eJournals Internationales Verkehrswesen 76/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2024-0022
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2024
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Deutschlandticket – Impulsgeber für nachhaltige Mobilität?

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2024
Marvin Helferich
Josephine Tröger
Elisabeth Dütschke
Das Deutschlandticket ermöglicht seit Mai 2023 bundesweit Zugang zum ÖPNV zu einem monatlichen Preis von 49 €. Aktuell wird es von ca. 10 Millionen Menschen genutzt. In diesem Beitrag zeigen wir auf Basis von Daten einer halbjährlich stattfindenden Befragung, dass der Besitz bzw. die Kaufabsicht des Deutschlandtickets mit einer erhöhten Nutzung des ÖPNV und einer positiveren Einstellung gegenüber dem ÖPNV zusammenhängt. Auch subjektive Mobilitätsbedürfnisse werden durch das Deutschlandticket stärker erfüllt.
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DOI: 10.24053/ IV-2024-0022 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 30 D em öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) kommt eine Schlüsselrolle für ein zukunftsorientiertes, nachhaltiges Verkehrssystem zu. Ein guter ÖPNV kann Mobilität bedürfnisorientiert und umweltfreundlich bereitstellen - über kollektiven Transport in modernen Fahrzeugen und mit effizienten umweltfreundlichen Antrieben. Zudem ist der ÖPNV ein Instrument der Daseinsfürsorge und zentral für Menschen, für die individuelle Mobilität aus verschiedenen Gründen nicht möglich oder leistbar ist. Somit ermöglicht er auch gesellschaftliche Teilhabe. In der aktuellen gesellschaftlichen Wahrnehmung wird die Diskussion um den ÖPNV einerseits dominiert vom Deutschlandticket als große Innovation, andererseits fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf mangelnde Zuverlässigkeit, Kapazitätsengpässe auf bestimmten Strecken und unzureichende Abdeckung insbesondere in ländlichen Regionen. Auf dieser Basis wird immer wieder in Frage gestellt, ob der ÖPNV künftig eine größere Rolle im Verkehrssystem spielen kann. Dieses ist aktuell dominiert von der individuellen Automobilität - mit all den damit verbundenen Nachteilen wie zahlreichen Um- Deutschlandticket - Impulsgeber für nachhaltige Mobilität? Ergebnisse aus der MobilKULT-Panelstudie zu Mobilitätsgewohnheiten Deutschlandticket, Panelstudie, Mobilitätsverhalten, Mobilitätsgewohnheiten, Bedürfnisse Das Deutschlandticket ermöglicht seit Mai 2023 bundesweit Zugang zum ÖPNV zu einem monatlichen Preis von 49 €. Aktuell wird es von ca. 10 Millionen Menschen genutzt. In diesem Beitrag zeigen wir auf Basis von Daten einer halbjährlich stattfindenden Befragung, dass der Besitz bzw. die Kaufabsicht des Deutschlandtickets mit einer erhöhten Nutzung des ÖPNV und einer positiveren Einstellung gegenüber dem ÖPNV zusammenhängt. Auch subjektive Mobilitätsbedürfnisse werden durch das Deutschlandticket stärker erfüllt. Marvin Helferich, Josephine Tröger, Elisabeth Dütschke MOBILITÄT  Wissenschaft DOI: 10.24053/ IV-2024-0022 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 31 Wissenschaft MOBILITÄT weltbelastungen und hohem Platzbedarf, aber auch den großen Vorteilen einer flexiblen und bequemen Mobilität. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, aktuelle gesellschaftliche Wahrnehmungen zum Zustand und Potenzial des ÖPNV auf empirischer Basis zu beleuchten. Die Datengrundlage bildet eine fortlaufende Befragungsstudie des Fraunhofer ISI. Teilnehmende sind nach Repräsentativitätskriterien ausgewählte Personen aus Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern. Die Befragung wurde bisher dreimal mit jeweils mehr als 2000 Teilnehmenden durchgeführt (Bild 1). Kernthemen sind das individuelle Verkehrsverhalten, Absichten zur künftigen Mobilität, Einstellungen zu verschiedenen Verkehrsmitteln sowie die Wahrnehmung hinsichtlich politischer Maßnahmen im Bereich Verkehr. Für den vorliegenden Artikel erfolgt eine Teilauswertung mit Fokus auf den ÖPNV und das Deutschlandticket. Hierbei interessieren neben der Verbreitung des Deutschlandtickets insbesondere dessen Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten sowie die Einstellung gegenüber dem ÖPNV. Aktuell wird die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland von der Automobilität dominiert, auch wenn sich zuletzt ein Rückgang auf 47 % der Wege in den jährlichen Studien des Deutschen Mobilitätspanels (MOP) [1] zeigte, nachdem ihr Anteil von 2016-2021 stets über 50 % lag. Der Anteil der Wege mit dem ÖPNV lag im MOP 2022 bei 10 % und damit wieder nahe an den Werten von 11 % aus den Jahren 2018 und 2019. Während der Pandemie war der Anteil auf 8 bzw. 9 % gesunken. Die Zeitkartenbesitzquote lag für die Bevölkerung ab 18 Jahren bei 20 %. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit das Deutschlandticket dazu beiträgt, den Modal Split zu verändern. Bisherige Studien setzen hier unterschiedliche Schwerpunkte und Interpretationen, insgesamt deuten sich in Studien vom Sommer 2023 aber Verschiebungen auf niedrigem Niveau vom Auto zum ÖPNV an [2-4]. Panelstudie MobilKULT Die Panelstudie MobilKULT 1 , deren Daten hier verwendet werden, untersucht Mobilitätsgewohnheiten und ihre Veränderungen in Baden-Württemberg und Mecklenburg- 1 https: / / www.isi.fraunhofer.de/ mobilkult Vorpommern. Hierzu nehmen zweimal im Jahr Menschen aus diesen beiden Bundesländern an einer Online-Befragung teil. Ziel ist es, genauer zu verstehen, wie Gewohnheiten, Infrastrukturen und kulturelle Faktoren in Bezug auf Mobilität zusammenwirken und wiederum Einstellungen und Verhalten beeinflussen können. Zudem untersucht die Studie die Einstellungen der Teilnehmenden zu bestimmten politischen Maßnahmen im Mobilitätsbereich. Eine dieser Maßnahmen ist das Deutschlandticket, das seit Mai 2023 die Nutzung des ÖPNV in ganz Deutschland (und teilweise auch grenzüberschreitend) zum Preis von aktuell 49 € pro Monat ermöglicht. In diesem Beitrag möchten wir auf Basis der Daten der ersten drei Wellen unserer Panelstudie, die im Winter 2022/ 2023, im Sommer 2023 bzw. im Winter 2023/ 2024 stattfanden, Ergebnisse zur Verbreitung und Auswirkungen des Deutschlandtickets darstellen und diskutieren. Die erste Welle erfolgte somit nach Ende des 9-Euro-Tickets und vor Einführung des Deutschlandtickets; während der beiden anderen Wellen war das Deutschlandticket verfügbar. Teilnehmende Bild 1 zeigt den bisherigen und zukünftigen Studienverlauf. Die Teilnehmenden werden jeweils in Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern rekrutiert, um eine möglichst gute Verteilung auf städtische, vorstädtische und ländliche Gebiete zu erreichen. Die Einteilung in diese drei Regionstypen erfolgte über das Zusammenführen der durch die Teilnehmenden angegebenen Postleitzahlen mit Urbanisierungsdaten von Eurostat [5]. Dort gelten Bereiche mit mehr als 1.500 Einwohnenden/ km² als städtisch, zwischen 300 und 1.500 Einwohnenden/ km² als vorstädtisch, und Bereiche mit weniger als 300 Einwohnenden/ km² als ländlich. Durch die Berücksichtigung dieser Regionstypen sollen unter anderem unterschiedliche Mobilitätsvoraussetzungen (z. B. ÖPNV-Verfügbarkeit) abgebildet werden. In allen Wellen werden bei der Rekrutierung der Teilnehmenden Quoten implementiert, sodass die Stichprobe die Bevölkerung von Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern repräsentativ auf den Merkmalen Alter, Geschlecht, Region (Regierungsbezirk bzw. Landkreis) und Einkommen abbildet. Aufgrund von Ausschlüssen (z. B. wegen nicht bestandener Aufmerksamkeits-Checks) umfassen die Welle 1 Welle 2 Welle 3 Welle 4 Welle 5 Winter 22/ 23 Sommer 23 Winter 23/ 24 Frühjahr 24 Herbst 24  N = 2445 (34% MV)  Repräsentativ nach Geschlecht, Alter & Region in BW & MV  N = 2526 (32% MV)  N W1-W2 = 1234  Repräsentativ nach Region in BW & MV  N = 2279 (28% MV)  N W2-W3 = 1197  N W1-W3 = 829  Repräsentativ nach Geschlecht & Region in BW, in MV für die meisten Regionen 32% 39% 29% 34% 41% 25% 33% 41% 26% Städtisch Vorstädtisch Ländlich Legende: • N W1-W2 = Teilnehmende, die an Welle 1 und Welle 2 teilgenommen haben • N W2-W3 = Teilnehmende, die an Welle 2 und Welle 3 teilgenommen haben • N W1-W3 = Teilnehmende, die an allen drei Wellen teilgenommen haben Bild 1. Die Panelstudie MobilKULT im Überblick DOI: 10.24053/ IV-2024-0022 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 32 MOBILITÄT  Wissenschaft (Preis, vorhandene Infrastruktur) möglicherweise bei 20-25 % der Bevölkerung erschöpft ist. Diese Daten sind für städtische und vorstädtische Gebiete in etwa in Einklang mit den Daten des VDV [3] und liegen für ländliche Gebiete etwas darüber. Allerdings berücksichtigt der VDV auch Schüler: innentickets, während in MobilKULT Personen ab 16 Jahren teilnehmen und die Gruppe der Schüler: innen somit unvollständig abgebildet ist. Auswirkungen des Deutschlandtickets auf die aktuelle und zukünftige ÖPNV-Nutzung Die Nutzung des ÖPNV wurde über den Anteil des ÖPNV (d. h. Bus, Straßenbahn oder U-Bahn) an den wöchentlich pro Person zurückgelegten Wegen erfasst. Dieser Wert konnte zwischen 0 % und 100 % liegen. Im Durchschnitt nutzten die Teilnehmenden den ÖPNV in Welle 3 für 12 % ihrer Wege in einer Woche. Dieser Anteil ist in der Stadt (21 %) deutlich höher als in den anderen Regionstypen. Diese Ergebnisse ähneln den Ergebnissen der MiD 2017. Dort wurden bundesweit ca. 10 % und in finalen Stichproben etwas mehr Frauen, etwas weniger Personen in der niedrigsten und höchsten Altersgruppe sowie weniger Personen in der niedrigsten und höchsten Einkommenskategorie, als es repräsentativ für die beiden Bundesländer wäre. Verbreitung des Deutschlandtickets Das Deutschlandticket ist unter den Teilnehmenden der Studie sehr beliebt und die Besitzquote ist über die Zeit angestiegen. In Welle 2 waren 17,1 % der Teilnehmenden im Besitz eines Deutschlandtickets, und dieser Anteil ist in Welle 3 auf 20,8 % angestiegen. Wie Bild 2 zeigt, ist das Ticket in städtischen Regionen stärker verbreitet als in den anderen Regionstypen, aber in allen Regionstypen ist die Verbreitung zwischen Welle 2 und Welle 3 angestiegen. Gleichzeitig ging der Anteil derer, die das Deutschlandticket zum Zeitpunkt der Befragungen (noch) nicht besaßen, aber vorhatten, es zu kaufen, zurück. Letzteres weist darauf hin, dass das Marktpotenzial des Deutschlandtickets mit den aktuellen Rahmenbedingungen 25% 32% 16% 18% 9% 11% 17% 21% 8% 4% 6% 3% 5% 3% 6% 3% 67% 64% 78% 79% 87% 86% 76% 76% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Welle 2 Welle 3 Welle 2 Welle 3 Welle 2 Welle 3 Welle 2 Welle 3 Stadt Vorstadt Land Gesamt D-Ticket vorhanden Kaufabsicht D-Ticket nicht vorhanden und keine Kaufabsicht 41% 34% 28% 21% 10% 6% 12% 4% 2% 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% 45% Stadt (N=733) Vorstadt (N=930) Land (N=584) Anteil ÖPNV an wöchentlichen Wegen D-Ticket vorhanden (N=475) Kaufabsicht (N=74) D-Ticket nicht vorhanden und keine Kaufabsicht (N=1730) Bild 2. Verbreitung des Deutschlandtickets in den Gesamtstichproben der Wellen 2 und 3 Bild 3. ÖPNV-Nutzung innerhalb einer Woche aufgeteilt nach Regionstypen und D-Ticket-Besitz bzw. Kaufabsicht in Welle 3 DOI: 10.24053/ IV-2024-0022 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 33 Wissenschaft MOBILITÄT 41 % deutlich höher (siehe Bild 4). Auch hier sind verschiedene Interpretationen denkbar: Der (geplante) Kauf des Deutschlandtickets kann die Absicht zu einer höheren ÖPNV-Nutzung bedingen oder aber das Deutschlandticket wird (zukünftig) infolge einer tatsächlich erhöhten ÖPNV-Nutzung gekauft. Darüber hinaus deuten die Daten darauf hin, dass ein Grund gegen den Kauf des Deutschlandtickets sein kann, dass für diese Personen keine (gute) ÖPNV-Anbindung zur Verfügung steht und deshalb auch weniger Veränderungsbereitschaft besteht. 20,8 % der Personen ohne Deutschlandticket gaben an, dass ihnen der ÖPNV als Transportmittel nicht zur Verfügung steht. Dieser Anteil lag bei Personen ohne Deutschlandticket, die auf dem Land leben, bei ca. 35 %. Hier zeigt sich also das klassische Dilemma im ländlichen Raum: Ohne gute ÖPNV-Versorgung ist es nicht nur schwer möglich, dessen Nutzung zu erhöhen, sondern es entsteht für diese Menschen zumindest kein unmittelbarer Gewinn aus der Einführung des Deutschlandtickets. Bild 5 zeigt die berichteten Veränderungen in der Verkehrsmittelnutzung zwischen Welle 1 und Welle 2 für Personen, die sich in dieser Zeit ein Deutschlandticket gekauft haben (N = 169). Es wird deutlich, dass diese Personen in Welle 2, d.h. nach dem Kauf des Deutschlandtickets, einen deutlich höheren ÖPNV- und Fahrradwege-Anteil angaben, während die Anteile der Fahrten mit dem Verbrennerauto und der Fußwege jeweils um acht Prozentpunkte zurückgingen. Die Zunahme des Fahrradverkehrs kann mit den Jahreszeiten zusammenhängen während Welle 1 im Winter stattfand, folgte Welle 2 im Sommer. Sofern Fußwege durch ÖPNV ersetzt wurden, wäre dies als so genannter Rebound-Effekt [7] einzuordnen. Eine andere Ausprägung des Rebound- Effekts wäre eine Zunahme an Mobilität. So wird diskutiert, ob durch das neue und attraktive Angebot des Deutschlandtickets die Zahl der Wege insgesamt ansteigt und diese zusätzlichen Wege mit dem ÖPNV erfolgen, so dass auch dessen relativer Anteil steigt [8]. Dieses Argument lässt sich allerdings durch die vorliegenden Daten der MobilKULT Panelstudie teilweise entkräften. Insgestädtischen Gebieten 20 % aller Wege mit dem ÖPNV zurückgelegt [6]. Personen mit Deutschlandticket nutzten den ÖPNV in unserer Studie im Allgemeinen noch häufiger (36 %). Besitzer: innen des Deutschlandtickets, die in der Stadt leben, nutzten den ÖPNV für knapp 41 % ihrer wöchentlichen Wege, wie Bild 3 zeigt. Diese Zahlen zeigen, dass der Besitz des Deutschlandtickets mit einer hohen tatsächlichen ÖPNV-Nutzung einhergeht. In Welle 2 waren diese Tendenzen ähnlich, mit jeweils leicht niedrigerer ÖPNV-Nutzung in der Stadt, der Vorstadt und unter Deutschlandticket-Besitzer: innen. Obwohl durch das Panel-Design der Studie Rückschlüsse auf kausale Zusammenhänge möglich sind, ist nicht auszuschließen, dass neben dem Deutschlandticket auch weitere Gründe eine Rolle für die verstärkte ÖPNV-Nutzung gespielt haben. Personen, die aktuell kein Deutschlandticket besitzen, aber es in nächster Zeit kaufen möchten, nutzen den ÖPNV häufiger als Personen, die kein Deutschlandticket besitzen und auch nicht vorhaben, es zu kaufen. Diese Beobachtung zeigt sich über alle Regionstypen und verschiedene Alltagssituationen (z. B. Einkaufen, zur Arbeit fahren, Tagesausflüge) hinweg. Im Vergleich zu Welle 2 hat sich die ÖPNV-Nutzung insbesondere in der Stadt unter Personen mit Deutschlandticket und mit Kaufintention um sechs bzw. sieben Prozentpunkte erhöht. Auf dem Land ist die ÖPNV-Nutzung unter Personen mit Kaufintention um zehn Prozentpunkte gesunken. Die Teilnehmenden gaben an, ob und inwiefern sie planen, innerhalb von sechs Monaten nach der Befragung ihre ÖPNV-Nutzung zu verändern. Hierbei konnten sie zwischen den Optionen „verstärkte“, „verringerte“ und „gleichbleibende Nutzung“ sowie „steht mir nicht zur Verfügung“ wählen. Für diese Auswertung auf Basis von Welle 3 konzentrieren wir uns auf die Personen, die zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits den ÖPNV nutzten (N = 653). Hierbei zeigt sich, dass in den meisten Teilgruppen rund 30 % der Befragten angeben, innerhalb der nächsten sechs Monate häufiger den ÖPNV nutzen zu wollen. Dieser Anteil ist jedoch in der Gruppe, die das Deutschlandticket in nächster Zeit kaufen möchte, mit 28% 27% 27% 31% 29% 41% 24% 7% 6% 8% 6% 5% 14% 8% 65% 66% 63% 62% 65% 38% 66% 2% 1% 2% 1% 7% 3% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Gesamt Stadt Vorstadt Land D-Ticket vorhanden Kaufabsicht D-Ticket nicht vorhanden und keine Kaufabsicht Häufiger Seltener Gleichbleibend Nicht verfügbar Bild 4. ÖPNV-Nutzungsabsichten unter ÖPNV-Nutzenden (N = 653) in Welle 3, aufgeteilt nach Regionstypen und D-Ticket-Besitz bzw. Kaufintention DOI: 10.24053/ IV-2024-0022 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 34 MOBILITÄT  Wissenschaft wert errechnet. Bild 6 zeigt diesen Mittelwert in der Gesamtstichprobe sowie in verschiedenen Teilgruppen. Im Durchschnitt bewerteten die Teilnehmenden den ÖPNV mit einem Wert, der genau in der Mitte der verwendeten Skala liegt. Schaut man sich den Wert nun nach Regionstypen oder Deutschlandticket-Besitz an, ergeben sich Unterschiede: In städtischen Regionen fällt die Bewertung deutlich positiver aus als in den ländlichen Regionen. Menschen, die ein Deutschlandticket besitzen, oder beabsichtigen, es zu kaufen, bewerten den ÖPNV zudem nochmals positiver. Wenn kein Deutschlandticket und keine Kaufabsicht vorhanden sind, ist die Bewertung des ÖPNV negativer. Es ist wahrscheinlich, dass vor allem Menschen, die den ÖPNV schlechter bewerten, diesen auch selten nutzen. Unsere Daten deuten in diese Richtung: Personen, die auf der Bewertungsskala die Werte 1 oder 2 ausgewählt haben, nutzen den ÖPNV im Schnitt nur für 3 % ihrer wöchentlichen Wege. Personen, die auf der Bewertungsskala die Werte 4 oder 5 ausgewählt haben, nutzen den ÖPNV im Schnitt für 23 % ihrer Wege und können ihre Bewertung somit auf entsprechende Erfahrung stützen. Unklar ist, inwieweit bei den negativen Bewertungen fehlende Verfügbarkeit eine Rolle spielt. samt war ein Rückgang der Wege pro Woche zwischen Welle 1 und Welle 2 zu verzeichnen (Mittelwert Welle 1 = 20,7; Mittelwert Welle 2 = 17,5; N = 169). Ebenso gingen auch die mit dem Auto zurückgelegten Kilometer in einer Woche zurück (Mittelwert Welle 1 = 105 km; Mittelwert Welle 2 = 93,8 km, N = 169). Zwischen Welle 2 und Welle 3 beobachten wir die gleiche Entwicklung in Bezug auf die Verkehrsmittelnutzung. Der Rückgang der Wege und Autokilometer pro Woche ist dort auf niedrigerem Niveau ebenso weiterhin vorhanden. Zusammengenommen zeigt sich somit, dass bei Personen mit Deutschlandticket in unserer Stichprobe die Mobilität nicht steigt und in Summe eine Verschiebung zugunsten des ÖPNV stattfindet, während das Autofahren abnimmt. Einstellungen gegenüber dem ÖPNV Um die Einstellung gegenüber dem ÖPNV zu erfassen, konnten die Teilnehmenden angeben, wie gut oder schlecht, erfreulich oder unerfreulich, angenehm oder unangenehm sowie nützlich oder nutzlos sie es finden, den Großteil ihrer Wege mit dem ÖPNV zurückzulegen. Die Antworten wurden auf einer 5-stufigen Skala gegeben. Hieraus wurde dann für jede Person ein Mittel- 2,9 3,3 2,8 2,7 3,9 3,6 2,6 1 2 3 4 5 Gesamt Stadt Vorstadt Land D-Ticket vorhanden Kaufabsicht D-Ticket nicht vorhanden und keine Kaufabsicht Bewertung ÖPNV (1 negativ, 3 mittel, 5 positiv) Bild 6. Bewertung des ÖPNV in Welle 3 Bild 5. Veränderung der Verkehrsmittelnutzung zwischen Welle 1 und Welle 2 unter Personen, die sich in der Zeit ein Deutschlandticket gekauft haben (N = 169) 26% 18% 9% 13% 29% 38% 4% 3% 30% 22% 2% 5% 1% 1% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Welle 1 Welle 2 Anteil an den wöchentlichen Wegen zu Fuß Fahrrad ÖPNV Fernverkehr Verbrenner E-Auto Carsharing DOI: 10.24053/ IV-2024-0022 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 35 Wissenschaft MOBILITÄT len) Nutzenden des Deutschlandtickets und somit auch die Personen, die bisher stärker den ÖPNV nutzen, ein relativ großes Verbesserungspotenzial hinsichtlich der Erfüllung ihrer Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnisse durch den ÖPNV besteht. Andererseits wird es wohl für Personen, die bisher weder ein Deutschlandticket haben noch eine Kaufintention - und demnach auch bisher den ÖPNV deutlich weniger nutzen - schwer, überhaupt ihre Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnisse mit dem ÖPNV zu erfüllen, da sie von einem eher niedrigen Niveau aus „starten“ würden. Besondere Unternehmungen mit dem ÖPNV zu machen, scheint allerdings eine Möglichkeit zu sein, den ÖPNV in ein positiveres Licht bei allen Befragten zu rücken, da hier generell eine gewisse Kompatibilität mit Bedürfnissen für diesen Zweck vorzuliegen scheint. Hieraus könnte eine Art „Möglichkeitsfenster“ entstehen, den ÖPNV durch weitere Maßnahmen bei den Personen stärker ins Bewusstsein zu rücken und attraktiver zu machen (etwa durch Kommunikationsangebote, Urlaubsangebote, die auch ein Deutschlandticket mit anbieten für die Mobilität im Urlaub und somit die Einstiegshürden in die Nutzung des ÖPNV abbauen). Zusammenfassung und Ausblick Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass das Deutschlandticket ein attraktives Angebot für Menschen ist, die den ÖPNV regelmäßig nutzen und für die dieser verfügbar ist. Dementsprechend sind die Nutzungszahlen in städtischen Gebieten deutlich höher als in ländlichen Regionen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass das Deutschlandticket wahrscheinlich mit Verlagerungseffekten zu nachhaltiger Mobilität einhergeht. Fahrten mit dem Auto nehmen über die Wellen hinweg ab und Fahrten mit dem ÖPNV zu. Eine Zunahme der Mobilität aufgrund des Deutschlandtickets kann in den hier analysierten Daten nicht beobachtet werden. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass unter den aktuellen Bedingungen das Potenzial des Deutschlandtickets bei bis zu einem Viertel der Bevölkerung über 16 Jahren liegt und dieses weitgehend ausgeschöpft scheint. Erfüllung von Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnissen durch den ÖPNV Schließlich gaben die Teilnehmenden an, inwieweit verschiedene Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnisse durch den ÖPNV erfüllt werden, d. h. ob sie aus ihrer Sicht mit dem ÖPNV überall hinkommen, wo sie möchten, ob sie unabhängig von anderen mobil sein können, ob sie ihre Route selbst bestimmen können, ob der ÖPNV für besondere Unternehmungen (z. B. Wochenendausflüge) geeignet ist und ob sie mit dem ÖPNV eine für sie ausreichende Transportkapazität haben. In Bild 7 wird dargestellt, inwieweit bestimmte Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnisse durch die Nutzung des ÖPNV mehr oder weniger erfüllt werden, jeweils in Abhängigkeit der Regionstypen sowie der Verfügbarkeit bzw. Kaufintention eines Deutschlandtickets. Erneut zeigt sich, dass die Bedürfnisse von Teilnehmenden, die in Städten wohnen, stärker durch den ÖPNV erfüllt werden können als bei Personen, die in den Vorstädten leben oder im ländlichen Raum. Die Mittelwerte liegen bei den städtischen Teilnehmenden allerdings grundsätzlich auch nur im moderaten Zustimmungsbereich. Die Teilnehmenden aus den Vorstädten und dem ländlichen Raum sehen eher keine Erfüllung ihrer Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnisse durch den ÖPNV. Interessant ist jedoch, dass über alle Gruppen hinweg der ÖPNV am ehesten für besondere Unternehmungen als geeignet wahrgenommen wird und die Zustimmungswerte hier am höchsten ausfallen. Betrachten wir Personen mit Deutschlandticket und diejenigen, die eine Kaufintention haben, ergibt sich erneut ein passendes Muster: Personen mit Deutschlandticket oder einer Kaufintention nehmen eine ähnliche und stärkere Erfüllung ihrer Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnisse durch den ÖPNV wahr als Personen ohne Deutschlandticket. Aber auch hier liegen die Zustimmungswerte beider Gruppen gerade im Mittel der Skala und sind nicht deutlich im zustimmenden Bereich. Das deutet einerseits darauf hin, dass für die (potenziel- 1 2 3 4 5 Zustimmung (1 gar nicht, 5 voll und ganz) Gesamt Stadt Vorstadt Land D-Ticket vorhanden Kaufabsicht D-Ticket nicht vorhanden und keine Kaufabsicht Bild 7. Erfüllung von subjektiven Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnissen durch den ÖPNV in Welle 3 DOI: 10.24053/ IV-2024-0022 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 36 MOBILITÄT  Wissenschaft LITERATUR [1] Ecke L, Vallee J, Chlond B, Vortisch P. Deutsches Mobilitätspanel (MOP) - Wissenschaftliche Begleitung und Auswertungen Bericht 2022/ 2023: Alltagsmobilität und Fahrleistung: Karlsruher Institut für Technologie (KIT); 2023. [2] Loder A, Cantner F, Dahmen V, Bogenberger K. Germany’s Newest Fare: The Deutschlandticket - First Insights on Funding and Travel Behavior. Washington; 2024. [3] VDV. Deutschland-Ticket: die größte Tarifrevolution im ÖPNV. https: / / www.vdv.de/ deutschlandticket.aspx. Zugriff am 29. Feb. 2024. [4] Krämer A, Korbutt A. Das Deutschlandticket aus Sicht des hvv und in der bundesweiten Betrachtung. Internationales Verkehrswesen. 2023; 75: 10-4. [5] Eurostat. Degree of urbanisation. 2023. https: / / ec.europa.eu/ eurostat/ web/ degree-of-urbanisation/ background. Zugriff am 2. Okt. 2023. [6] infas, DLR, IVT, infas 360. Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI); 2018. [7] Walnum H, Aall C, Løkke S. Can Rebound Effects Explain Why Sustainable Mobility Has Not Been Achieved? Sustainability. 2014; 6: 9510-37. doi: 10.3390/ su6129510. [8] Krämer A, Wilger G, Bongaerts R. Das 9-Euro-Ticket: Erfahrungen, Wirkungsmechanismen und Nachfolgeangebot. Wirtschaftsdienst. 2022; 102: 873-9. doi: 10.1007/ s10273-022-3313-2. [9] Diebold T, Czarnetzki F, Gertz C. On-Demand-Angebote als Bestandteil des ÖPNV: Nutzungsmuster und Auswirkungen auf die Verkehrsmittelentscheidung in einem Hamburger Stadtrandgebiet. Internationales Verkehrswesen. 2021; 73: 88-94. doi: 10.15480/ 882.3870. [10] Hansen T, Sener IN. Strangers On This Road We Are On: A Literature Review of Pooling in On-Demand Mobility Services. Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board. 2023; 2677: 1368-81. doi: 10.1177/ 03611981221123801. Eingangsabbildung: © iStock.com/ Reinhard Krull Inwiefern das Ticket jedoch ein langfristiger Treiber der Mobilitätswende ist, könnte sich an zwei wesentlichen Aspekten entscheiden: Zum einen spielt die zuverlässige Verfügbarkeit von ÖPNV eine zentrale Rolle. Ohne Verfügbarkeit können Personen die Vorteile des Deutschlandtickets nicht genießen und nicht auf den ÖPNV umsteigen. Der Bedarf ist in ländlicheren Regionen besonders groß. Hier ist es wichtig, kostengünstige und attraktive Innovationen in den ländlichen Raum zu bringen, um so die Verfügbarkeiten zu erhöhen. On-Demand-Dienste können hier eine bedeutende Rolle spielen [9, 10]. Zum anderen sind der Preis des Deutschlandtickets sowie die Anreize, Infrastrukturen und Kosten für andere Verkehrsmittel wichtige Stellschrauben. Die wahrgenommene Bedürfnisbefriedigung scheint ein wichtiger Aspekt für die Nutzung zu sein. Für alle Gruppen kommt der ÖPNV für besondere Unternehmungen am ehesten in Frage. Hier liegt also eine Chance, den ÖPNV als Verkehrsmittel ins Spiel zu bringen. Grundsätzlich ist aber auch festzuhalten, dass die Flexibilitäts- und Unabhängigkeitsbedürfnisse über alle Gruppen hinweg nicht besonders gut erfüllt werden. Es ist also wichtig, an der generellen Attraktivität des ÖPNV zu arbeiten. Das Deutschlandticket scheint ein Schlüssel zu sein, der hier mittel- und langfristig für eine Veränderung sorgen kann, sofern es langfristig bestehen und auch preislich weiterhin attraktiv für die Nutzenden bleibt. Studien zeigen, dass es die Tarifstruktur deutlich vereinfacht hat und die Bequemlichkeit der Nutzung des ÖPNV damit erhöht wird [4]. Gegebenenfalls werden auch weitere Bedürfnisse, die wir in MobilKULT noch nicht erfasst haben, durch den ÖPNV und das Deutschlandticket aktuell und zukünftig stärker erfüllt werden als durch andere Verkehrsmittel. Hier ist weitere Forschung notwendig, um herauszuarbeiten, worin die spezifischen Chancen des Deutschlandtickets liegen, um davon abgeleitet auch neue Nutzendengruppen und Wechselbereite für die Nutzung des ÖPNV zu gewinnen. Das Deutschlandticket hat sich insbesondere für ÖPNV-Begeisterte und regelmäßig Nutzende als ein gutes Angebot gezeigt und fördert in diesen Gruppen auch zunehmend nachhaltige Mobilität. Das Ticket ist somit ein wichtiges Instrument für die ÖPNV-Nutzung. Für Menschen ohne Erfahrung und Zugang zum ÖPNV ist es dagegen nicht attraktiv. Hier gilt es, vielfältige Brücken und entsprechende Angebote zu schaffen, um neue Nutzendengruppen zu erschließen. Dazu braucht es weitere politische Instrumente, um den Strukturausbau des ÖPNV zu beschleunigen. Förderung MobilKULT ist Teil des Karlsruhe Mobility High Performance Center/ Profilregion (KAMO), das als nationales Leistungszentrum durch die Fraunhofer Gesellschaft gefördert wird. ■ Marvin Helferich, M.Sc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe RPTU Kaiserslautern-Landau, Fachbereich Psychologie, Landau marvin.helferich@isi.fraunhofer.de Josephine Tröger, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe josephine.troeger@isi.fraunhofer.de Elisabeth Dütschke, Dr., Leitung Competence Center Energiepolitik und Energiemärkte, Leiterin des Geschäftsfelds Akteure und Akzeptanz in der Transformation des Energiesystems Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe elisabeth.duetschke@isi.fraunhofer.de