eJournals Internationales Verkehrswesen 76/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2024-0026
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ID-basiertes Ticket in Deutschland

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Stephanie Lelanz
In der modernen Mobilitätslandschaft Deutschlands stellt das ID-basierte Ticketing (IDBT) einen signifikanten Fortschritt dar, der darauf abzielt, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) grundlegend zu transformieren. Angesichts eines Tarifsystems, das oft als Labyrinth erscheint, bietet IDBT eine innovative Lösung, die sowohl die Nutzererfahrung vereinfacht als auch eine effizientere Abwicklung für Verkehrsunternehmen ermöglicht.
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DOI: 10.24053/ IV-2024-0026 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 51 Wahl? “ Während es im städtischen Raum zu einem Großteil der Zeit kein Problem darstellt, den ÖPNV innerhalb einer Wartezeit von weniger als 10 Minuten zu nutzen, sieht dies in Randlagen und im ländlichen Raum schon ganz anders aus. Hat der Kunde dann ein passendes ÖPNV-Angebot gefunden, tauchen weitere Unsicherheiten auf. „Ist das ein Zeit- oder ein Streckentarif? Durchquere ich mehrere Zonen? Zu welcher Uhrzeit fahre ich? Habe ich Anrecht auf eine Vergünstigung? Lohnt sich schon ein Tagesticket? Druckt der Fahrscheindrucker ein bereits entwertetes Ticket aus? “, sind nur ausgewählte Fragen, vor denen Fahrgäste W as haben der Lebensmitteleinkauf und ÖPNV gemeinsam? Beide erfüllen den Zweck der Daseinsvorsorge. An dieser Stelle hören die Gemeinsamkeiten weitgehend auf. Denn während uns der Einkauf und die anschließende Bezahlung doch verhältnismäßig leichtfallen, gestaltet sich das ÖPNV-Erlebnis doch relativ schwierig. Status quo Einfach Einsteigen, Losfahren und die Aussicht aus dem Fenster genießen? Weit gefehlt. Zunächst stellen sich Fahrgäste die Frage: „Wann kommt das Verkehrsmittel der stehen, wenn sie planen den ÖPNV zu nutzen. Wenn der Kunde dann nach gewisser Zeit den ÖPNV in der Heimatregion verstanden und verinnerlicht hat, steht er bei einem Ausflug oder Urlaub direkt wieder am Anfang. Während ein Apfel in jedem Supermarkt ein Apfel ist, ist ein Einzelticket, ein Tagesticket oder eine Mehrfahrtenkarte nicht überall genau das, was der Fahrgast von zuhause kennt. Diesen Tarifflickenteppich prangern Experten und Branchenverbände seit Jahrzehnten an. Den Versuch einer Vereinfachung und Vereinheitlichung stellt das Deutschland-Ticket dar. Für 49€ pro Monat ID-basiertes Ticketing in Deutschland Die geheime Revolution des ÖPNV passiert in der Geldbörse IDBT, ÖPNV, MTT, PAYG, transitticketing, openloop payment, Check-In/ Check-Out In der modernen Mobilitätslandschaft Deutschlands stellt das ID-basierte Ticketing (IDBT) einen signifikanten Fortschritt dar, der darauf abzielt, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) grundlegend zu transformieren. Angesichts eines Tarifsystems, das oft als Labyrinth erscheint, bietet IDBT eine innovative Lösung, die sowohl die Nutzererfahrung vereinfacht als auch eine effizientere Abwicklung für Verkehrsunternehmen ermöglicht. Stephanie Lelanz ÖPNV MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0026 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 52 EMV, PCI, ISO), um eine nahtlose und sichere Interaktion zwischen Fahrgästen und dem ÖPNV-System zu ermöglichen. Die Anwendung erfolgt über NFC (Near Field Communication)-Technologie, die es ermöglicht, Kartendaten anonym, sicher und schnell über kurze Distanzen zu übertragen. Dies bildet die Grundlage für verschiedene Anwendungsfälle (vgl. Abbildung 1): Retail Like: Der Kunde tapped die Bankkarte einmalig beim Einstieg zur Bezahlung eines ausgewählten Tickets mit festem Preis. Pay As You Go (PAYG): Der Kunde tapped die Bankkarte beim Ein- und optional beim Ausstieg. Der Fahrpreis wird auf Basis des Reiseverlaufs automatisch im Hintergrundsystem berechnet. Card as Credential: Der Kunde tapped eine vorregistrierte Bankkarte (open- oder closed-loop EMV möglich) beim Einstieg als Nachweis zur Fahrtberechtigung oder des Abonnements. Bei jeder dieser Lösungen fungiert die physische Bankkarte oder deren digitales Abbild in der Wallet als Identifikationsmedium. Die PAN (Kreditkartennummer) wird von einem Transit-PSP (Hintergrundsystem zur Bearbeitung von Transittransaktionen sowie optional zur Berechnung des Ticketpreises und zur Bestpreisberechnung) verschlüsselt und tokenisiert, sodass keine Rückschlüsse auf PCI-relevante Bankdaten gezogen werden können. Mit dem Tap am Bordrechner oder Validator werden zudem Transportdaten an den Transit-PSP gesendet. Diese umfassen alle notwendigen Fahrtdaten und werden im Hintergrundsystem anhand der Taps zu einem eindeutigen Token zugeordnet (sog. Pairing). Nach erfolgreichem Pairing wird der Ticketpreis entsprechend der Vorgaben des Verkehrsunternehmens berechnet und zu einem definierten Zeitpunkt durch den Zahlungsdienstleister (Acquirer) vom Bankkonto des Kunden abgebucht. Der Acquirer prüft im Verlauf auch die Kartengültigkeit und Akzeptanz. Zusätzliche Angebote, Rabattierungen, z. B. Senioren- oder Sozialticket, können auf den bisher üblichen Wegen beim Verkehrsunternehmen beantragt werden. Über Acceptancelisting (Whitelist) werden diese der Bankkarte zugeordnet und gespeichert. Eine zusätzliche Berechtigungskarte kann somit entfallen. Kundengruppen, die nicht über ein eigenes Bankkonto verfügen, wie bspw. Schüler*innen, können an dem System mit einer sog. Private Label EMV Karte partizipieren. Diese nutzen die gleiche Technologie wie Bankkarten (cEMV) und können somit von der IDBT-Infrastruktur gelesen und verarbeitet werden. Darauf angewendete Berechtigungen werden im Hintergrundsystem gespeichert und über die Allowlist papier- und bargeldloses Ticketing für Fahrgäste. In den Verkehrsmitteln des ÖPNV sind stationäre Lese- und Kontrollgeräte (Bordrechner und/ oder Validator) notwendig. Account-based Ticketing: Ein vorregistriertes Konto beinhaltet das digitale Ticket Account-based Ticketing ermöglicht den papier- und bargeldlosen Ticketerwerb für Fahrgäste. Zu hinterlegen ist ein Account (=Kundenkonto), sprich es ist eine Vorab- Registrierung beim Verkehrsunternehmen notwendig. Die Identifikation im ÖPNV erfolgt über App, QR-Code oder RFID/ Mifare-Karte. Sowohl in der App als auch auf der RFID/ Mifare-Karte werden persönliche Daten gespeichert. Diese Systeme sind closed-loop (geschlossener Nutzerkreis). Im ÖPNV-Verkehrsmittel werden mobile und/ oder stationäre Lese- und Kontrollgeräte (Bordrechner oder Validator) benötigt. Check-In/ Check-Out: Beim Ein- und Ausstieg muss der Fahrgast bewusst eine Handlung durchführen, entweder indem er sich an einem Kontrollgerät (Bordrechner oder Validator) via NFC-Technologie oder 2D-Barcode-Scan identifiziert oder eine App aktiviert. Beim Check-Out ist eine weitere Aktion notwendig, identisch zum Check-In. Check-In/ Be-Out: Beim Check-In/ Be- Out ist nur beim Einstieg eine Aktion auf der App oder via NFC-Technologie oder 2D- Barcode-Scan am Lese- und Kontrollgerät notwendig. Be-In/ Be-Out: Weder beim Einnoch beim Ausstieg ist eine aktive Handlung des Fahrgastes notwendig. Die Passagierdaten werden über Sensoren, Kameras oder Barken erfasst. Einsatzmöglichkeiten für ID-basiertes Ticketing ID-basiertes Ticketing macht den Ticketerwerb im ÖPNV so leicht wie das Bezahlen des Lebensmitteleinkaufs im Supermarkt. Es nutzt dafür weltweit spezifizierte und standardisierte Payment Technologien (z. B. als Abonnement im Nah- und Regionalverkehr durch ganz Deutschland. Dies bedeutet eine digitale Registrierung, die Hinterlegung eines SEPA-Lastschriftmandats und die Speicherung persönlicher Daten beim Verkehrsunternehmen sowie der Download einer App oder der Erwerb einer Fahrtberechtigungskarte (sog. Closed-Loop System mit einem extra für den Anwendungsfall ÖPNV kreiertem Zugangsmedium, i. d. R. App oder RFID/ Mifare-Karte nach VDV-KA Standard). Ein Blick auf die Preistabelle des Verkehrsverbundes Oberelbe (VVO) zeigt, dass sich außer dem D-Ticket gar nicht so viel verändert hat. Der Fahrgast liest nach wie vor viel Kleingedrucktes, muss wissen, wo er ist, wo er hinfahren möchte und wie vielen Zonen dies entspricht. Das Einzelticket kostet überall im VVO weniger als in der Zone Dresden. Ein Verbund, zwei Einzeltickets. Wie kann der Vertrieb von ÖPNV-Tickets so gestalten werden, dass er für Verkehrsunternehmen und -verbünde gleichsam wie für Kunden so attraktiv und einfach ist wie die Bezahlung im Supermarkt? Die Antwort lautet: IDBT - Intelligentes datenbasiertes Ticketing. Begriffsabgrenzung ID-based Ticketing: Die verschlüsselte Bankkartennummer ist das digitale Ticket IDBT revolutioniert das komplexe Tarif- und Ticketsystem durch die Implementierung einer Technologie, die auf der Nutzung von NFC-Bankkarten basiert (open-loop). Anstatt sich durch unterschiedliche Ticketoptionen zu navigieren, ermöglicht IDBT den Fahrgästen ihre Fahrten einfach durch das Tappen einer NFC-fähigen Bankkarte oder eines Smartphones am Einstiegs- und ggf. Ausstiegspunkt zu validieren. Dieser Prozess erfordert keine vorherige Ticketkauf-Handlung, keine Registrierung oder die Auswahl spezifischer Ticketarten und bietet dennoch eine präzise Abrechnung basierend auf der tatsächlich zurückgelegten Strecke oder dem genutzten Tarif. IDBT ermöglicht somit ein Bild 1: Anwendungsfälle des IDBT (© Mastercard Europa SA) MOBILITÄT  ÖPNV DOI: 10.24053/ IV-2024-0026 Internationales Verkehrswesen (76) 2 ǀ 2024 53 in Regensburg und die anstehende vollumfängliche IDBT-Einführung in Schweinfurt haben uns bereits gezeigt, wie IDBT in urbanen und ländlichen Gebieten erfolgreich umgesetzt werden kann. Mit dem Produkt FRGbest haben der Landkreis Freyung-Grafenau und die Verkehrsgemeinschaft Freyung-Grafenau (VLFRG) einen Meilenstein im Bereich IDBT in Deutschland gesetzt. FRGbest ist Teil des ÖPNV-Modellprojekts „Digitale Mobilitätsinnovationen in Freyung-Grafenau (DiMoFRG)“, das vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr noch bis Ende des Jahres 2024 gefördert wird. Der Landkreis Freyung-Grafenau im südöstlichen Bayern gehört zum Verbundtarif DonauWald. Im Verbundtarif werden verschiedene Tickets für 1 bis 16 Waben angeboten. FRGbest integriert als erstes IDBT-System in Deutschland jedes nicht in einem Abonnement angebotene- Ticket und berücksichtigt dabei die durchquerten Waben des Verbunds. Somit ergibt sich immer der beste Preis: Ein Fahrgast steigt in Grainet Ortsmitte 09: 00 Uhr in den Bus und fährt zum Busbahnhof in Freyung. 13: 00 Uhr fährt er die gleiche Strecke wieder zurück. Anstelle von zwei Einzeltickets für drei Waben zum Preis von je 4,10€ berechnet das IDBT-System ein 9 Uhr-Tagesticket in Höhe von 7,60€. Dieser Betrag wird dann am späten Abend vom Bankkonto des Fahrgastes abgebucht. FRGbest wurde durch die VLFRG unter Leitung von Christina Dafinger und der Autorin des vorliegenden Artikels mit Unterstützung von Mastercard Europe gemeinsam mit den Systemintegratoren TeleMatrik und Mikroelektronika (vgl. Abbildung 2) sowie dem Transit-PSP swit- (Whitelist) auf die Fahrzeuge verteilt. Diese Karte ersetzt dann die meist in Papierform ausgegebene Schülerfahrkarte und/ oder den Schülerausweis. Sie kann für weitere Anwendungsfälle, wie Eintritt ins Bad oder Kino, genutzt werden. Auch sog. Bezahlkarten (Prepaidkarten) können beim IDBT-Anwendung finden. ID-basiertes Ticketing kann auf weitere Angebote des Verkehrsunternehmens ausgeweitet werden. Es ist möglich, ID-basiertes Bikesharing anzubieten oder Fahrradabstellmöglichkeiten, wie Fahrradparkhäuser oder Fahrradboxen, mit IDBT auszustatten. Projekte in Deutschland IDBT-Projekte wie BonnSmart und FRGbest in Freyung-Grafenau sowie ein Pilotprojekt chio by Monet+ und dem Acquirer Shift4 umgesetzt. Vorteile des Systems Durch Funktionen wie die Berücksichtigung lokaler Tarifstrukturen und die automatische Ermittlung des günstigsten Tarifs für den Fahrgast vereinfacht IDBT den Zugang zum ÖPNV erheblich. Die Vorteile von IDBT sind vielfältig: 1. Einfachheit und Bequemlichkeit: Die Notwendigkeit, vorab das richtige Ticket zu wählen oder Bargeld bereitzuhalten, entfällt. 2. Datensicherheit und Datenschutz: Durch die Verwendung verschlüsselter Daten und anonymisierter Transaktionen wird die Privatsphäre der Nutzer gewahrt. 3. Effizienzsteigerung für Verkehrsunternehmen: Die digitale Abwicklung reduziert den Aufwand für den Ticketverkauf und die Fahrkartenkontrolle. 4. Nachhaltigkeit: Eine Verringerung des Bedarfs an Papier-Tickets und Bargeld trägt zu ökologischen und ökonomischen Zielen (Kostenreduktion Bargeldkosten) der Verkehrsunternehmen bei. 5. Internationale Standards: Beim IDBT kommen internationale und weltweit gültige Payment Spezifikationen (u. a. EMV, PCI, ISO) sowie regionale Regularien, bspw. in der EU (z. B. SCA, PSD2) zum Einsatz. ID-basiertes Ticketing steht an der Spitze der Innovation im öffentlichen Nahverkehr und bietet eine Lösung, die sowohl den Anforderungen der Nutzer als auch den ökologischen und ökonomischen Zielen der Verkehrsunternehmen gerecht wird. Durch die fortschreitende Digitalisierung und das steigende Bewusstsein für nachhaltige Mobilität hat IDBT das Potenzial, eine neue Ära im ÖPNV einzuläuten. Der Ticketkauf im ÖPNV wird so einfach wie das Bezahlen im Supermarkt. Einsteigen, Einchecken, die Fahrt genießen und beim Ausstieg auschecken (vgl. Abbildung 3) - so unkompliziert kann ÖPNV sein. Erfolgreiche Projekte im In- und Ausland beweisen, dass IDBT eine attraktive und zukunftsfähige Lösung für den öffentlichen Nahverkehr ist. ■ Eingangsabbildung: © Tobias Pleintinger Stephanie Lelanz Senior Consultant Mobility Solutions | 402PAYMENT GmbH Projektleiterin DiMoFRG | TU Dresden Stephanie.Lelanz@402PAYMENT.com Bild 2: Validator in Freyung-Grafenau (© Mikroelektronika s.r.o./ Tobias Pleintinger) Bild 3: Erfolgreicher Check-Out am Bordrechner in Freyung-Grafenau (© Daniela Blöchinger) ÖPNV MOBILITÄT