Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2025-0014
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Die Chance auf den optimalen Vertriebsmix nutzen
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Anett Dahl
Eva Möckel
Philipp Wolf
Die ÖPNV-Branche bewegt sich im Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen, wechselnder politischer Anforderungen und fehlender Finanzierungssicherheit. Verkehrsanbieter müssen langfristige Entscheidungen treffen, wie sie den Fahrkartenvertrieb dauerhaft auskömmlich, nachhaltig und dabei weiterhin kundenfreundlich sicherstellen können. Der Artikel beleuchtet diese Fragestellungen und zeigt Lösungen auf, wie der Weg zu einem optimalen Vertriebsmix gelingt.
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Vertriebsstrukturen vereinfachen, um zukunftsfähig, flexibel sowie leicht zugänglich zu bleiben und schnell auf die Anforderungen reagieren zu können. Das Deutschlandticket: gekommen, um zu bleiben Die Einführung des Deutschlandtickets hat in den letzten zwei Jahren einige Entwicklungen in Gang gesetzt, die die Tarif- und Vertriebsstrukturen im ÖPNV nachhaltig beeinflussen. Der sehr günstige Preis hat je nach Ausgangslage in den Verkehrsverbünden einige oder fast alle bestehenden Abo-Produkte überflüssig gemacht. Zudem sind viele Gelegenheitskunden von den Bartarifprodukten auf das Deutschlandticket umgestiegen. Änderungen in den Tarifstrukturen werden bislang kaum oder nur sehr zaghaft vorangetrieben, da man Einnahmeverluste oder D er öffentliche Nahverkehr befindet sich im Dauerzustand der großen Herausforderungen. Die Kundenbedürfnisse und -erwartungen ändern sich stetig, die Konkurrenz durch alternative Mobilitätsangebote wächst und die technologischen Möglichkeiten eröffnen neue Chancen und Risiken. Hinzu kommt die Erwartung, als Branche die treibende Kraft zum Erreichen der Klimaziele zu sein - und dies vor dem Dilemma, die Verkehrswende unterfinanziert voranbringen zu müssen. Denn die steigenden Kosten für Fahrzeugausstattung, Personal und Betrieb überkompensieren zum einen etwaige Budgeterhöhungen, zum anderen hat das Deutschlandticket zu jährlichen Mindereinnahmen im zweistelligen Prozentbereich geführt. In diesem dynamischen Umfeld müssen die ÖPNV-Anbieter ihre Tarif- und Verteilungseffekte befürchtet und eine allgemeine Unsicherheit hinsichtlich der langfristigen Finanzierung des Deutschlandtickets besteht. Auch der Beschluss der Verkehrsministerkonferenz vom 23.09.2024 zur Preiserhöhung auf 58 Euro ab dem 01.01.2025 beinhaltet lediglich eine Finanzierungszusage bis zu diesem Jahresende 2025. In der Folge bleibt die Tarifkomplexität weiterhin hoch. Sie wird sogar teilweise erhöht, indem Rabattprodukte für Gelegenheitsnutzende eingeführt oder lokale Deutschlandticket-Varianten entwickelt werden, beispielsweise das „Bayerische Ermäßigungsticket“ für Azubis und Studierende zum Preis von 29 Euro oder das „Berlin-Abo“ für ebenfalls 29 Euro. Dies konterkariert mögliche Synergieeffekte durch Standardisierung und das Ziel der Einfachheit für die Kunden. Die Chance auf den optimalen Vertriebsmix nutzen Deutschlandticket, Vertriebsstruktur, Ticketing, ÖPNV Die ÖPNV-Branche bewegt sich im Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen, wechselnder politischer Anforderungen und fehlender Finanzierungssicherheit. Verkehrsanbieter müssen langfristige Entscheidungen treffen, wie sie den Fahrkartenvertrieb dauerhaft auskömmlich, nachhaltig und dabei weiterhin kundenfreundlich sicherstellen können. Der Artikel beleuchtet diese Fragestellungen und zeigt Lösungen auf, wie der Weg zu einem optimalen Vertriebsmix gelingt. Anett Dahl, Eva Möckel, Philipp Wolf Internationales Verkehrswesen (77) 1 ǀ 2025 58 DOI: 10.24053/ IV-2025-0014 Radikale Vereinfachungen sind nur selten zu beobachten, da sie oft mit erheblichen Einnahmeverlusten oder Verteilungseffekten verbunden sind. Diese Verluste können nur bei solider Finanzlage aufgefangen werden, etwa in Stadtstaaten oder aber bei entsprechender Priorisierung und Finanzierungszusage einzelner Landesregierungen. Darüber hinaus sind die Auswirkungen auf die Vertriebskanäle signifikant (Bild 1): Zum einen wird das Deutschlandticket nicht über die klassischen Vertriebswege Automat und Busdrucker verkauft. Zum anderen unterbietet es preislich die Mehrzahl der bisherigen Abonnement-Produkte, so dass diese, insbesondere an den Vertriebsstellen, nicht mehr nachgefragt werden. Die Folge ist ein erheblicher Rückgang von Umsatz und Absatz in diesen Kanälen 1 . Die Vertriebskosten reduzieren sich trotz dort sinkender Vertriebsvorgänge aber nur marginal, da vorhandene, schwach ausgelastete Vertriebskanäle unverändert aufrechterhalten werden. So werden zum Beispiel personalbediente Vertriebsstellen deutlich weniger genutzt, während der Online-Vertrieb immer wichtiger wird und enorme Umsatzsteigerungen verzeichnet; diese Entwicklung ist seit Verkaufsstart des Deutschlandtickets deutschlandweit zu beobachten. Der Fahrkartenautomat bleibt trotz rückläufiger Verkaufszahlen ein umsatzstarker Kanal, der jedoch fortwährend hohe Betriebskosten aufruft. Der Fahrkartenverkauf im Bus ist ebenfalls regressiv, wird aber je nach Region in Bezug auf seine vertriebliche Relevanz unterschiedlich bewertet. Wir halten also fest: Die Kunden kaufen andere Tickets an anderen Orten. Besonders prägnant ist dabei der Umstieg von Bartarif- Einzelkäufen sowie Abonnement-Produkten auf das Deutschlandticket. So verringerten sich die Einnahmen im Laufe eines Jahres - Vergleich zwischen Juni 2024 und Mai 2023 - bei den Einzel-, Mehrfahrten- und Tageskarten um 21 bzw. 16 Prozent, bei den übrigen Zeitkarten um 40 Prozent sowie bei den Abonnementprodukten (D-Ticket natürlich ausgenommen) gar um 59 Prozent. Diese Entwicklungen entziehen einem Vertriebskanal jedoch nicht automatisch die Daseinsberechtigung. Vielmehr müssen die Nahverkehrs-Anbieter die Vor- und Nachteile der verschiedenen Kanäle abwägen und eine ausgewogene Vertriebsstrategie entwickeln. Wie die Vertriebsstruktur auch zukünftig mitkommt Die Entwicklung einer neuen, integrierten Tarif- und Vertriebsstrategie ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen absolut sinnvoll, wird jedoch aufgrund der eingangs beschriebenen Unsicherheiten meist nicht angegangen. Dennoch sollten ausgewählte Strukturen mit „ruhiger Hand“ optimiert werden, indem man die Aufgaben der einzelnen Vertriebskanäle hinterfragt und entsprechende Anpassungen vornimmt. In Anbetracht der skizzierten Verschiebungen empfehlen sich drei Handlungsstränge, die - abgeschichtet auf zu betrachtende Einzelaspekte - im Folgenden beschrieben werden. Fokus Vertriebsstelle: persönliche und ausführliche Beratung erwünscht Obwohl der Anteil der personenbedienten Verkaufsstellen am Gesamtvertrieb gering ist und weiter sinkt, bleibt ihr Alleinstellungsmerkmal der persönlichen und umfassenden Beratung unersetzbar. Für bestimmte Kundengruppen wie Senioren, Touristen oder auch Gelegenheitsfahrende sind sie die bevorzugte und oftmals einzig genutzte Anlaufstelle zum Fahrkartenerwerb. Sie bieten zudem einen hohen Servicegrad und eine hohe Beratungsqualität, welche in vielen Regionen durch differenzierte Servicelevel (Ticketverkauf im Kiosk, Mobilitätsagentur, Mobilitätszentrale) abgebildet wird. Sollen die Auswirkungen der veränderten Marktbedingungen der vergangenen Monate eingehender betrachtet werden, lohnt ein Blick auf die folgenden Aspekte: Analyse der Standorte der Vertriebsstellen hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit, Nachfragepotenziale und Wirtschaftlichkeit. Identifizierung möglicher Standortverlagerungen oder -zusammenlegungen. Auswertung der vertrieblichen Abläufe mit besonderem Augenmerk auf Qualität, Effektivität und Effizienz. Erstellung eines personalwirtschaftlichen Konzepts, das eine bedarfsgerechte und flexible Einsatzplanung des Verkaufspersonals ermöglicht sowie (Weiter-)Qualifizierung in den Bereichen Kundenorientierung, Verkaufsförderung und Beschwerdemanagement umfasst. Analyse des bestehenden Sortiments an Tarifprodukten und Zusatzangeboten. Entwicklung von Vorschlägen für eine attraktivere und kundenfreundlichere Gestaltung und Reduzierung des Sortiments. Fokus Fahrkartenautomat: 24/ 7 zur Fahrkarte Der Fahrkartenautomat steht den Kunden rund um die Uhr zur Verfügung und hält wie eingangs beschrieben weiterhin einen hohen Anteil am Gesamtvertrieb. Nicht zu vernachlässigen ist seine Funktion im eTicketing zur Abholung von online bestellten elektronischen Fahrtberechtigungen, ebenso wie die Bedienung in zahlreichen Sprachen. Es stellt sich dennoch die Frage, ob perspektivisch nicht ein im Angebots- und Funktionsumfang reduzierter Automat ausreicht (Bild 2), da diese Infrastruktur beständig modernisiert und optimiert werden muss, um die Kundenanforderungen zu erfüllen und die Betriebskosten zu senken. Um die Kernaufgaben dieses Kanals zu stärken, lassen sich diese Ansatzpunkte identifizieren: Bild 1: Vertriebliche Auswirkung des Deutschlandtickets auf einzelne Vertriebskanäle © rms/ Lorenz Crössmann Vertrieb MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (77) 1 ǀ 2025 59 DOI: 10.24053/ IV-2025-0014 gehen. Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr bildet hier eine aktuelle Ausnahme: Er hat sein Sortiment drastisch um ca. 75 Prozent reduziert. Letztlich bleiben zwar auch im VRR noch Tarifprodukte im dreistelligen Bereich erhalten²; das Beispiel zeigt jedoch, dass eine Optimierung möglich ist und denjenigen, der sie umsetzt sowie uns als Branche insgesamt voranbringt. Die eigene Vertriebslandschaft aktiv gestalten Der ÖPNV trägt eine Schlüsselrolle bei Klima- und Verkehrswende. Den Aufgabenträgern und Verkehrsanbietern obliegt es, die fortwährend steigenden - und teils politisch initiierten - Anforderungen aktiv in der eigenen Vertriebslandschaft abzubilden. Ein zentraler Baustein ist dabei der Einsatz der geeigneten Expertise und Tools; so wird es effizienter gelingen, die Tarif- und Vertriebsstrukturen zu analysieren und diese flexibel, kundenfreundlich und zukunftsfähig zu optimieren. ▪ LITERATUR [1] Die in diesem Text beschriebenen Entwicklungen fußen auf Pressemitteilungen und Veröffentlichungen zum Deutschlandticket, Beträgen der Kontiki-Konferenzen (2023/ 2024) sowie den Erkenntnissen aus einer für den RMV durchgeführten Vertriebsanalyse (01/ 2023-08/ 2024). [2] Beitrag Oliver Wittke im Rahmen des Mobilitäts- Talks „Rhein-Main-Spree“ am 23.09.2024. Eingangsabbildung: © iStock.com/ MicroStockHub Analyse des Fahrkartenverkaufs im Bus hinsichtlich der betriebswirtschaftlichen, verkehrlichen und sozialen Auswirkungen. Je nach Grad der angestrebten Detailtiefe sollten die Vertriebsstückkosten sowie die Fahrzeit- und Einnahmenverluste berechnet werden; zudem empfiehlt sich die Betrachtung der Fahrgastzahlen, Kundenzufriedenheit und des Aspektes Sicherheit. Entwicklung einer Strategie, die zur optimalen Balance zwischen Kosten und Nutzen führt. Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten, der rechtlichen Rahmenbedingungen und der politischen Ziele. Aufzeigen verschiedener Optionen mit Vor- und Nachteilen, von Abschaffung oder Reduzierung über Beibehaltung bis hin zu Erhöhung oder Differenzierung des Fahrkartenverkaufs im Bus. Vorbereitung der Umsetzung des analysierten Handlungsbedarfs für den Fahrkartenverkauf im Bus. Dazu zählen die notwendigen technischen, organisatorischen und kommunikativen Anpassungen, darunter auch die etwaige Schulung des Fahrpersonals. Bei allen drei Handlungssträngen ist die nachgelagerte und gegebenenfalls begleitende Evaluation der beschriebenen Optimierungsmaßnahmen angeraten. Es empfiehlt sich, die Wirksamkeit der vertrieblichen Anpassungen sowie deren Akzeptanz unter Fahrgästen und Vertriebspersonal auszuwerten und die nächsten Schritte daraus abzuleiten. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Sprungkosten nur mit dem Abschalten ausgewählter Vertriebskanäle oder Ausgabemedien (Papierfahrkarten, Chipkarten) und/ oder eines großen Anteils des Tarifsortiments zu erwarten sind. Besteht aber finanzielle Planungsunsicherheit, so werden viele Akteure diesen mutigen und risikobehafteten Schritt nicht Analyse des bestehenden Bedienkonzepts und -designs hinsichtlich Benutzerfreundlichkeit und Barrierefreiheit; Entwicklung von Verbesserungsvorschlägen, die die Komplexität reduzieren und somit zu einfacherer Bedienung, höherer Akzeptanz und einer geringeren Fehlerquote führen. Analyse des bestehenden Angebots der Fahrkartenautomaten anhand der Verkaufszahlen, Durchführung einer Marktforschung unter Nutzenden, Entwicklung von Vorschlägen für eine vereinfachte und kundenorientierte Angebotsstruktur und -darstellung. Betrachtung der Automatenstandorte hinsichtlich Erreichbarkeit, Nachfragepotenziale und Wirtschaftlichkeit. Identifizierung möglicher Standortverlagerungen oder -zusammenlegungen. Analyse der Ist-Situation in Bezug auf Funktionalität, Sicherheit und Zuverlässigkeit. Entwicklung von Vorschlägen für eine optimierte technische Ausstattung und Wartung. Fokus Fahrkartenverkauf im Bus: Kontrolle statt Vertrieb? Der Fahrkartenverkauf im Bus wird je nach Region bezüglich seines vertrieblichen Mehrwerts unterschiedlich bewertet. Einerseits bietet er eine hohe Flächendeckung und Nähe zum Kunden. Gerade im ländlichen Raum sind Fahrgäste es gewohnt, notfalls beim Fahrpersonal ein Ticket erwerben zu können bzw. gibt es ohne App-, Online- und Automatenzugang keine Alternative. Zudem erfüllen die Vertriebsgeräte eine nicht zu vernachlässigende Kontrollfunktion, sofern sie zur automatisierten Kontrolle von eTickets sowie Barcode-Tickets befähigt sind. Andererseits verursacht die technische Ausstattung hohe Kosten, der Ticketverkauf verlängert die Fahrzeiten und kann die Sicherheit im Fahrbetrieb beeinträchtigen. Zwecks Optimierung der Vertriebsstrategie sind für diesen Handlungsstrang folgende Punkte zu betrachten: Anett Dahl, Dipl.-Geogr., Senior Consultant Mobile Dienste, rms GmbH, Am Hamburger Bahnhof 4, 10557 Berlin anett.dahl@rms-consult.de Eva Möckel, Senior Consultant Vertriebsstrategie, rms GmbH, Am Hamburger Bahnhof 4, 10557 Berlin eva.moeckel@rms-consult.de Philipp Wolf, Management Consultant, Teamleiter Vertriebslösungen, rms GmbH, Am Hauptbahnhof 6, 60329 Frankfurt philipp.wolf@rms-consult.de Bild 2: Aktuelle Fragestellungen im Vertrieb © rms/ Lorenz Crössmann MOBILITÄT Vertrieb Internationales Verkehrswesen (77) 1 ǀ 2025 60 DOI: 10.24053/ IV-2025-0014
