Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2025-0028
0616
2025
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Betriebliche Resilienz im spurgeführten ÖPNV
0616
2025
Stefan Fach
Jörn Schönberger
Felix Heizler
Nico Strasdat
Im spurgeführten ÖPNV kann auf Streckenstörungen nicht durch flexibles Ausweichen oder spontane Fahrwegänderungen reagiert werden. Um a priori Umleitungen zu bewerten, generiert ein Open Source Simulationstool ÖV-Infrastrukturen nur aus Open-Data-Quellen. In darauf aufbauenden Betriebsszenarien können auf beliebigen Streckenabschnitten Störungen etabliert und Gegenmaßnahmen eingeleitet, simuliert und deren Auswirkungen auf den Betriebsablauf ermittelt werden. Dieses Tool ermöglicht eine objektive Bewertung der Infrastruktur im Hinblick auf Widerstandsfähigkeit und Netzgestaltungsmaßnahmen.
iv7720041
möglichst schnelle Betriebsstabilisierung zu bewerten. Eine schnelle Betriebsstabilisierung und die Rückkehr zum Fahrplantakt sind anzustreben und stellen wesentliche Kriterien für die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) eines ÖPNV-Netzes gegenüber Störungen dar. Im Forschungsprojekt „Modellentwicklung zur Analyse der Widerstandsfähigkeit von Ausgangslage Im schienengebundenen ÖPNV müssen Umleitungsstrecken als Reaktion auf spontan auftretende Streckensperrungen in den aktuellen Betrieb integriert werden. Einerseits sind hier sinnvolle Streckenführungen zu identifizieren. Andererseits ist die Leistungsfähigkeit von Umleitungsstrecken im Hinblick auf eine ÖPNV-Netzen unter betrieblichen Störfällen“ des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung beim Eisenbahn-Bundesamt (DZSF) wurden Ansätze zur Quantifizierung der Widerstandsfähigkeit von ÖPNV-Netzen erforscht. Ziel war es, eine objektive Bewertung der Betriebsqualität und Widerstandsfähigkeit zu ermöglichen. Durchgeführt wurde Betriebliche Resilienz im spurgeführten ÖPNV Modellentwicklung zur Analyse der Widerstandsfähigkeit von ÖPNV-Netzen gegenüber betrieblichen Störfällen Störungsauswirkungen, Gegenmaßnahmen, Netzgestaltung, Simulationsmodell, Open Data, Open Source, Widerstandsfähigkeit/ Resilienz Im spurgeführten ÖPNV kann auf Streckenstörungen nicht durch flexibles Ausweichen oder spontane Fahrwegänderungen reagiert werden. Um a priori Umleitungen zu bewerten, generiert ein Open Source Simulationstool ÖV-Infrastrukturen nur aus Open-Data-Quellen. In darauf aufbauenden Betriebsszenarien können auf beliebigen Streckenabschnitten Störungen etabliert und Gegenmaßnahmen eingeleitet, simuliert und deren Auswirkungen auf den Betriebsablauf ermittelt werden. Dieses Tool ermöglicht eine objektive Bewertung der Infrastruktur im Hinblick auf Widerstandsfähigkeit und Netzgestaltungsmaßnahmen. Stefan Fach, Jörn Schönberger, Felix Heizler, Nico Strasdat Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 41 DOI: 10.24053/ IV-2025-0028 das Auftragsforschungsvorhaben von der Professur für Verkehrsbetriebslehre und Logistik der Technischen Universität Dresden in Zusammenarbeit mit der INAVET - Institut für angewandte Verkehrstelematik GmbH, Dresden. Begrifflichkeiten Der Planbetrieb wird durch den Fahrplan definiert. Aufgrund von verschiedenen vereinfachten Annahmen bei der Fahrplanerstellung und -veröffentlichung kommt es im realen Betrieb zu kleineren Abweichungen vom Fahrplan. Hierzu gehören z. B. nicht berücksichtigte äußere Einflüsse. Die Veröffentlichung von Fahrplänen, die Abfahrtzeiten minutengenau darstellen, stellt eine Ungenauigkeit dar, da Fahrtzeiten typischerweise nicht genau volle Minuten umfassen. Oftmals werden darauf aufbauend Ankunftszeiten an einer Haltestelle identisch zur Abfahrtzeit angenommen, so dass keine Zeit für Fahrgastwechsel besteht. Die sich aus diesen Vereinfachungen ergebenden, oftmals kleinen und tolerierbaren Abweichungen bezeichnen wir als „Grundrauschen“ und den tatsächlich daraus resultierenden Betrieb als „Regelbetrieb“. Wir nehmen an, dass im Regelbetrieb die Infrastruktur mit allen Betriebsmitteln einwandfrei funktioniert. Störungen sind meist unerwartet eintretende Ereignisse, welche den Betriebsablauf beeinflussen. Diese Planabweichungen können unmittelbar oder nach kurzer Zeit zu Leistungsdefiziten für die Fahrgäste führen. Geplante Ankunftsbzw. Abfahrtzeiten können nicht mehr wie versprochen realisiert werden. Zusätzlich setzen sich aufgrund hoher Vernetzung und Interaktion der Beteiligten kurze, lokale Störungen fort. Größere Teile des ÖPNV-Netzwerks funktionieren dann nicht mehr wie geplant. Je nach Ort, Dauer und Art können schon kleine Störungen erhebliche Folgen für das Gesamtsystem haben. Die zugrundeliegende, oftmals nicht unmittelbar erkennbare Ausbreitung solcher Störungen erschwert es, insbesondere auch für unvorhersehbare Ereignisse im Rahmen des Störfallmanagements, optimale Maßnahmen zu finden oder gar Ursachen präzise zu identifizieren. Unterschiedliche ÖPNV-Netze sind dabei aufgrund von betrieblichen und nichtbetrieblichen Ursachen (z. B. Fahrzeugstörungen, Verkehrsunfälle, Baustellen, Lichtsignalanlagenausfall, Falschparker) gegenüber Verspätungen unterschiedlich anfällig. Vor allem spurgeführte Verkehrsträger wie Straßenbahnen können weder durch flexibles Ausweichen noch spontane Fahrwegänderungen auf Störereignisse reagieren. Forschungsansatz Simulation Das primäre Forschungsziel des vorgenannten Projekts umfasste die Entwicklung von Kennzahlen oder Key-Performance- Indikatoren (KPIs) zur Quantifizierung der Wirksamkeit von Umleitungsmaßnahmen im Hinblick auf eine Resilienzbewertung für ÖPNV-Netze. Ausgangspunkt hierfür waren KPIs zur Quantifizierung von Nervosität und Flexibilität eines derartigen Netzes. KPIs der Nervosität bewerten den Umfang von störungsinduzierten Planabweichungen, während KPIs der Flexibilität ausdrücken, in welchem Umfang eine Gegenmaßnahme, z. B. eine Umleitung, Störungsauswirkungen kompensieren kann. Die Berechnung dieser KPIs erfordert Daten aus betrieblichen ÖPNV-Szenarien mit und ohne Störereignisse sowie mit und ohne eingeleitete Gegenmaßnahmen. Da Realdaten hier nur eingeschränkt vorliegen, wurde eine holistische ÖPNV-Netzsimulation zur Datenerzeugung genutzt. Die im Forschungsprojekt entwickelten KPIs können für zwei verschiedene Bewertungen genutzt werden. Erstens kann eine konkrete Umleitungsstrecke im Hinblick auf ihren Beitrag zur schnellen Rückkehr in einen Regelbetrieb bewertet werden. Hierfür wurden im Forschungsprojekt verschiedene lokale Störungsereignisse und ausgewählte Umleitungsstrecken exemplarisch untersucht. Zweitens ist es auch möglich, Infrastrukturänderungen zu bewerten, die zusätzliche Umleitungsstrecken ermöglichen oder auch verhindern (z. B. der Bau/ Ausbau von Weichen). Im Rahmen des Projekts wurde die durch den Einsturz der Carolabrücke notwendige Reorganisation des Dresdner Straßenbahnnetzes untersucht. Modellierung und Datengrundlage Eine objektive Bewertung der Widerstandsfähigkeit der bestehenden Infrastruktur ermöglicht eine objektive Planbarkeit des öffentlichen Verkehrssystems. Verfügbare Simulationstools sind oft komplex und bieten keine oder unzureichende Auswertungsmöglichkeiten. Sie erfordern einen sehr hohen Arbeitsaufwand bei der Konfiguration sowie die Anpassung eines einzelnen Netzwerks. Durch Bereitstellung eines Open-Source- Tools, welches a) die Netzwerknachbildung weitestgehend automatisiert übernimmt und b) die Bewertung (hypothetischer) Gegenmaßnahmen ermöglicht, kann ein Mehrwert geschaffen werden. Die Verwendung von Open Data erleichtert den Zugang zu den Informationen, wobei insbesondere die Datenqualität und Verfügbarkeit von Informationen über öffentliche Verkehrssysteme zu beachten sind. In der Studie wurde ein Multi-Agenten-Simulationssystem (MAS-System) entwickelt. Dieses umfasst einerseits ein detailliertes Infrastrukturmodell und andererseits eine Simulations-Engine für die Nachbildung von Betriebsprozessen in dieser Infrastruktur. Das MAS-System ist frei zugänglich [1]. Grundlage bildete die Software B-u-S-Sim [2] der Professur für Verkehrsbetriebslehre und Logistik der TU Dresden. Die Basisidee eines Multi-Agenten-Systems (MAS) besteht darin, verschiedene (handelnde) Bestandteile des betrachteten Gesamtsystems („Agenten“) zu definieren und das Verhalten dieses Gesamtsystems durch die Beschreibung von Regeln für die Interaktionen zwischen den Agenten zu beschreiben [3]. Das MAS-System nutzt derzeit ausschließlich Open-Data-Quellen und Open-Source- Software und bildet die Straßenbahnnetze der vier im Projekt involvierten Verkehrsbetriebe der Städte Dresden, Leipzig, Bonn und Jena ab. Mittels Infrastrukturdaten aus OpenStreetMap [4] sowie ergänzenden DELFI-Fahrplandaten [5] lassen sich die Straßen- und Schieneninfrastruktur sowie die Linienverläufe nachbilden. Mithilfe des zentralen Haltestellenverzeichnisses [6] können die Haltepunkte präzise zugeordnet werden. Die Verfügbarkeit und Qualität der öffentlich verfügbaren Daten zum ÖPNV ist sehr heterogen. Das Vorgehen funktioniert nur dann, wenn die Infrastrukturdaten ge- Bild 1: Rekonstruiertes Straßenbahn-Netzwerk Dresden mit Carolabrücke Bild 2: Rekonstruiertes Straßenbahn-Netzwerk Dresden ohne Carolabrücke TECHNOLOGIE Resilienz Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 42 DOI: 10.24053/ IV-2025-0028 gen quantifizieren, inwieweit eine Gegenmaßnahme G die Nervosität eines Systems im Falle einer Störung beeinflusst, so wird diese durch Flexibilitätsmaße beschrieben. Möchte man die Flexibilität einer Gegenmaßnahme im Verhältnis zu eingesetzten Mitteln/ Ressourcen quantifizieren, so werden hier für Robustheitsmaße verwendet. Das Zusammenwirken verschiedener Eigenschaften eines ÖPNV-Systems führt zu einer beobachtbaren Leistungsfähigkeit wie z. B. der Pünktlichkeit. KPIs quantifizieren diese Eigenschaften. Hierzu zählen im Kontext von ÖPNV-Systemen u. a. resultierende Fahrgeschwindigkeiten, Haltezeiten, Fahrzeiten, Fahrgastreisezeit, Netzkapazität (wie viele Passagiere haben sich im Modell über den Abschnitt bewegt), Knotenverzögerungen (LSA-Anforderungsstörung, Weichenansteuerung), Ankunftssowie Abfahrtzeiten. In Bild 3 stellt die grün gepunktete Linie den Planbetrieb anhand einer ausgewählten KPI im Zeitverlauf dar. Typischerweise schwankt der in der Realität tatsächlich beobachtete Wert dieser KPI auch ohne Störung leicht um den Zielwert, da es immer nicht erwartete kleine Störeinflüsse im Netz gibt (z. B. die Fahrtzeit zwischen zwei Haltestellen). Dies stellt den Regelbetrieb dar. Die schwarze Kurve in Bild 3 repräsentiert die tatsächlich beobachtete Systemperformance, z. B. die Pünktlichkeit von Abfahrten in einem System S des betrachteten Netzwerks in einem Zeitraum T = [t 0 ; t]. Die geplante Systemperformance wird zum Zeitpunkt t e durch ein eintretendes Störungsereignis S, welches bis zum Zeitpunkt t f mäß der Konvention PTV2 in OpenStreet- Map entsprechend hinterlegt worden sind. Auch die Vollständigkeit der Infrastrukturdaten ist notwendig. Diese ist im Schienenverkehr im Stadtverkehr größtenteils gegeben. Im Gegensatz dazu gibt es keine frei verfügbaren Informationen über die von Bussen befahrenen Straßen, so dass automatisiert weder eine straßengenaue Umlaufplanung in der Simulation modelliert, noch geeignete Ausweichrouten festgelegt werden können. Zudem steht den Verkehrsbetrieben kein allgemein gültiger Verkehrsnachfrage- Datensatz zur Verfügung, sodass in der Simulation nur die Betriebsqualität betrachtet wird und die Perspektive der Fahrgäste im Rahmen des Projekts nicht betrachtet wird. Die Modellierung beschränkt sich daher auf die Straßenbahninfrastruktur. Die Bilder 1 und 2 zeigen das rekonstruierte Straßenbahn-Netzwerk von Dresden mit den Linienverläufen im Zustand mit (links) und ohne Carolabrücke (rechts). Die roten Linien stellen zweigleisige Infrastrukturabschnitte dar, während die schwarz eingefärbten Abschnitte eingleisige Strecken mit Zwei-Richtungsverkehr repräsentieren. Schematisch ist der Verlauf der Elbe in blau angezeigt. Durch die im Projekt entwickelte Software kann ein Gesamtnetz aus Open-Data-Quellen schnell, aber mit hoher Präzision vollständig und im Wesentlichen automatisiert als mathematischer Graph rekonstruiert werden. Damit wird der Aufwand zur Vorbereitung des Simulationssystems sehr klein. Insbesondere können auch zeitnah Änderungen an der Infrastruktur bzw. den Linienführungen und Fahrplänen aus den Open-Data-Quellen übernommen werden. Im Modell können auf beliebigen Streckenabschnitten richtungsfein Störungen mit festgelegter Dauer definiert werden. Die Attribuierung erlaubt die Festlegung der Geschwindigkeitsbeschränkung für diesen Abschnitt. Von kompletter Sperrung (0 km/ h) bis zu zähfließendem Verkehr können so weitere feine Szenarienunterschiede eingepflegt und die Auswirkungen dieser auf den Betriebsablauf bestimmt werden. Die unterschiedlichen Ursachen für Störungen in der Realität haben für die Simulation keine Relevanz. Als Gegenmaßnahme können je nach Störungsort geeignete Alternativrouten vorprogrammiert und miteinander verglichen werden. Für unterschiedliche Linienverläufe können individuelle Umleitungen hinterlegt werden. Quantifizierung der Widerstandsfähigkeit Die wissenschaftliche Literatur kennt drei wesentliche Konzepte zur Quantifizierung der Auswirkungen von Störungsereignissen, die auf ein System einwirken. Nervosität quantifiziert zunächst lediglich das Ausmaß einer Störung. Möchte man hingebesteht, kompromittiert. Die beobachtete KPI- Wertentwicklung (schwarze durchgezogene Linie) fällt zunächst ab. Während die Störung besteht (im Zeitraum t e bis t f ), aber auch nach dem Ende der Störung (d.h. im Zeitraum von t f bis t r ), verbleibt der Wert der beobachteten KPI deutlich unter dem geplanten Wert. Nach der Detektion der Störung S vergeht eine Rüstzeit, so dass erst zum Zeitpunkt t d die Gegenmaßnahme G aktiviert wird und korrigierend in die Netzwerkprozesse eingreifen kann. Die Gegenmaßnahme G führt unmittelbar zu einer Abbremsung der Abnahmegeschwindigkeit der KPI-Werte. Erst wenn jedoch die Störung zum Zeitpunkt t f nicht mehr aktiv wirkt, führt die Gegenmaßnahme dazu, dass die Systemperformance wieder signifikant steigt und später das Vor-Störungsniveau zum Recovery-Zeitpunkt t r erreicht. Gegenmaßnahmen, die reaktiv zu einem detektierten Störungsereignis initiiert werden, verfolgen daher zwei Ziele. Einerseits soll der Recovery-Zeitpunkt t r möglichst schnell nach t e erreicht werden. Daher ist es essenziell vorab Gegenmaßnahmen zu spezifizieren und vorzubereiten. Andererseits soll die Auswirkung auf den geplanten Betrieb möglichst minimiert werden. Somit sind im Zeitablauf drei Phasen zu unterscheiden: 1. der Regelbetrieb vor der Störung bis zum Zeitpunkt t e , 2. der gestörte Betrieb im Zeitraum t e bis t r und 3. der Betrieb nach Störungsbewältigung ab dem Zeitpunkt t r . Bild 3: Beschreibung der Kenngrößen der Widerstandsfähigkeit (in Anlehnung an [7]) Resilienz TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 43 DOI: 10.24053/ IV-2025-0028 Die genannten Zeitpunkte sind im Vorfeld nicht berechenbar bzw. bekannt. Sie ergeben sich aus der Interaktion der Prozesse im Netzwerk mit der konkreten Störung S sowie der eingeleiteten Gegenmaßnahme G. Allgemein bezeichnet das Nervositätsmaß die Wirkung einer Störung auf die den Betriebsablauf beschreibenden KPIs (im Beispiel die Pünktlichkeit der Abfahrten). Die Nervosität ist stärker, je höher die Auswirkungen der Störungen sind. Diese Auswirkungen sind aber durch Ort, Zeit und allgemeine verkehrliche und infrastrukturelle Bedingungen variabel. Um die Nervosität im Zusammenhang mit der Störung S zu bestimmen, werden mindestens zwei Experimente in dem betrachteten Netzwerk benötigt: Experiment 1 („Regelbetrieb“): das ÖP- NV-System wird ohne Störungsereignisse simuliert und die KPIs werden bestimmt (simulierter Ist-Fall). Experiment 2 („Störfall“): dasselbe ÖPNV- System wird simuliert, aber das Störungsereignis S tritt ein. Es wird jedoch keine Gegenmaßnahme eingeleitet. Die gleichen KPIs wie im Experiment 1 werden beobachtet. Dieses Experiment beschreibt nun den „Störfall S ohne Gegenmaßnahme“. Eine Gegenmaßnahme G wird aktiv und greift korrigierend in die laufenden Prozesse ein. Eine typische Gegenmaßnahme stellt beispielsweise die Umfahrung der Störstelle („Umleitung“) dar. Fahrstrecken und Ankunftsbzw. Abfahrtzeiten von Fahrzeugen müssen in diesem Falle neu geplant werden, da der ursprüngliche Umlaufplan durch die Streckensperrung kompromittiert wird. Um beurteilen zu können, ob und wie gut eine konkrete Gegenmaßnahme G funktioniert, muss ein drittes Experiment durchgeführt werden („Experiment 3“): Experiment 3 („Störfall mit Gegenmaßnahme“): wie Experiment 2, aber nach dem Eintreten von S wird die Gegenmaßnahme G eingeleitet. Anschließend werden die KPIs bestimmt. Diese beschreiben nun den „Störfall mit eingeleiteter Gegenmaßnahme“. Ein Flexibilitätsmaß beschreibt nun den quantifizierten Unterschied der beiden Kurven und bewertet dadurch die Veränderung des Systemverhaltens nach einer Störung S und Einleitung der Gegenmaßnahme G im Vergleich zum Systemverhalten nach einer Störung S ohne Einleitung von Gegenmaßnahmen. Damit kann analysiert werden, in welchem Umfang die Netzwerkperformance bei einer Störung S durch die Einleitung der Gegenmaßnahme G wieder hergestellt werden kann [8]. Beispielhaftes Untersuchungsszenario Zur Demonstration der Funktionsweise des entwickelten Tools betrachten wir ein hypothetisches Störungsszenario im Dresdner Straßenbahn-Netzwerk ohne Carolabrücke (grau dargestellte rechte Elbquerung in Bild 4). Die elbquerenden Linienverläufe 3 und 7 nutzen nun zusätzlich zu den Linienverläufen 4 und 9 die Augustusbrücke zwischen den Haltestellen Theaterplatz und Neustädter Markt. Exemplarisch wird hier das Störungsereignis „Sperrung der Augustusbrücke“ zwischen Theaterplatz und Neustädter Markt (blau eingefärbt in Bild 4) in Fahrtrichtung Norden in der Simulationszeit t=510 bis t=660 (reale Zeit ca. 12: 50 - 15: 20 Uhr an einem Werktag) betrachtet (dargestellt als dicker blauer Pfeil). Die in diesen Zeitraum durchzuführenden Fahrten auf den Linien 3, 4, 7 und 9 müssen dann über die nächstgelegene Brücke (Marienbrücke) zwischen den Haltestellen Kongresszentrum und Anton-/ Leipziger Straße über die Elbe geführt werden (Umleitungen repräsentiert durch die grünen Pfeile). Verwendete KPIs Als KPI betrachten wir beispielhaft die Abfahrzeiten von Fahrzeugen gemäß Fahrplan im gesamten Netzwerk. Wir legen fest, dass eine Verspätung eintritt, wenn die tatsächliche Abfahrt mindestens ∆ =5 Minuten (Karenz) nach Abfahrt im Plan-Szenario eintritt. Für den KPI „pünktliche Abfahrt“ ist nun ) die Anzahl der im Fahrplan P im Experiment 1 nicht verspäteten Abfahrtsereignisse (weniger als ∆ =5 Minuten). Die Berechnung der Verspätung erfolgt im Beobachtungszeitraum T (in dieser Analyse festgelegt auf ein 30 Minuten Intervall). Mit bezeichnen wir die im Experiment 2 nach Auftreten der Störung S beobachteten nicht verspäteten Abfahrtsereignisse. ist die Anzahl der nicht verspäteten Abfahrtsereignisse bei Implementierung der Gegenmaßnahme G nach Beginn der Störung S in Experiment 3. Auf der Basis dieser drei Beobachtungen können nun zwei Nervositätsmaße definiert werden: (1) (2) Die in (1) definierte Kennzahl N ∆,S (P ; T) ist die Nervosität des betrachteten Systems im Zeitraum T bei vorliegender Störung S Bild 4: Exemplarische Störung auf der Augustusbrücke (in Fahrtrichtung Dresden Neustädter Markt) und Darstellung der Umleitungsstrecken der betroffenen Linien mit Carolabrücke dargestellt in grau TECHNOLOGIE Resilienz Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 44 DOI: 10.24053/ IV-2025-0028 erheblichen Leistungsdefiziten, welche mit Gegenmaßnahmen eingeschränkt kompensiert werden können. Notwendige Maßnahmen zur Anpassung oder Veränderung der Infrastruktur eines Verkehrssystems sind aus betrieblicher Sicht nun mit objektiven Zahlen auf Basis von Simulationsergebnissen durch das Tool argumentierbar. Weitere Untersuchungen, Experimente und umfangreichere KPI-Betrachtungen sind erforderlich, um die Ergebnisse noch besser bewerten zu können. ▪ LITERATUR [1] Projektdokumentation auf OpenCode, https: / / gitlab.opencode.de/ groups/ projekt-wifoep , 2025. [2] Professur für Verkehrsbetriebslehre und Logistik, TU Dresden, B-u-S-Sim - Bus- und Straßenbahnnetz-Simulator (Version 3.00), https: / / tu-dresden.de/ bu/ verkehr/ ivw/ vbl/ software/ bus-sim , 2025. [3] M. Wooldridge, “An Introduction to Multi-Agent- Systems”, Chichester: John Wiley & Sons Ltd, 2009. [4] OpenStreetMap, https: / / www.openstreetmap. org/ , Datenabruf über https: / / overpass-turbo. eu/ # [5] DELFI e.V., DELFI-Datensatz, https: / / www.delfi.de [6] WVI Prof. Dr. Wermuth, Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung GmbH, „Zentrales Haltestellenverzeichnis“, https: / / zhv.wvigmbh.de [7] L. Ge, S. Voß und L. Xie, „Robustness and disturbances in public transport“, in: Public Transport, Nr. 14, S. 191-261, 2022. [8] P. Babarczi, M. Klügel, A. Martínez Alba, M. He, J. Zerwas, P. Kalmbach, A. Blenk und W. Kellerer, „A mathematical framework for measuring network flexibility,“ in: Computer Communications, Bd. 164, S.-13-24, 2020. Eingangsabbildung: © iStock.com/ Nikada Nervositätskurve gegenüber Experiment 1 (Regelbetrieb) ab Störungseintritt. Das bedeutet, dass die festgelegten Umleitungen im Vergleich zum Niveau des Regelbetriebs eine gute Kompensation darstellen. Fazit In dem Projekt wurde ein Multi - Agenten basiertes Simulationssystem entwickelt, mit dem dispositive Maßnahmen zur Verbesserung der Störungsbewältigung in ÖPNV - Netzen konzipiert, analysiert und evaluiert werden können. Die umfangreiche Nutzung von Open- Data- und Open-Source-Quellen ermöglicht ein Tool ohne große Zugangsbeschränkung. Die automatische Szenario-Generierung spart Konfigurationsaufwand für das Simulationssystem. Ergänzende Datensätze können von den Verkehrsunternehmen bereitgestellt und genutzt werden, um das Modell detaillierter gestalten bzw. mit hinreichenden Informationen versorgen zu können. Das Datenmodell bildet die Verkehrsinfrastruktur und die betrieblichen Randbedingungen ab. Das Simulationssystem ermöglicht die objektive Bewertung der Widerstandsfähigkeit eines ÖPNV-Systems. Hierfür wurden unterschiedliche Herleitungsansätze untersucht, um daraus Berechnungsmodelle ableiten zu können. Die KPI können innerhalb der Szenarien verglichen werden. In diesem Artikel wird das Dresdner Straßenbahnnetz untersucht. Die Auswertungen zeigen, dass durch den Wegfall der Carolabrücke eine erhebliche Reduzierung der Widerstandsfähigkeit des Dresdner Straßenbahnsystems entstanden ist. Zwar ist dieser durch die umsichtige Fahrplanung der Dresdner Verkehrsbetriebe im Regelbetrieb weitestgehend unproblematisch, führt aber im Störungsfall zu im Hinblick auf das ∆ -Pünktlichkeitsmaß. Analog dazu beschreibt die unter (2) definierte Kennzahl N ∆,S (P ; T ; G) die Nervosität des betrachteten Systems bei vorliegender Störung S und Gegenmaßnahme G im Hinblick auf das ∆ -Pünktlichkeitsmaß. Ändert sich die Anzahl der bzgl. ∆ festgelegten Abfahrtsereignisse nur wenig, so sind die beiden Quotienten nur etwas kleiner als 1. Die Nervosität ist dann nahe 0. Umgekehrt ist die Nervosität nahe 1, falls die Anzahl der als pünktlich definierten Abfahrtsereignisse bei vorliegender Störung S signifikant abfällt. Auswertung Der Einsturz der Carolabrücke (schematisch in Bild 4 dargestellt) reduziert die verfügbare verkehrliche Infrastruktur in Dresden. Dies zeigt die Entwicklung der Nervosität in Bild 5. Dies hat zur Folge, dass das „Grundrauschen“ der Nervosität bereits ein deutlich höheres Niveau aufweist (ca. 22 %, während es mit Carolabrücke bei etwa 3 % liegt). Im Regelbetrieb (Experiment 1) verharrt das Grundrauschen über die gesamte Simulationszeit. Bei Experiment 2 (Störung ohne Gegenmaßnahme) erfolgt ein sichtbarer Anstieg der Nervosität, welcher bis zum Ende der Störung anhält. Auch nach dem Ende Störung bleibt dieser auf einem erhöhten Niveau. Diese Beobachtung wird als Umkonfiguration interpretiert, d. h., dass System kann nicht mehr allein auf das Ausgangsniveau zurückkehren. Dies kann auch auf den knapp geplanten Fahrplan zurückgeführt werden, da die aufgestauten Verlustzeiten durch die wenig vorhandenen Reserven nicht aufgeholt werden können. Experiment 3 (Störung mit Gegenmaßnahme) zeigt eine leicht erhöht verlaufende Bild 5: Darstellung der Nervosität mit Karenz ∆=5 Minuten und Intervalllänge L=30 Minuten (Die Störung ist zwischen den beiden senkrechten schwarzen Linien aktiv) Stefan Fach, Dipl.-Ing., Stellv. Bereichsleiter, INAVET - Institut für angewandte Verkehrstelematik GmbH, Löbtauer Straße 67, 01159 Dresden stefan.fach@inavet.de Jörn Schönberger, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaber, Professur für Verkehrsbetriebslehre und Logistik, Technische Universität Dresden, Würzburger Straße 35, 01187 Dresden joern.schoenberger@tu-dresden.de Felix Heizler, M. Sc., Wissenschaftlicher Referent, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF), August-Bebel-Straße 10, 01219 Dresden, HeizlerF@dzsf.bund.de Nico Strasdat, Dr., Wissenschaftlicher Referent, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF), August- Bebel-Straße 10, 01219 Dresden StrasdatN@dzsf.bund.de Resilienz TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (77) 2 ǀ 2025 45 DOI: 10.24053/ IV-2025-0028
