene Pflichten zu vollkommenen werden können, allerdings macht er dies vorrangig an individuellen Merkmalen fest: Handlungen können aufgrund der persönlichen Lage für die „Begünstigten zu einem strengen Sollen werden“ 65 . In einem anderen Zusammenhang erkennt er die persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten als Faktoren einer höheren Dringlichkeit von Werten und korrespondieren Handlungen an. 66 Anwendungsversuch: Es scheint auch in der Ethik „Kipppunkte“ zu geben, ab denen unvollkommene Pflichten zu vollkommenen werden. Diese liegen zum einen in besonderen persönlichen Fähigkeiten, Möglichkeiten oder Lagen des Einzelnen: Wer über mehr davon verfügt, unterliegt einer strengeren moralischen Verpflichtung. Zum anderen markiert der zu erwartende Zustand der Erde einen Kant’schen Kipppunkt - er entsteht an der Frage, ob der Ernst der Klimaveränderung noch einen Widerspruch im Wollen oder schon einen Widerspruch im Denken hervorruft. Über Letzteres mag sich - mit im Zeitablauf wohl leider abnehmender Tendenz - noch streiten lassen. Unstrittig ist, dass die Menschen in den Ballungsräumen häufig über ein sehr gutes und günstiges Angebot an ÖPNV und Radwegen verfügen, das zu nutzen wenig beschwerlich ist. Sie wären nach unseren Ergebnissen viel eher in der Pflicht, diese zu nutzen, als die Menschen im ländlichen Raum, und es stünde ihnen nicht einmal zu, sich dabei moralisch besser zu fühlen als jene, die über diese Möglichkeiten nicht verfügen. Umgekehrt gebieten unvollkommene Mobilitätspflichten den Menschen im ländlichen Raum, ihre Mobilitätsentscheidung zumindest auf den Prüfstand zu stellen, wenn zu passender Gelegenheit zumutbare Alternativen bestehen. Diese Forderung wiederum wird zweifellos auch unser SUV-Freizeitfahrer gegen sich gelten lassen müssen. 6 Ergebnis Die Pflichtenlehre Kants und seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger erlaubt uns, Verhaltensweisen wie einen rücksichtlosen DOI: 10.24053/ IV-2024-0017 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 14 POLITIK 300 Jahre Kant ENDNOTES 1 Vgl. Sinnott-Armstrong (2005), wobei sich die Frage naturgemäß auf andere fossile Pkw-Fahrten übertragen lässt. 2 Zur Auseinandersetzung hiermit vgl. Tegner (2022). 3 Wir folgen damit dem Ratschlag von Höffe, neue Sachverhalte nach Möglichkeit mithilfe einer im Prinzip bekannten Moral zu untersuchen, vgl. Höffe (2014), S. 152 4 Der Begriff der Pflichtenethik wird mit dem der deontologischen Ethik häufig gleichgesetzt, was indes nicht unumstritten ist. So lassen sich aus der teleologisch angelegten utilitaristischen Ethik durchaus Handlungsanweisungen ableiten, die sich als Pflicht verstehen. Gleichwohl sollen die Begriffe Pflichtenethik und deontologische Ethik zum Zwecke dieser Abhandlung synonym verwendet werden. 5 Vgl. Schönecker/ Wood (2011), S. 106. 6 Frei gefasst: Der Wille entscheidet sich für die Vernunft - die Vernunft nötigt sodann den Willen. Es liegt nahe, dass die Möglichkeit der gleichzeitigen Geltung von Autonomie und Kategorizität von späteren Autoren bestritten wird, vgl. z.-B. Krämer (2018), S. 16, mit extremer Hervorhebung einer unbegrenzten Autonomie zuvor bei Nietzsche, vgl. MacIntyre (1987), S. 155. 7 Vgl. Kant (1786), S. B 37 ff., 52. 8 Vgl. Kant (1786), S. B 14. 9 Kant (1786), B 52, vgl. auch B 71. 10 So kommen Schönecker/ Wood (2011) zu dem Ergebnis, dass die Universalisierungsformel überhaupt nicht geeignet ist, konkrete Pflichten aufzustellen, vgl. S. 127 ff. 11 Vgl. u.- a. Kant (1786), S. B 52; die hier verwendete Version ist der synthetischen Formulierung von Schönecker/ Wood (2011). S. 130, entlehnt. 12 Zur weiteren Unterscheidung vgl. Ausführungen in Abschnitt 5.1. Zur Zulässigkeit, bei der Anwendung der Maximen wie schon Kant auf institutionelle Kenntnis zurückzugreifen, vgl. Pogge (2010), S. 189 ff. 13 Tatsächlich ist der deutsche Gesetzgeber nicht untätig geblieben und hat die Treibhausgasbzw. THG- Emissionen aus dem Verkehr 2021 dem Emissionshandel und damit einer Obergrenze unterworfen, vgl. Wambach (2022), S. S. 25 ff. Wir kommen in Abschnitt 5.1 darauf zurück. 14 Zum Verhältnis des logischen Widerspruchs zur Personenverallgemeinerbarkeit des Verhaltensmaßstabes vgl. Friesen (2013), S. 99, Höffe (2012), S. 127. 15 Vgl. Kant (1786) S. B14. Achtung ist für Kant zwar ein Gefühl, jedoch als solches durch den Vernunftbegriff selbstgewirkt und daher von einfachen Neigungen verschieden, vgl. S. B 16 f. (2. Fußnote). 16 Vgl. Reiner (1951), S. 138 oder Joas (2019), S. 180 unter Bezug auf den US-amerikanischen Philosophen J. Dewey. 17 Vgl. Joas (2019), S. 58 ff. Die Vorstellung Schelers einer materialen Werttheorie, wonach Werte unverrückbar per se existieren, klammern wir hiermit aus; zur näheren Auseinandersetzung vgl. Joas (2019), Kapitel 6. 18 Vgl. Reiner (1951), S. 126 ff. Aufgezwungene Vorstellungen schließen wir mit dieser Definition bewusst aus. 19 Vgl. Reiner (1951), S. 132, 141. Hiervon zu unterscheiden sind relative Werte, die subjektiv sehr wünschenswert sein können, dies aber nicht für jedermann sind. 20 Vgl. Gehlen, der die familiäre Erziehung darin einbezieht; zu Charakteren als kulturellem und moralischem Gruppenideal vgl. MacIntyre (1987), S. 49 ff., 55. 21 Max Weber weist dem politischen Führer die Aufgabe zu, diesen Kampf um Werte zu führen, vgl. Brown (2023), S. 75, 115. 22 Vgl. Stoker (1925), S. 138 ff., 142 ff. Lehne ich allerdings alle bekannten Entstehungsgründe und Vermittlungsversuche ab, dann stehe ich mit Nietzsche unweigerlich vor dem Nichts, vgl. MacIntyre (1987), S. 155. 23 Vgl. Reiner (1951), S. 112 ff. 24 Kritisch z.-B. MacIntyre (1987); S. 98 f., allerdings sind die Menschenrechte seit 1948 in der UN-Deklaration deklariert und dies auch universalistisch begründbar, z.-B. von Bielefeldt (1998) S. 115 ff, 150 ff., oder strebensethisch formal bei Krämer (2018), S. 92 f. 25 Vgl. von der Pfordten (2023), S. 9 f., 54 ff. 26 Vgl. Kant (1786), B 71, 78 sowie die Kommentierung von Steigleder (2023), S. 154 ff. 27 Vgl. Richter (2013), S. 94. 28 Vgl. Kant (1786), B 64 f. 29 Vgl. von der Pfordten (2023), S. 71. 30 Vgl. Nussbaum (2020), S. 202 ff. 31 Vgl. von der Pfordten (2023), S. 64. 32 Vgl. Schriefel (2019), S. 123 ff. 33 Vgl. Jonas (2020), S. 80 ff. 34 Vgl. Reiner (1951), S. 200. 35 Vereinfachend sei angenommen, dass zur Fahrt mit dem Auto am fraglichen Tag keine ernsthaften Alternativen mit Rad oder dem ÖPNV zur Verfügung stehen. 36 Schleiermacher (1911), S. 191, dort als weitere Voraussetzung: „[…] die so konstruierten Zweckbegriffe selbst aber stehen nicht wieder in Kollision miteinander“. Es verwundert insofern nicht, dass Schleiermacher den universellen Eintritt in die menschliche Gemeinschaft als Rechtspflicht ansieht - wer sich außerhalb stellt, begeht eine Pflichtverletzung. Die Gemeinschaft versteht Schleiermacher sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Dimension als unbeschränkt, sie umfasst den ganzen Erdkreis, vgl. ders. S. 37 f., 58. 37 Ross (2002), S. 32, Fußnote 30. In diesem Wissen offenbart sich das „Ergebnis des moralischen Nachdenkens vieler Generationen“ (S. 59). 38 Vgl. Ross (2002), S. 32 f. sowie auch den Pflichtenkatalog bei Nagel (2022), S. 304/ 305 39 Vgl. Ross (2002), S. 30. 40 Ross (2002), S. 47. 41 Treue und Dankbarkeit gegenüber denjenigen, denen ich die Tour versprochen habe, aber auch Dankbarkeit für meine Gesundheit, der eine Erholung guttut. 42 Zur Begründung vgl. Nagel (2022), S. 15 ff. 43 Vgl. z.-B. Braun/ Baatz (2017), S. 872, wonach sich der nicht kodifizierte, rein dem Gewissen unterworfene Bereich zweifellos jeder intersubjektiven Überprüfbarkeit oder gar Kontrolle entzieht. Oder in den Worten Schleiermachers (1911): Eine vollkommene Verletzung der Pflicht stellt sich nur dann ein, wenn ich gegen mein Gefühl nicht aus vollständig sittlichem Bewußtsein gehandelt habe. Dies „lässt sich auf keine Weise äußerlich beurteilen“, S. 191. Vgl. auch Stoker (1925), S. 120. 44 Vgl. Nagel (2022), S. 261 45 So der Anspruch von Krämer (2018), S. 9, 94 sowie Nagel (2022), S. 260. 46 Vgl. Nagel (2022), S. 318. 47 Nagel (2022), S. 284 f. 48 Krämer (2018), 132. Nagel (2022) bezeichnet diese als „Gründe der Autonomie“ (S. 284) 49 Krämer selbst rät, diesen Begriff aufgrund seiner Mehrdeutigkeit zu vermeiden (ders., S. 81 ff.). 50 Vgl. Nagel (2022), S. 384 f. Zu Herkunft und Bedeutung der Gruppenmoral vgl. auch Gehlen (2016), S. 83 ff., Krämer (2018) 37 ff. 51 Vgl. Krämer (2018), S. 127 ff. 52 Vgl. Krämer (2018), S. 270 f. 53 Krämer entwickelt entsprechend in Kapitel V. Ansätze einer Umweltethik als spezieller Ethik, die mit Sachkenntnis und Anspruch auf Eigenständigkeit zu entwickeln sei, vgl. ders., S. 261 ff. 54 Vgl. Krämer (2018), S. 87. 55 Vgl. auch Wambach (2022), S. 38. Wir abstrahieren im Rahmen diese Abhandlung von der Problematik, dass die Emissionsgrenzen möglicherweise unzureichend bemessen sind oder von Ausnahmetatbeständen unterlaufen werden. 56 Vgl. Wambach (2022), S. 8, der den Vergleich zur Arbeitslosigkeit heranzieht. Auch dort verfügt jeder Konsument über minimale Steuerungsmöglichkeiten zu deren Reduzierung, jeder Arbeitgeber ohnehin. Es käme gleichwohl niemand auf die Idee, die individuelle Verantwortung als wesentlichen Baustein der Arbeitslosigkeit zu bemühen. 57 Vgl. Muders/ Schwind (2021), S. 373 ff. sowie Nagel (2022), S. 308 f. 58 Vgl. Reiner (1951), S. 116, zum Gewissen als Stimme des Nicht-Sollens, nicht des Sollens, sowie Stoker (1925), S. 199, wonach das gute Gewissen nicht die Gutheit betont, sondern die Nicht-Schlechtheit. 59 Vgl. Horn (2020), S. 173 f. 60 Reiner (1951), S. 188. 61 Vgl. Reiner (1951), S. 192 ff. 62 Schönecker/ Wood (2001), S. 131 f. Vgl. auch Kant (1786), S. B53, B58. 63 Vorlage hierfür ist bei Kant die (unvollkommene) Pflicht zur Talententfaltung, vgl. ders. (1786), S. B 55 f. Auf das Verkehrsgeschehen bezogen z.-B. Feldhaus (1998), S. 286 ff. 64 Es lässt sich erahnen, dass allein aus der Beurteilung der klimabedingten Gefährdung der Welt, wie wir sie kennen, erhebliches Streitpotenzial erwachsen kann, welches uns u.-a. in der Auseinandersetzung über die Aktionen der sogenannten „Letzten Generation“ begegnet. 65 Reiner (1951), S. 189. 66 Vgl. Reiner (1951), S. 173. 67 Vgl. Garvey (2010), S, 141 ff. Eingangsabbildung: © iStock.com/ Canetti Henning Tegner,Dr., Geschäftsführer des inhabergeführten Beratungsunternehmens KCW GmbH,Berlin Tegner@kcw-online.de
