Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2025-0024
0616
2025
772
Das unterschätzte Deutschlandticket
0616
2025
Andreas Krämer
Anna Korbutt
Neue Forschungsergebnisse belegen, dass das Deutschlandticket den Autoverkehr nennenswert einschränkt. Wenn 12–16 % der Fahrten mit dem Deutschlandticket substituierte Pkw-Fahrten darstellen, bedeutet dies (1) weniger CO2-Emissionen und (2) geringere externen Kosten des Autoverkehrs sowie (3) positive Wohlfahrtsgewinne (in Summe ca. 3 Mrd. Euro; Kosten-Nutzen-Analyse). Gelingt es jetzt, ein längerfristiges, stabiles und verlässliches Angebot zu definieren, ergeben sich Impulse für eine Kostensenkung und Digitalisierung, weitere Vereinfachungen der Tarife im Nahverkehr sowie die angestrebte Mobilitätswende.
iv7720024
entpuppen sich viele der Kritikpunkte als unbegründet oder schlichtweg falsch. Es wäre zu einfach, eine medial kritische Berichterstattung primär auf die Schwächen des Mediensystems zurückzuführen. Erstens ist bekannt, dass „höhere Emotionalisierung von Schlagzeilen nicht nur mehr Klicks generiert“, allerdings verbunden mit einem mittelfristigen Effekt, und zwar der Entstehung verzerrter Wahrnehmungen [1]. Zweitens: Mindestens so wichtig ist die vermeintlich unklare Studienlage und Überzogen kritische Sicht auf das Deutschlandticket - der Versuch einer Ursachenforschung Das Deutschlandticket (DT) wird zwar einerseits als Revolution oder als „Game- Changer“ im Nahverkehr beschrieben (Nachfragesteigerung im System, historisch hohe Abonnementzahlen und damit Kundenbindung in der Branche etc.), fast im gleichen Atemzug werden aber in der Regel relativierende Aussagen in die Diskussion eingeführt. Bei näherer Betrachtung vielfach die nicht sachgerechte Interpretation der Analyseergebnisse. Hier lohnt ein Blick zurück auf das DT-Vorgängerticket, das 9-Euro-Ticket. So erscheinen im Herbst 2024, zwei Jahre nach dem 9-Euro- Ticket neue Forschungsergebnisse, die gegensätzlicher nicht sein können: Während eine Studie eine erhebliche Nachfrageverlagerung vom Pkw ausweist [2] (und unmittelbar in Hinblick auf die Methodik kritisiert wird), kommt eine andere Studie zum Ergebnis, es habe keine nennenswer- Das unterschätzte Deutschlandticket Mythen und Fakten in einer empirischen Bestandsaufnahme Deutschlandticket, Nahverkehr, Verkehrswende, Verkehrsmittelverlagerung Neue Forschungsergebnisse belegen, dass das Deutschlandticket den Autoverkehr nennenswert einschränkt. Wenn 12-16 % der Fahrten mit dem Deutschlandticket substituierte Pkw-Fahrten darstellen, bedeutet dies (1) weniger CO 2 -Emissionen und (2) geringere externen Kosten des Autoverkehrs sowie (3) positive Wohlfahrtsgewinne (in Summe ca. 3 Mrd. Euro; Kosten-Nutzen-Analyse). Gelingt es jetzt, ein längerfristiges, stabiles und verlässliches Angebot zu definieren, ergeben sich Impulse für eine Kostensenkung und Digitalisierung, weitere Vereinfachungen der Tarife im Nahverkehr sowie die angestrebte Mobilitätswende. Andreas Krämer, Anna Korbutt Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 24 DOI: 10.24053/ IV-2025-0024 ten Wechselwirkungen zwischen Schiene und Straßenverkehr gegeben („Im Gegensatz zu den Zugfahrten findet hier nur eine kleine Veränderung statt.“) [3]. Dies ist insofern interessant, als dass beide Studien auf Bewegungsdaten (Mobilfunk) basieren. Zu einer Fehlinterpretation war es bereits durch das Statistische Bundesamt, das ebenfalls entsprechende Daten von Teralytics nutzte, im Jahr 2022 gekommen, weil sich beim Schienenverkehr ein erheblicher Nachfragezuwachs von bis zu 40 % einstellte, während gleichzeitig beim Pkw nur geringe relative Nachfragereduzierungen zu erkennen waren [4]. Das Ticket soll zum Fahren im Nahverkehr animiert, aber kaum Leute von der Straße abgezogen haben [5]. Leider wurde in der Betrachtung nur die relative Veränderung, nicht jedoch die absolute Fahrtenveränderung im Straßen- und Schienenverkehr einbezogen (das Plus auf der Schiene entsprach zum Großteil dem Minus beim Autoverkehr). Drittens ist auf eine Vermischung von Interpretation und Meinung hinzuweisen. Beispielsweise führen Follmer und Knie [6] aus, das DT könne „bisher kaum einen Entlastungseffekt verzeichnen. Es wird auf wenige Autofahrten verzichtet.“ Diese Interpretation folgt unmittelbar nach einer Darstellung der empirischen Ergebnisse der Autoren, denen zufolge das DT eine Fahrtenverlagerung vom Pkw in der Größenordnung von bis zu 15 % der DT-Fahrten bewirkt. Diese Interpretation wäre logisch nur schlüssig, wenn z. B. eine Fahrtenverlagerung in der Größenordnung von 10- 15 % grundsätzlich als „nicht nennenswert“ eingestuft wird. Insgesamt ist festzustellen, dass das DT einen schwierigen Stand hat. Es ist einer Vielfalt unterschiedlichen Kritikpunkte ausgesetzt, auch dadurch begünstigt, dass keine klaren Governance-Prozesse festgelegt wurden, es an einer klaren Zieldefinition zum DT fehlt und es zudem an einer klaren Strategie mangelt, wie der Absatz des DT erhöht und die positiven Wirkungen verstärkt werden können [7]. Trotz dieser Barrieren entwickelt sich das DT im Markt sehr dynamisch, nicht zuletzt, weil es eine große Sympathie in der Bevölkerung genießt [8]. Mythen und Fakten zum Deutschlandticket Nachfolgend werden zehn Aussagen zum DT näher beleuchtet, die in unterschiedlichen Abwandlungen in die öffentliche und fachliche Diskussion eingebracht wurden und das DT in ein kritisches Bild rücken bzw. zu einer verzerrten Wahrnehmung führen. Diese Aussagen werden im Folgenden zwar als Narrative isoliert betrachtet, sind allerdings auch voneinander abhängig bzw. bedingen sich gegenseitig. Wie im weiteren Verlauf der Betrachtung belegt wird, ist die Aussage, die eine Nachfrageverlagerung vom Autoverkehr zum Öffentlichen Nahverkehr bestreitet, quasi die „Mutter aller Missverständnisse“ (Bild 1). Mythos 1: „Die Zahl der Nutzer des DT ist gering und bleibt hinter den Erwartungen zurück.“ Ein halbes Jahr nach Markteinführung des DT wird Ende 2023 einerseits die erhebliche Nachfragesteigerung durch das DT als Erfolg unterstrichen („Wir haben Kundenzahlen wie vor Corona, binden Kunden wie nie“), anderseits wird von stabilen Bestandszahlen von etwa 10 Mio. DT gesprochen („Die Zahl ist recht stabil, auch wenn auf niedrigem Niveau weitere hinzukommen.“ [9]). Später ordnet der bayrische Verkehrsminister Bernreiter die Marktsituation wie folgt ein: Die erwarteten 13 Mio. Tickets seien mit dem aktuellen Bestand von 11 Mio. DT nicht erreicht worden: „Bei 84 Millionen Einwohnern ist das nicht der große Renner“ [10]. Aus heutiger Sicht erscheinen beide Aussagen extrem konservativ und jegliche Marktdynamik Bild 1: Mythen zur Wirkung des Deutschlandtickets und Abhängigkeiten Deutschlandticket MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 25 DOI: 10.24053/ IV-2025-0024 Mythos 3: „Das DT führt zu einer Einkommensumverteilung von unten nach oben.“ Häufiger wird beim DT der Verdacht geäußert, es handele sich bei den Nutzern um Personen mit mittleren bis höheren Einkommen [16]. Einige Kritiker gehen sogar so weit und stellen die hohe Kostenentlastung für Pendler, die außerhalb von urbanen Zentren leben, als besonderes Problem dar, weil es eine „Subvention von unten nach oben“ darstelle [17]. Tatsächlich finden sich in unterschiedlichen Studien keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass es durch das DT zu (unerwünschten) Einkommensverteilungswirkungen kommt. So ähnelt die Verteilung der Haushaltsnettoeinkommen der DT-Besitzer sehr stark dem Bevölkerungsdurchschnitt in Deutschland. Bereits beim 9-Euro-Ticket zeigte sich eine Einkommensverteilung ähnlich zur Bevölkerung. Das DT ist somit ein „Ticket für alle“ und trifft die Mitte der Gesellschaft. Mythos 4: „Das Deutschlandticket ist primär ein Angebot für Großstädter.“ Die Einordnung des DT als Angebot für eine spezielle Zielgruppe („Nische in der Gesellschaft“) wird auch mit der Aussage unterstützt, das DT sei primär ein Angebot für Großstädter. Laut der Studie OpinionTRAIN wohnten 52 % der Besitzer des DT im Sep. 23 in Großstädten (0,1 Mio. Einwohner und mehr), 48 % wohnten in Orten mit weniger Einwohausblendend. Ende 2024 wird von einem Bestand von mehr als 14 Mio. DT ausgegangen. Etwa 20-22 Mio. Menschen haben zu diesem Zeitpunkt bereits mindestens in einem Monat das DT besessen [11]. Mythos 2: „Das Potenzial an DT-Nutzern ist mittlerweile ausgeschöpft.“ Die Annahme, der Absatz des DT hätte sich nur wenige Monate nach Marktstart bereits gesättigt, geht einher mit der Vermutung eines sehr limitierten Absatzpotenzials (dieses setzt sich aus Besitzern des DT und Personen zusammen, die das DT in den kommenden Monaten zu kaufen beachsichtigen [12]). Zur Markteinführung lag das Absatzpotenzial des Deutschlandtickets bei etwa 27 % der Bevölkerung ab 18 Jahre [13], etwa ein Jahr später im Jul. 24 werden ebenfalls 27 % ausgewiesen (21 % der Befragten verfügen über das DT, ca. 6 % planen eine Nutzung in den kommenden 2 Monaten [14]). In der Hochrechnung ergibt sich zu diesem Zeitpunkt ein Absatzpotenzial von 17-18 Mio. DT pro Monat. Selbst anderthalb Jahre nach Marktstart (Ende 2024) war das Absatzpotenzial des DT nicht ausgeschöpft. Entsprechende Messungen im Gebiet des Hamburger Verkehrsverbunds (hvv) belegen dies auch (allerdings auf einem deutlichen höheren Niveau als im Bundesdurchschnitt) [15]. nern. Diese Ergebnisse sind in den Folgestudien (Jul. 2024 [14] und Dez. 2024 [11]) ähnlich. Bei aller Unterschiedlichkeit der verfügbaren Studien, ist die positive Korrelation zwischen Quote des DT-Besitzes und der Wohnortgröße unstrittig. Falsch ist allerdings die Aussage, dass das Ticket außerhalb größerer Städte nicht funktioniert. Das DT wirkt dort, wo sich die Menschen gut an den Nahverkehr angebunden fühlen [11]. Analysen aus dem Gebiet des hvv bestätigen dies. Das DT mobilisiert auch im Umland der Großstadt Hamburg Verkehr in Bussen und Bahnen ([18], [19]). Mythos 5: „Es findet beim DT keine nennenswerte Fahrtenverlagerung vom Pkw statt.“ Bereits beim 9-Euro-Ticket war nach der Hälfte des Angebotszeitraums das Zwischenfazit gezogen worden, die bundesweit gültige Flatrate würde im Wesentlichen dazu führen, dass die Ticketnutzer zusätzliche Fahrten unternehmen und nicht etwa Autoverkehr substituieren. Diese Schlussfolgerung legten einerseits die Ergebnisse der Evaluationsstudie (Befragung, später revidiert, nachdem das Erhebungsdesign angepasst werden musste) als auch andererseits Analysen von Destatis auf Basis von Mobilfunkdaten nahe (die Analyseergebnisse stellten weniger das Problem dar, sondern vielmehr die Interpretation der Daten [20]). Beim DT werden entsprechende (unzutreffende) Aussagen im Prinzip 1: 1 übernommen (bespielhaft [21], [22], und [23]). Bild 2: Pkw-Fahrtenverlagerung und induzierter Verkehr beim Deutschlandticket MOBILITÄT Deutschlandticket Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 26 DOI: 10.24053/ IV-2025-0024 Die Zusammenstellung unterschiedlicher Forschungsergebnisse aus 2024, basierend auf Befragungs-, aber auch Beobachtungsdaten, zeigt mit Ausnahme der VDV-Studie (Evaluationsstudie) eine erhebliche Nachfrageverlagerung vom Pkw und gleichzeitig nur einen geringen induzierten Verkehr, der durch das DT generiert wird (Bild 2, Teil A). 1 Interessant ist hierbei auch eine Zeitreihenbetrachtung, die am Beispiel hvv die Entwicklung der Nachfrageverlagerung (im Trend steigend) und den Anteil an induziertem Verkehr (konstant auf niedrigem Niveau) beschreibt (Bild 2, Teil B). Mythos 6: „Größte finanzielle Nutznießer sind Pendler aus dem Umland“ Wenn als Problem des DT beschrieben wird, dass das Ticket eine deutliche Entlastung von Pendlern aus dem Umland der Metropolen darstellt [24], dann beleuchtet dies nur eine Seite der Medaille, nämlich Personen, die bereits vor Einführung des DT eine Abo- Zeitkarte im NV für regelmäßige Wege zur Arbeit genutzt haben. Die empirische Bestandsaufnahme zeigt: Fast ein Drittel der Berufspendler (36 % der Bevölkerung) besitzt ein Deutschlandticket. Bisherige Abschätzungen hatten den Modalanteil des Nahverkehrs beim Berufspendeln deutlich geringer beziffert. Aktuell ist jeder zweite DT-Besitzer ein Berufspendler. Das Ticket wird von ihnen zu fast 90 % für die regelmäßigen Fahrten zum Arbeitsplatz genutzt. Von dieser Gruppe (6,3 Mio. Personen, Dez. 2024) sind wiederum 52 % Alt-Abo-Kunden und 48 % Neu-Abo-Kunden des Deutschlandtickets (DT-Besitzende, die vor dem Mai 2023 kein Abo im Nahverkehr besessen haben). Letztere waren in der Regel Gelegenheitsnutzer des ÖPNV und haben für das Pendeln bisher überwiegend den Pkw genutzt [25]. Mythos 7: „Der Beitrag des DT zum Klimaschutz ist mit „überschaubar“ schon euphorisch beschrieben.“ Die bisherigen Abschätzungen zur Klimawirkung des DT zeigen nicht nur erhebliche Bandbreiten, sondern insgesamt auch niedrige Niveaus. In seinem aktuellen Bericht gibt der Expertenrat für Klimafragen eine Bandbreite von 0,44 bis 2,8 Mio. t CO 2 pro Jahr an vermiedenen Emissionen durch das DT an [26]. Andere Quellen können ebenfalls innerhalb dieser Bandbreite eingeordnet werden, so Liedtke mit etwa 1 Mio. t CO 2 p.a. [27] oder der VDV mit ca. 1,5 Mio. t CO 2 p.a. [28]. Erste Ergebnisse der Evaluation im Auftrag des BMDV benennen eine Range auf höherem Niveau (2,3 bis 3,4 Mio. t CO 2 p.a.) [29]. Eigenen Berechnungen zufolge liegt die Einsparung von CO 2 -Emissionen in der Größenordnung von 4,2 bis 6,5 Mio. t CO 2 pro Jahr [25]. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die von uns genannten Werte den Bestand von etwa 14 Mio. DT (Dez. 2024) zugrunde legen und von einer stärkeren Reduzierung des Autoverkehrs durch das DT als bei den anderen genannten Quellen ausgegangen wird. Mythos 8: „Das Ticket kostet uns alle viel Geld und bringt kaum Nutzen.“ In der Wirkungskette, die als Nukleus keine Nachfrageverlagerungswirkung vom Pkw beim DT unterstellt, bleiben auch die positiven Folgewirkungen einer Substitution des Autoverkehrs außen vor [30],[20]. Dabei handelt es sich nicht nur um die Klimawirkungen durch die Vermeidung von Emissionen im Autoverkehr, sondern auch um die vermiedenen externen Kosten des Pkw-Verkehrs. In einer aktuellen Abschätzung werden diese auf 2,4 bis 3,7 Mrd. Euro pro Jahr taxiert. Auf der Nutzenseite spielt neben der Reduzierung der externen Kosten die Konsumentenrente durch geringere Ausgaben für Mobilität eine zentrale Rolle (bei aktuellem DT-Bestand mindestens 3,1 Mrd. Euro Konsumentenrente p.a.). In einer volkswirtschaftlichen Betrachtung sind dem Nutzen durch das Ticket die Kosten gegenüberzustellen (Einnahmenverluste der Transportunternehmen und der Verkehrsbranche lagen im Jahr 2024 bei ca. 2,7 Mrd. Euro p.a.). Der resultierende gesamtgesellschaftliche Netto-Nutzen beträgt mindestens 3 Mrd. Euro p.a. [25]. 2 Mythos 9: „Die Probleme im Nahverkehr sind lösbar, wenn das Ticket sehr teuer wird.“ Ein besonders gravierendes Missverständnis liegt darin, die durch das DT verursachten Mindereinnahmen bei den Verkehrsunternehmen mit der Finanzierungslücke im Nahverkehr gleichzusetzen. Beide Aspekte sind aber getrennt zu betrachten. Hierzu ein Gedankenexperiment für eine „Welt ohne Deutschlandticket“: Für 2025 errechnet sich eine Finanzierungslücke von 1,4 Mrd. Euro ohne das DT. Dieses Jahr bezahlen Bund und Länder voraussichtlich je 1,5 bis 1,65 Milliarden. Ohne DT entfiele aber der Bild 3: Entwicklung der ÖPNV- und Pkw-Nutzung im Hamburger Verkehrsverbund (hvv) Deutschlandticket MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 27 DOI: 10.24053/ IV-2025-0024 LITERATUR [1] Andres, R.; Berger, L. M. (2025): Digitale Medienmärkte: Was tun gegen Hassrede und Falschinformation? In: Wirtschaftsdienst (105), H. 3, S. 161-166. [2] MCC Berlin (2024): D-Ticket Impact Tracker. Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC Berlin), https: / / mcc-berlin-ariadne.shinyapps.io/ dticket-tracker/ #In%20 K%C3%BCrze. (Abruf: 15.9.2024). [3] Liebensteiner, M.; Losert, J.; Necker, S.; Neumeier, F.; Pätzold, J.; Wichert, S. (2024): Auswirkungen des 9-Euro-Tickets auf das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung. In: ifo Schnelldienst, (77), H. 8, S. 35-38. [4] Herrmann, U. (2022): Debatte um das 9-Euro-Ticket: Bloß nicht verlängern, Taz.de v. 12.07.2022. h t t p s: / / t a z .d e / D e b a t t e u m d a s - 9 - E u r o -T i cket/ ! 5864045/ . (Abruf: 13.4.2025). [5] Schlesiger, C.; Biederbeck-Ketterer, M. (2022): Das Statistik-Rätsel um das 9-Euro-Ticket, Handelsblatt v. 31.08.2022. https: / / www.wiwo.de/ politik/ deutschland/ oepnv-streit-das-statistikraetsel-umdas-neun-euro-ticket/ 28638176. html. (Abruf: 13.4.2025). [6] Follmer R.; Knie, A. (2024): Mobilitätsreport No. 9, Mit Homeoffice und Deutschlandticket in die Mobilitätszukunft? Ergebnisse aus Beobachtungen per repräsentativer Befragung, April 2024, Bonn. [7] Korbutt, A. (2024): Anna-Theresa Korbutt: Den ÖPNV einfach machen. Interview v. 25. Juni 2024, Eurailpress, https: / / www.eurailpress.de/ nachrichten/ personen-positionen/ detail/ news/ annatheresa-korbutt-den-oepnv-einfach-machen. html. (Abruf: 13.4.2025). [8] DZSF (2025): DZSF-Umfrage zeigt: Das Deutschlandticket ist eine Erfolgsgeschichte! Fachmitteilung 04 / 2025 vom: 26.03.2025, https: / / www. dzsf.bund.de/ SharedDocs/ Fachmitteilungen/ DZSF/ 2025/ FM - 04_ 2025_ Deut schlandticket. html. (Abruf: 13.4.2025). [9] N.N. (2023): Vorläufige Bilanz - Ein halbes Jahr Deutschlandticket: Was hat es gebracht? RND v. 29.10.2023, https: / / www.rnd.de/ wirtschaft/ ein-halbes-jahr-deutschlandticket-was-hat-es- Haupt-Verkehrsmittel nutzen, nimmt im Trend ab. Diese Trends zeigen sich nicht nur im Stadtgebiet Hamburg, sondern auch im hvv-Umland (auf jeweils unterschiedlichem Niveau; im Umland spielt die Nutzung des Pkw eine größere Rolle, die Nutzerquote des DT ist geringer als im urbanen Raum). Das DT hat bereits positive Impulse hinsichtlich einer Kostensenkung sowie einer Vereinfachung der Tariflandschaft hervorgebracht. So haben einige Verkehrsverbünde als Konsequenz des DT ihr Tarifportfolio drastisch verschlankt, mit positiven Folgen für den Vertriebsaufwand einerseits und die Kundenwahrnehmung anderseits. Durch die Vereinheitlichung und Digitalisierung der Vertriebssysteme ergeben sich darüber hinaus erhebliche Kostensenkungspotenziale. Unsere Befragungsergebnisse belegen zusätzlich, dass eine Bereitschaft besteht, auf das Auto zugunsten der ÖPNV-Nutzung zu verzichten [11]. Voraussetzung dafür ist aber erstens ein gutes NV-Angebot (adäquate Taktung und Fahrplan etc.) und zweitens ein verlässliches DT-Angebot. Um letzteres in der Wahrnehmung der Verbraucher zu verankern, ist es erforderlich, Stabilität und Planbarkeit des DT verbindlich zu kommunizieren und damit Diskussionen um eine unsichere Zukunft („Deutschlandticket nicht finanzierbar“, „Deutschlandticket vor dem Aus“, „Deutschlandticket wird deutlich teurer“), die seit Mai 2023 die Berichterstattung fast durchweg geprägt haben, konsequent zu unterbinden. Damit ließen sich auch bestehende Absatzpotenziale, zum Beispiel im Bereich Jobtickets leichter erschließen, indem den Unternehmen eine mittelfristige Perspektive geboten wird. Gelingt es jetzt, ein längerfristig stabiles und verlässliches DT-Angebot zu definieren, ergeben sich Impulse für eine Kostensenkung und Digitalisierung, eine weitere Vereinfachung der Tarife im Nahverkehr sowie eine Mobilitätswende durch den Abbau des Pkw-Bestands in Deutschland. ▪ Zuschuss des Bundes, die Länder müssten allein zahlen. Folglich würden die Länder kaum weniger zuschießen müssen als mit dem Ticket! In einem solchen Szenario ist auch die Nachfragewirkung einzubeziehen. Ohne das DT fehlen dann ca. 1,1 Mrd. Fahrten im System. Dies entspricht etwa 10 % des NV-Fahrgastvolumens im Jahr 2024. 3 Mythos 10: „Das DT ist nur für Anhänger bestimmter politischer Parteien relevant.“ Im Rahmen des Bundestagswahlkampfs wurde das Thema DT parteipolitisch sehr unterschiedlich behandelt und positioniert. Es zeigt sich aber, dass es in der Bevölkerung unabhängig von der Parteipräferenz, aber auch unabhängig von der konkreten Nutzung des DT eine hohe Akzeptanz für das Ticket gibt. Dies haben unterschiedliche Studien bestätigt ([11], [8]). Deutschlandticket: Ein Schritt in Richtung Verkehrswende Die Grundidee der Verkehrswende basiert auf dem Dreiklang aus Vermeidung, Verlagerung und Verbesserung: Der Personenverkehr soll so weit wie möglich vermieden, der nicht vermeidbare Verkehr auf umweltschonendere Verkehrsmittel verlagert und zuletzt durch eine bessere Organisation und neue Technologien verbessert werden [31]. Wenn das DT einen Beitrag zur Verkehrswende leisten soll, dann ist seine Wirkung anhand dieser Kriterien zu bewerten. Klares Ergebnis einer empirischen Bestandsaufnahme zur Nachfragewirkung des DT aus den ersten fast zwei Jahren ist eine primäre Fahrtenverlagerung des Autoverkehres und gleichzeitig ein maximal geringer induzierter Verkehr [25]. Mittelfristig sind positivere Wirkungen erwartbar, wenn sich das DT als planbares Angebot etabliert. Die Aussagen im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung geben insofern Anlass zu einem positiven Ausblick [32]: „Das Deutschlandticket wird über 2025 hinaus fortgesetzt. Dabei wird der Anteil der Nutzerfinanzierung ab 2029 schrittweise und sozialverträglich erhöht. Um Planungssicherheit für die Kunden beim Ticket, aber auch für Bund und Länder bei der Finanzierung zu gewährleisten, werden die Kosten für das Ticket nach einem festen Schlüssel aufgeteilt.“ Durch das DT sind bereits jetzt wichtige Impulse für eine Mobilitätswende gegeben worden. Die Zeitreihen-Betrachtung für den hvv belegt dies beeindruckend (Bild 3). Seit DT-Marktstart wird der ÖPNV stärker genutzt (der Anteil der Nicht- oder Selten-Nutzer des Nahverkehrs sinkt, der Anteil der Intensiv-Nutzer steigt an). In der Gegenbewegung zeigt sich eine Reduzierung der Dominanz des Pkw in der Verkehrsmittelwahl: Der Anteil der Pkw-Nicht-Nutzer nimmt zu, der Anteil der Menschen, die den Pkw als ENDNOTEN 1 Auch beim 9-Euro-Ticket stand die Hypothese von einem stark induzierten Verkehr im Raum. Ausgangspunkt war, dass die Studienergebnisse des VDV in einer ersten Bestandsaufnahme (Jun./ Jul. 2022) kaum eine Verlagerung vom Pkw auswiesen, während etwa 27-% der Fahrten mit dem 9-Euro- Ticket erst durch das Angebot selbst entstanden sein sollten (28-% ohne Angaben bzw. „weiß nicht“) [20]. Eine Anpassung des Fragedesigns änderte dann später das Bild. Die Ergebnisse des VDV in Bezug auf den induzierten Verkehr beim 9-Euro- Ticket wurden (dann rückwirkend) in der dann folgenden Berichterstattung erheblich geringer eingeschätzt. Allerdings wurden die Verzerrungen im Fragedesign (trotz „Schärfung der Formulierung“) nicht komplett aufgelöst und prägen auch die Ergebnisse zum DT. Insgesamt ist also festzustellen: Die abweichenden Ergebnisse der VDV-Studie lassen sich zu einem erheblichen Teil durch das Fragedesign erklären [25]. 2 Die von Krämer [20] vorgelegte erste Kosten- Nutzen-Analyse zum DT bezifferte den volkswirtschaftlichen Netto-Nutzen des DT auf ca. 1,7 Mrd. Euro pro Jahr (Einführungsphase, mit angepassten externen Kosten ca. 1,9 Mrd. Euro pro Jahr). Die aktuellen Abschätzungen gehen von einem deutlich höheren Wert aus, u.a. weil ein größerer Bestand (14,1 statt 11 Mio. DT) zugrunde gelegt wurde, die Preisbereitschaften für das DT im Jahr 2024 höher als in der Einführungsphase sind und sich die Nachfrageverlagerung vom Pkw seit Markteinführung kontinuierlich erhöht hat (siehe dazu auch Bild 2, Teil B). 3 Die eigenen empirischen Ergebnisse gehen von etwa 21 % Mehrverkehr durch das DT aus (79 % der Fahrten sind bestehende Nachfrage, 21 % der Fahrten sind neu hinzugekommen, d.h. induziert oder verlagert). Pro Jahr sind 5,0 -5,2 Mrd. Fahrten mit dem DT unternommen worden, darunter. ca. 1,1 Mrd. zusätzliche Fahrten. Für 2024 werden ca. 11 Mrd. Fahrten im Nahverkehr insgesamt angenommen. MOBILITÄT Deutschlandticket Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 28 DOI: 10.24053/ IV-2025-0024 gebracht-WAQOQRT TJZLSFHUYUEZXFQL AW Y. html. (Abruf: 13.4.2025). [10] N.N. (2023): Bernreiter: Deutschland-Ticket wird teurer als 49 Euro. ZEIT online v. 18. November 2023, https: / / www.zeit.de/ news/ 2023-11/ 18/ bernreiter-deutschland-ticket-wird-teurer-als-49-euro. (Abruf: 13.4.2025). [11] Krämer, A.; Wilger, G.; Bongaerts, R. (2025): Deutschlandticket zum Preis von 29 Euro - Ticketbestand, Einnahmenwirkung und Verkehrsverlagerung. Gutachten im Auftrag von Greenpeace e.V., Hamburg. [12] Krämer, A.; Mietzsch, O. (2025): The Future of the German-wide Public Transit flatrate ticket: Welfare Economic Consideration, Transport Transition and Financing Options. Paper submitted for presentation at the 104th Annual Meeting Transportation Research Board, Washington D.C., January 2025. [13] VDV und Deutsche Bahn (2024): Evaluation zum Deutschland-Ticket, 3. Quartalsbericht 2024, Berlin, 02. Dezember 2024, S. 12. [14] Koordinierungsrat Deutschlandticket (2024): Prognose und Preisszenarien Deutschlandticket. Hamburg.14.10.2024, https: / / infoportal.mobil. nr w/ fileadmin/ 02_Wiki _ Seite/ 01_Organisation_Finanzierung/ 17_Deutschlandticket/ Prognose_und_Preisszenarien_Deutschlandticket.pdf. (Abruf: 14.3.2025). [15] Korbutt, A.; Dürselen, C.; Krämer, A. (2025): Preiswahrnehmung im Nahverkehr: Wie das Deutschlandticket die Preiskommunikation im Hamburger Verkehrsverbund (hvv) verändert. In: Kalka, R; Krämer, A.: Preiskommunikation: Strategische Herausforderungen und innovative Anwendungsfelder. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 401-421. [16] Sternberg, J. (2023): Boom außerhalb der Speckgürtel? Wem das Deutschlandticket wirklich nützt. RND v. 01.05.2023. https: / / www.rnd.de/ politik/ deutschlandticket-wem-es-wirklich-nuetzt-4HUEYDCNNVFHXOF22YII7DG3D4.html. (Abruf: 19.09.2023). [17] Neumann, P. (2023): Bahnexperte zum Deutschlandticket: „Ich wünsche mir, dass es wieder abgeschafft wird“. Berliner Zeitung v. 30.04.2023, https: / / www.berliner-zeitung.de/ mensch-metropole/ deutschlandticket-9-euroticket-bahnexper te -ich-wuensche -mirdassdas-ticket-wieder-abgeschafft-wird-christianboettger-db-bahn-bvg-vdv-li.342866 (Abruf: 19.09.2023). [18] Krämer, A.; Korbutt, A. (2023): Das Deutschlandticket im Kontext der Stadt-Land-Diskussion. In: Transforming Cities (9), H. 4, S. 46-52. [19] Krämer, A.; Brocchi, D. (2024): Die Wirkung des Deutschlandtickets in Städten. In: Transforming Cities, (10), H. 4, S. 26-33. [20] Krämer, A. (2024): New Mobility - vom 9-Euro- Ticket zur Verkehrswende. Springer, Wiesbaden. [21] Mietzsch, O. (2023): Vom 9-Euro-Ticket zum Deutschlandticket. Rabattierte Pauschalpreistickets als Gamechanger für die Verkehrswende? In: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft (93) H. 1, S. 14-17. [22] UBA (2023): CLIMATE CHANGE 39/ 2023 - Projektionsbericht 2023. Erstellt vom Öko-Institut, Fraunhofer ISI, IREES GmbH und Thünen-Institut. [23] Expertenrat für Klimafragen (ERK) (2024): Prüfbericht zur Berechnung der deutschen Treibhausgasemissionen für das Jahr 2023, Berlin, S. 123. [24] Berschin, F.; Böttger, C. (2023): Auswirkungen des 49-Euro-Tickets auf Verkehrsverbünde und Einnahmenaufteilung. In: Wirtschaftsdienst (103), H. 3, S. 186-191. [25] Koch, N.; Amberg, M.; Krämer, A.; Wilger, G.; Bongaerts, R. (2025): Faktencheck Deutschlandticket: Eine Bestandsaufnahme der empirischen Evidenz. Kopernikus-Projekt Ariadne, Potsdam, 3.4.2025 https: / / doi.org/ 10.48485/ pik.2025.005. [26] ERK (2025): Zweijahresgutachten 2024 - Gutachten zu bisherigen Entwicklungen der Treibhausgasemissionen, Trends der Jahresemissionsgesamtmengen und Jahresemissionsmengen sowie Wirksamkeit von Maßnahmen (gemäß § 12 Abs. 4 Bundes-Klimaschutzgesetz), Expertenrat für Klimafragen, 5. Februar 2025, Berlin. [27] Liedtke, G. (2023): Deutschlandticket: Erwartungen, Zielgruppen und Mobilitätsverhalten. DLR v. 26. Mai 2023, https: / / www.dlr.de/ de/ ak- Andreas Krämer, Prof. Dr., Vorstandsvorsitzender der exeo Strategic Consulting AG in Bonn und Direktor des VARI (Value Research Institute), Iserlohn. andreas.kraemer@exeo-consulting. com Anna Korbutt, seit April 2021 Geschäftsführerin im hvv. Zuvor war sie bei diversen Bahnunternehmen im DACH Raum verantwortlich für Strategie, Pricing und Produktentwicklung. korbutt@hvv.de tuelles/ nachrichten/ 2023/ 02/ DT-erwartungenzielgruppen-und-mobilitaetsverhalten. (Abruf: 15.4.2025). [28] VDV und Deutsche Bahn (2025): Interpretierende Zusammenfassung, Kernaussagen der bundesweiten Marktforschung zum Deutschland-Ticket (Berichtszeitraum 2024), 24.03.2025, Berlin. [29] infas (2024): Evaluation des Deutschlandtickets: Erster Zwischenbericht November 2024 im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV). November 2024, Bonn. [30] Krämer, A. (2025): Deutschlandticket: Weniger ein Finanzierungsproblem - mehr ein Wohlfahrtsgewinn! Vortragsreihe 1 Thema - 1 Stunde, 14.04.2025, Berlin. [31] Hesse, M. (2018): Ein Rückblick auf die Zukunft. 25 Jahre Verkehrswende. Ökologisches Wirtschaften, (33), H. 2, S. 16-18. [32] CDU/ CSU/ SPD (2025): Verantwortung für Deutschland - Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperiode. https: / / www.spd.de/ fileadmin/ Dokumente/ Koalitionsvertrag2025_bf.pdf. (Abruf: 13.4.2025). Eingangsabbildung: © nikkimeel - stock.adobe.com Deutschlandticket MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 29 DOI: 10.24053/ IV-2025-0024
