Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2021-0002
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2021
4385
Fesenmeier Föcking Krefeld OttEin Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021
61
2021
Caroline Lüderssen
ita43850003
3 DOI 10.24053/ Ital-2021-0002 Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 Herausgegeben von Caroline Lüderssen Die Beschäftigung von Künstlerinnen und Künstlern mit dem Werk Dante Alighieris, im Besonderen mit der Divina Commedia, hat zahlreiche kreative Neubearbeitungen und Adaptationen hervorgebracht� Tabea Kretschmann hat in ihrer Dissertation, die unter dem Titel «Höllenmaschine/ Wunschapparat». Analyse ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia (Bielefeld: Transcript Verlag 2012) publiziert wurde, eine Reihe dieser kreativen Arbeiten untersucht: 1 In ihrer Arbeit hat sie erstmals einen umfassenden Überblick über das Phänomen der ‘Neubearbeitung’ der mittelalterlichen Divina Commedia gegeben, das sich seit den 1960er Jahren als internationaler Trend manifestiert; zudem hat sie in einzelnen Kapiteln ausgewählte ‘Nuove Commedie’, wie etwa Andreas Ammers Hörspiel Radio Inferno (1993), die Fernseh-Fassung A TV Dante (1988) von Peter Greenaway und Tom Phillips, das Drama Inferno (1964) von Peter Weiss, u� a� m� eingehend analysiert� Aus Anlass des Dante-Jahres zum 700� Todestag 2021 hat auf Einladung der Redaktion Italienisch ein Gespräch mit Tabea Kretschmann stattgefunden, um mit ihr aus aktueller Perspektive das Phänomen der Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia in der Rückschau auf ihre Untersuchung zu diskutieren� Die Fragen an die Autorin wurden aus einem Kreis von Studierenden eines Seminars zum Thema «(Post)Moderne Blicke auf Dante» unter Leitung von Christine Ott, Judith Kasper (beide an der Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Olaf Müller (Philipps-Universität Marburg) entwickelt� Das Gespräch fand am 22�3�2021 per Zoom statt� Am Gespräch nahmen teil: Felix Fromm, Andrea Hartmann, Tabea Kretschmann, Caroline Lüderssen, Christine Ott, Mareike Ullrich� Wir veröffentlichen einen Auszug des Gesprächs, in dem der Charakter der gesprochenen Sprache beibehalten ist� Mareike Ullrich Sie haben in Ihrem Buch einen spezifischen Trend zur Dante-Rezeption ab 1960 festgestellt - nämlich den der kreativen Neugestaltung entweder der 1 Tabea Kretschmann ist als Akademische Oberrätin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der Universität Erlangen-Nürnberg tätig� 4 Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 Divina Commedia als Ganzer oder einer ihrer drei Teile Inferno, Purgatorio, Paradiso - und festgehalten, dass neben individuellen Motiven der Künstler*innen, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen, auch das Phänomen der Postmoderne als Auslöser für die intensive Beschäftigung mit der Divina Commedia eine wichtige Rolle spielt� Zwischen ihrer Monographie und heute liegen einige Jahre: Würden Sie sagen, dass sich dieser Trend in den letzten Jahren fortgesetzt hat? Haben Sie in der Zwischenzeit noch neue Erkenntnisse über die Gründe für die Wahl der Commedia oder über Merkmale und künstlerische Ziele der Neubearbeitungen gewinnen können? Tabea Kretschmann Zunächst würde ich sagen: Das Phänomen der Neubearbeitung der Divina Commedia ist nach wie vor sehr präsent� Um nur ein paar aktuelle Beispiele zu nennen: Die geplante Produktion der Oper Inferno von Lucia Ronchetti am Schauspiel Frankfurt; am Schauspiel Essen INF 2 ERNO als Live-Animation-Cinema, als Medienkunst; ein Tanztheater in Erfurt mit Premiere im Mai 2021 von einer italienischen Choreographin namens Ester Ambrosino; bei den Wuppertaler Bühnen Hölle/ Inferno - Reise ins Innere, die beiden letztgenannten jeweils «frei nach Dante»; oder am Dortmunder Opernhaus eine Balletttrilogie mit dem Titel Die Göttliche Komödie etc� etc� Also, wenn man anfängt zu suchen, wird man an vielen Stellen fündig� Die Gründe für die Wahl der Divina Commedia sind vielschichtig, es können in diesem Rahmen nur einige wenige angesprochen werden: Sie liegen zuerst in der Commedia selbst als Meisterwerk der italienischen Literatur, das die italienische Sprache und Literatur nachhaltig geprägt hat� Dante selbst war sich, und davon zeugt u� a� sein Brief an Cangrande, der Größe des von ihm geschaffenen Werks durchaus bewusst; schon zu seinen Lebzeiten bzw� kurz nach seinem Tod sorgten erste Kommentierungen und aufwendig gestaltete Prachtausgaben für eine zunehmende Bekanntheit und Verbreitung der Dichtung� Alle die Besonderheiten der Commedia - die bildliche Darstellungsweise, der Rückgriff auf den Mythos, das System aus Strafen für weltliche Vergehen im Jenseits etc� - hat dann auch die lange Rezeptionstradition in der Bildenden Kunst befördert, die unmittelbar nach dem Erscheinen des Werks eingesetzt hat� Im 19�-Jahrhundert kam es im Zuge der italienischen Einigung - das hat Thies Schulze in seiner Dissertation hervorragend rekonstruiert 2 - zu einer Stilisierung Dantes als ‘nationalem Symbol Italiens’, mit der eine weitere Kanonisierung seines Hauptwerks einherging� In der Moderne setzte schließlich 2 Thies Schulze, Dante Alighieri als nationales Symbol Italiens (1793-1915), Tübingen: Niemeyer 2005� 5 Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 auch eine starke intertextuelle Rezeption in der Erzählliteratur ein, die Peter Kuon in seiner Habilitationsschrift herausgearbeitet hat� 3 Im Unterschied zu den Neubearbeitungen der Divina Commedia, die ich untersucht habe, stehen bei Kuon zumeist eher punktuelle intertextuelle Aufnahmen der Divina Commedia in anderen literarischen Texten im Mittelpunkt (eine Ausnahme stellt Pier Paolo Pasolinis Divina Mimesis dar, die Kuon ebenfalls analysiert hat und die rückblickend im Sinne des von mir neu definierten Rezeptionstrends zusammen mit Peter Weiss’ Drama Inferno als eine erste ‘Neubearbeitung’ angesehen werden kann)� Alles dies ging dem aktuellen Trend zur ‘Neubearbeitung’ der Divina Commedia voraus� In der Ästhetik der Postmoderne mit der Verschmelzung von Hoch- und Populärkultur, mit anderen Arten der ästhetischen Gestaltung, auch einem neuen, zum Teil humoristischen Umgang mit Klassikern, konnte das Fundament für Neubearbeitungen von Dantes Göttlicher Komödie geschaffen werden� Das wurde dann m� E� zu einem sich selbst verstärkenden, internationalen Trend� Zu diesem gehört eben auch, dass die Divina Commedia inzwischen als ein ‘Klassiker’ der abendländischen Kultur gilt und quasi wie ein ‘Markenlabel’ funktioniert: ‘Dante sells’� Christine Ott Um diesen Trend ab etwa den 1960er Jahren von einer Rezeption abzugrenzen, die nur punktuell auf den Hypotext 4 Bezug nimmt und deren Ergebnisse ‘eigenständig’ bleiben, bezeichnen Sie die von Ihnen untersuchten Werke als «kreative Neubearbeitungen»� In Ihrer Definition legen Sie den Akzent auf die Wiedererkennbarkeit des Hypotextes als Ganzem: «Im Unterschied zu punktuellen intertextuellen oder intermedialen Bezugnahmen auf eine Vorlage in einem ansonsten eigenständigen Werk bleiben bei der Bearbeitung trotz aller, womöglich gravierender, Veränderungen wesentliche Elemente und Merkmale der Vorlage - Handlungsabläufe; Figuren; sprachliche, stilistische, formalästhetische Eigenheiten etc� - erhalten, so dass sie als Ganze wiedererkennbar ist�» 5 Diese Differenzierung zwischen einer kreativen Rezeption, die 3 Peter Kuon, Lo mio maestro e ’l mio autore: die produktive Rezeption der Divina Commedia in der Erzählliteratur der Moderne, Frankfurt: Klostermann 1993 (Analecta Romanica, 52)� 4 Im Interview wurden von den Teilnehmer*innen die Begriffe ‘Hypotext’ und ‘Prätext’ jeweils mit ähnlicher Bedeutung verwendet: Die Begriffe beziehen sich auf die Divina Commedia als Textvorlage bei intertextuellen Bezugnahmen bzw� für Neubearbeitungen� 5 Tabea Kretschmann, «Höllenmaschine/ Wunschapparat». Analyse ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia, Bielefeld: Transcript Verlag 2012, S�-13� 6 auf Eigenständigkeit abzielt, und einer, die sich dagegen als Neubearbeitung versteht, scheint mir sehr wichtig� Welches sind für Sie die wichtigsten Erkennungsmerkmale für die Eigenständigkeit der Werke, die Sie nicht als Neubearbeitungen klassifizieren, und woran kann man die von Ihnen erforschten Neubearbeitungen am besten erkennen? Kretschmann Beide von Ihnen beschriebenen Phänomene sind Bestandteil der sogenannten ‘kreativen Rezeption’� Was sind die wichtigsten Erkennungsmerkmale für punktuelle Rezeptionen in ansonsten eigenständigen Werken? In diesen Werken wird eine Geschichte erzählt, die nicht primär die Divina Commedia im Fokus hat� Die Divina Commedia kommt in irgendeiner Weise auch vor, das kann auch signifikant für die Handlung sein, aber es geht nicht primär um eine erneuernde Umgestaltung der Divina Commedia als Ganzer oder einer ihrer drei Teile� Ein Beispiel wäre der Kriminalroman Der Dante-Club von Matthew Pearl� 6 Das Buch spielt im Jahr 1865 und kreist um eine Gruppe amerikanischer Gelehrter, die zum ersten Mal die Divina Commedia ins Amerikanische übertragen wollen, u� a� Longfellow, der tatsächlich die erste amerikanische Übersetzung realisiert hat� Gleichzeitig mit dem Voranschreiten der Übersetzungsarbeit geschehen in der Fiktion des Romans Morde, die an die Höllenstrafen erinnern und die auch das System des contrapasso aufgreifen� Das ist ein Beispiel für eine Form der Rezeption in der Unterhaltungsliteratur, die Divina Commedia wird punktuell eingewoben in einen ansonsten eigenständigen Kriminalroman� Es geht nicht darum, die Commedia neu zu schreiben und dabei zu aktualisieren� Man kann diesen Kriminalroman wunderbar lesen, ohne Dantes Werk intensiv kennen zu müssen: Die Bezugnahmen im Roman sind so eingebettet, dass sie quasi ‘selbsterklärend’ sind� Ein anderes Beispiel, aus der ‘hohen Literatur’, wäre das literarische Hörspiel Der gute Gott von Manhattan von Ingeborg Bachmann� 7 Darin wird eine Liebesgeschichte erzählt, die symbolisch-allegorisch gestaltet ist und die aktiv interpretiert werden muss� Es geht um das Liebespaar Jan und Jennifer; sie sind in New York unterwegs und treffen dort auf einen Bettler� Und der Bettler sagt plötzlich den folgenden Satz: «Eingegangen in die schmerzens- 6 Matthew Pearl, The Dante Club� A novel, London: Random House 2003� Deutsch: Der Dante-Club� Roman, aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein, Hamburg: Hoffmann und Campe 2003� 7 Ingeborg Bachmann, Der gute Gott von Manhattan, 1957 (Ursendung 1958)� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 7 reiche Stadt, und in die immerwährende Qual, verloren unter Verlorenen�» 8 Das ist eine punktuelle Bezugnahme auf die Divina Commedia als Prätext, die aber nur jemand auflösen kann, der die Divina Commedia, zumindest dieses berühmte Zitat, kennt� 9 Ausgehend hiervon kann man - Kenntnisse der Divina Commedia vorausgesetzt - im Hörspiel noch weitere Reminiszenzen entdecken, die zunächst gar nicht so deutlich sind, z�B� wenn der Bettler sagt, dass in New York die Leute «keine Farbe haben» (auch in der Hölle haben die Seelen keine Farbe) 10 oder «es stinkt alles zum Himmel» (so wie in Dantes Hölle ‘die Erde stinkt’)� 11 Das gibt dem Text von Ingeborg Bachmann eine neue Bedeutungsfacette, die Großstadt New York wird im intertextuellen Rekurs auf Dantes Inferno aus der Perspektive eines Bettlers zur irdischen Hölle stilisiert� Auf der einen Seite der Kriminalroman, auf der anderen das Hörspiel von Ingeborg Bachmann, das sind zwei Beispiele für eine eher punktuelle intertextuelle Rezeption� Was charakterisiert demgegenüber die Neubearbeitung? Das erste Merkmal ist, dass bereits in den Titeln Bezug genommen wird auf den Prätext, wie das erwähnte INF 2 ERNO, oder TV DANTE - Cantos I-VIII von Greenaway/ Phillips, oder Radio Inferno von Andreas Ammer, jeweils mit einer zusätzlichen Komponente, die schon die Veränderung inhaltlicher oder auch medialer Art markiert� Es gibt aber auch Werke, die heißen einfach La Divina Commedia oder nur Inferno; in diesen Fällen sieht man durch eine beigefügte Gattungsbezeichnung, z�B� ‘Oper’, dass die mittelalterliche Dichtung medial neu gestaltet wurde� Ott Das ist auffällig in Ihrer Auflistung, dass der Dante-Bezug schon in den Titeln ganz deutlich hergestellt wird… Kretschmann Ja! Darüber hinaus wird der Bezug oft in den Paratexten, also z�B� in Programmheften, hergestellt� Der Zuschauer sieht: Dante, Vergil, gegebenenfalls Beatrice, treten auf; es bleibt das Motiv einer Wanderung, teilweise durchs Jenseits, teilweise im Diesseits; es bleibt zuweilen die Struktur von Canti und Cantiche erhalten; das Bestrafungssystem ist noch präsent, manchmal werden dann Personen der Gegenwart oder der nicht allzu fernen Vergangenheit be- 8 Ingeborg Bachmann, Werke 1, München/ Zürich 1993, S�-281� 9 Inf� III, 1-3� 10 Inf� III, 100-101: «Ma quell’anime, ch’eran lasse e nude/ Cangiar colore»� 11 Inf� VI, 12: «pute la terra»� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 8 straft; es werden Originalzitate verwendet oder der Originaltext mit leichten Veränderungen, ggf� neuere Übersetzungen etc� Im Kern bleibt bei den Neubearbeitungen erkennbar die gesamte Divina Commedia in größeren Strukturen oder Elementen erhalten� Ott Ich finde die Idee der Eigenständigkeit - die Geschichte ist eine andere - plausibel; das Schwierigste ist vielleicht die Rezeption der Commedia als Ganzes, da gibt es schon Grenzfälle, z�B� Dante and the Lobster, 12 das ist ein eigenständiges Werk, es geht um eine andere Geschichte, aber die Commedia spielt natürlich explizit eine Rolle� Wenn man sich fragt, ob hier die Commedia als Ganzes aufgerufen wird oder nur punktuell, wird es schwierig� Wie definiert man dieses ‘als Ganzes’? Kretschmann Bei den punktuellen intertextuellen Bezugnahmen der ‘hohen Literatur’, die eine aktive Interpretationsarbeit der Rezipienten erfordern, wird mit ggf� wenigen intertextuellen Verweisen die Divina Commedia bzw� einer ihrer drei Teile aufgerufen; gemäß der Intertextualitätstheorie von Renate Lachmann entsteht ein pars-pro-toto-Effekt: In Bachmanns Hörspiel wird mit wenigen zitathaften Wendungen, die auf die Divina Commedia verweisen, die Hölle als Ganze evoziert und New York so indirekt als ‘Großstadthölle’ markiert� Aber bei der Neubearbeitung geht es wirklich um eine neue Version des alten Werks, das ist die primäre Intention - eine Version, die dann inhaltlich mehr oder weniger viel mit der alten zu tun haben kann, aber es geht um diese neue Version� Andrea Hartmann Ich möchte daran anschließen und etwas zu Peter Weiss’ Neubearbeitung Inferno 13 fragen� Das Stück thematisiert die Rückkehr eines exilierten ‘Dante’ (der erkennbar autobiographische Züge von Peter Weiss trägt) in die deutsche Nachkriegsgesellschaft (Weiss selbst floh aufgrund seiner jüdischen Herkunft mit seiner Familie nach Schweden und besuchte erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder Deutschland)� Sie schreiben, dass Dante als Hauptfigur 12 Samuel Beckett, Dante and the Lobster, erschienen in der Sammlung von Short Stories More Pricks than Kicks, 1934� 13 Vgl� Peter Weiss, Inferno - Stück und Materialien� Mit einem Nachwort und hrsg� von Christoph Weiß, Frankfurt: Suhrkamp 2003� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 9 im Drama rückblickend «sein eigenes unpolitisches Verhalten» während der Exilzeit verurteilt und «nicht das Verhalten der anderen»� 14 Wie ist das genau gemeint? Weiss verurteilt doch die deutsche Nachkriegsgesellschaft bzw� die Täter, die einfach weiterleben, vom Wirtschaftswunder profitieren, die Opfer verhöhnen und nicht für ihre Verbrechen vom Gericht verurteilt werden� Kretschmann Mit dieser Aussage im Buch beziehe ich mich auf die unmittelbar vorher zitierte Textstelle aus Weiss’ Inferno, und die ist selbstreflexiv, wenn Dante als Ich spricht: «Wenn ich verurteile/ so verurteile ich nur mich selbst�» 15 Es ist erstmal eine Ausdeutung dieser Stelle, aber Sie haben völlig Recht: Mit dem, was sonst im Drama geschieht, findet selbstverständlich eine Kritik an der deutschen Nachkriegsgesellschaft statt; das zeige ich im Kapitel auch anhand verschiedener Beispiele� Hartmann Sie schreiben auch: «Ein Schuldgefühl als Überlebender, das ihn früher offenbar geplagt hatte, weist der Protagonist nun von sich� Am Ende steht das Bemühen um etwas Bleibendes, das sowohl sein weiteres Leben betrifft, als auch womöglich den Wunsch als Künstler, etwas Dauerhaftes zu schaffen�» 16 Und weiter: «Mit diesem Monolog formuliert Weiss/ Dante eine eigenständige Position, die sich gerade aus der Exilerfahrung herleitet und die ihn von der Stadt-Gesellschaft grundlegend unterscheidet� Den Unterschied empfindet er aber nicht (mehr) als Makel, sondern als Möglichkeit, die genutzt werden kann und soll� […] Diese Positionierung benennt eine neue Grundlage, von der her ein selbstbewusstes Sprechen möglich wird�» 17 Vielleicht könnten Sie noch einmal erläutern, was genau damit gemeint ist? Hat Weiss das Schuldgefühl oder den «Makel» des Überlebenden wirklich von sich gewiesen, oder begleiten ihn nicht vielmehr die Stimmen der Ermordeten (wie in Meine Ortschaft 18 )? 14 Vgl� Kretschmann 2012, S�-67� 15 Weiss, Inferno, zitiert nach Kretschmann 2012, S�-66� 16 Kretschmann 2012, S�-69� 17 Kretschmann 2012, S�-70� 18 Peter Weiss, Meine Ortschaft, Frankfurt: Suhrkamp/ Aktion Sühnezeichen Friedensdienste 1992� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 10 Kretschmann Das ganze Drama Inferno ist stark selbstreflexiv autobiographisch aufgeladen� Das Schuldgefühl, das gemeint ist und das in dem Text immer wieder durchkommt, ist das Schuldgefühl eines Überlebenden� Das ist ein Topos, der sich durch die Zeugnisliteratur nach dem Holocaust zieht� Und ich denke, dass das tatsächlich tendenziell verlassen wird im Text, es findet ein Prozess statt, und es wird auch der von außen zugeschriebene «Makel» zurückgewiesen: Er findet sich sowohl in der Fiktion des Dramas als auch in dem, was ich als biographische Episode erläutert habe, eine Begegnung mit Vertretern der Gruppe 47, die ihm letztlich ein Sprechverbot auferlegen wollten: ‘Du kannst doch gar nicht über das in Deutschland Geschehene berichten, Du warst doch gar nicht dabei’, was ein äußerst paradoxes Sprechverbot ist� Denn wenn Weiss mit seiner jüdischen Herkunft in Deutschland geblieben wäre und nicht ins Exil gegangen wäre, hätte er das sehr wahrscheinlich gar nicht überlebt und könnte erst recht nicht darüber schreiben� Und diesen von außen zugeschriebenen «Makel» sowohl in der Realität wie in der Fiktion, den weist er zurück� Aber das bedeutet nicht, dass ihn die Stimmen der Ermordeten nicht begleiten; für mich ist das kein Gegensatz, das bleibt, aber er erlebt das nicht mehr in dem Gefühl eigener Schuld� Was konsequent dann folgt, als nächstes literarisches Projekt, wenn man vom Autor her denkt, ist Die Ermittlung, die letztlich die Frage nach Anklage und Schuld verhandelt� 19 Hartmann Und was meinen Sie mit dem «selbstbewussten Sprechen»? Die Sprache ist bei Peter Weiss doch immer von Zweifeln geprägt? Kretschmann Das bezieht sich darauf, dass die Hauptfigur Dante einen Prozess durchmacht, auch einen sprachlichen Prozess, an dessen Ende eine selbstsichere Positionierung stattfindet, und sie sagen kann, was sie denkt� Wenn man weggeht von diesem Einzelstück und hingeht zu Weiss selber, den größeren Werkkontext ansieht, dann stimme ich Ihnen völlig zu, ich sehe Weiss auch als einen Suchenden, der immer auf der Suche nach der Beantwortung der Frage war: 19 Peter Weiss, Die Ermittlung� Oratorium in 11 Gesängen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1965� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 11 ‘Was kann ich denn wie am besten ausdrücken? ’, und das ist natürlich auch bei ihm mit Zweifeln behaftet� Hartmann Sie schreiben, dass man ein gewisses historisches und literarisches Hintergrundwissen haben sollte, um das Stück zu verstehen, 20 aber ich habe mich gefragt, ob es nicht dennoch gerade heute vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Entwicklungen sehr aktuell ist und nicht nur als historisches Zeitstück gesehen werden kann? Kretschmann Ich finde Ihre Frage interessant und plausibel, aber ich halte Weiss’ Inferno für ästhetisch schwieriger als Die Ermittlung, es ist schwerer zugänglich� Da ist zum einen die stark autobiographische Konnotation und die selbstreflexive Komponente; man muss sich eigentlich mit Peter Weiss beschäftigt haben, um das im Stück wirklich nachvollziehen zu können� Zweitens ist Die Ermittlung ein Dokumentardrama, in diesem Sinne sehr realistisch; das Drama Inferno ist viel stärker allegorisch angelegt, es fordert eine aktivere Interpretationsarbeit der Rezipienten� Drittens kann die Göttliche Komödie als Prätext des Dramas Inferno, der für das Verständnis des Stücks elementar ist, nur bei einem kleineren Teil der Zuschauer vorausgesetzt werden� Ich glaube, das alles macht das Stück so schwierig für Zuschauer in der Gegenwart� Die Ermittlung ist zugänglicher auch für ein heutiges Publikum� Ott In Ihrem Kapitel zu den Dramenbearbeitungen der Lyriker Sanguineti, Luzi und Giudici führen Sie sehr anschaulich vor, mit welchen unterschiedlichen Strategien die Autoren einerseits sehr deutlich auf den Hypotext als Ganzes Bezug nehmen, andererseits eine kritische, skeptische Auseinandersetzung mit Dantes Jenseitsdarstellung inszenieren� Während sich Sanguinetis Bearbeitung auf den prägnanten Begriff der Travestie bringen lässt, schlagen Sie für Luzi den Begriff des Konservierenden vor, bei Giudici den Begriff der Textcollage� Ist Luzis Text der Neubearbeitung am nächsten, während sich bei Giudici und Sanguineti eher Begriffe für typisch postmoderne Verfahren anzubieten scheinen 20 Vgl� Kretschmann 2012, S�-77� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 12 (Recycling, Travestie, Collage…)? Erlaubt es vielleicht das von Luzi bearbeitete Purgatorio eher, dem Text (dem Weltbild dieser Cantica) nahe zu bleiben? Kretschmann Ich halte alle drei Teile von Luzi, Sanguineti, Giudici 21 für einwandfreie, astreine Neubearbeitungen, aber mit verschiedenen Strategien, und die Strategien ergeben sich sowohl aus den Unterschieden der drei Teile, Inferno, Purgatorio, Paradiso, als auch aus den unterschiedlichen ästhetischen Verfahrensweisen, die diese drei Autoren ohnehin mitbringen� Ott Aber irgendwie hat man schon den Eindruck, dass die Bearbeitung dem jeweiligen Temperament entspricht, etwa bei Luzi, der eine religiöse, spirituelle Tendenz hat, ihm fällt es leichter, sich mit Dante zu identifizieren… Kretschmann …solche Dinge spielen bei allen Bearbeitungen eine Rolle, manche sehen Anknüpfungspunkte an den christlichen Gehalt, wie das beim Musical von Marco Frisina der Fall ist, 22 das eine christliche Interpretationslinie vorstellt, und andere nicht, wie Ammer, 23 die die christliche Lesart letztlich ‘durchstreichen’ und sagen: So kann man das nicht mehr in die Gegenwart holen� Felix Fromm Ich habe eine Frage zu Ihren Ausführungen zu Tomaž Pandurs Bearbeitung: 24 Er adaptiert das Inferno in seiner Trilogie nicht als (Nach-)Erzählung, sondern schafft auf der Grundlage einzelner Canti von Dante verschiedene ‘Traumbilder’ nach der Theatertheorie von Artaud, mit einer «düstere[n], bedrohliche[n] […] Grundstimmung»� 25 Inwieweit kann man hier (noch) von einer 21 Edoardo Sanguineti, Commedia dell’Inferno� Un travestimento dantesco, Genova: costa&nolan 1989; Mario Luzi, Il purgatorio� La notte lava la mente, Genova: costa&nolan 1990; Giovanni Giudici, Il paradiso� Perché mi vinse il lume d’esta stella� Satura drammatica, Genova: costa&nolan 1991� 22 Vgl� Marco Frisina, La Divina Commedia� Opera Musical, 2007 (divinacommediaopera�it, 26�05�2021)� 23 Andreas Ammer/ FM Einheit, Radio Inferno, Hörspiel, 1993 (Ursendung Bayerischer Rundfunk)� 24 Tomaž Pandur, La Divina Commedia: Inferno. The Book of the Soul; Purgatory. Anatomy of Melancoly; Paradiso. Lux, Hamburg, Thalia-Theater 2001/ 2002� 25 Kretschmann 2012, S�-123� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 13 zusammenhängenden Jenseitsreise von Dante und Vergil sprechen, und fehlt in dieser düsteren Atmosphäre des Inferno eine hoffnungsvolle Perspektive bzw� Voraussicht auf die Fortsetzung im Purgatorio und Paradiso? Kretschmann Ich würde sagen: Nein, es ist keine zusammenhängende Jenseitsreise im Sinne Dantes mehr, weil auch das durchgehende narrative Element, das Dantes Jenseitswanderung in der literarischen Darstellung prägt, gar nicht mehr gegeben ist� Es ist ja ein Theater der Träume, und Träume sind nicht chronologisch und logisch stringent gebaut; es sind einzelne Bilder, die entstehen, die nur noch vage die Vorlage erkennen lassen� Deswegen würde ich sagen, der Fokus bei dieser Neubearbeitung liegt wirklich auf der eigenständigen Aneignung, dem Schaffen einer eigenen Version, in die die Göttliche Komödie nur noch als ‘Material’ eingegangen ist� Pandur sieht die Divina Commedia als einen Urtext, wie Mythen, biblische Texte, Motive, die alt sind, die universelle Dinge darstellen, auch unsagbare Dinge behandeln, und diese eigene Wahrnehmung des Textes prägt dann auch seine Bearbeitung� Fromm Sie gehen auch auf die christlichen Motive in der Inferno-Inszenierung ein: 26 Ein verfremdetes Glaubensbekenntnis, altertümliche Priestergewänder, die als Kostüme dienen, Vergil, der mechanisch das Kreuzeszeichen macht� Welche Wirkung hat das Ihrer Meinung nach auf das Publikum entfaltet, und sind solche religiösen Momente ein Bruch mit der evozierten düsteren Atmosphäre der Hölle? Das ist eigentlich ein Widerspruch zu dem Höllenbild, das da entworfen wird� Kretschmann Für mich passen diese Dinge gut in das Gesamtkonzept von Pandurs Neubearbeitung, weil die religiösen Elemente ja nicht affirmativ religiös sind, sondern auch sie sind verfremdet� Auch sie werden in Traumbilder verwandelt, und damit gewinnen sie eigentlich eine andere Qualität, sie sind nicht mehr festgelegter christlicher Ritus, sondern sie stehen für archaische Traumbilder, die irgendetwas mit der menschlichen Seele, der Psyche zu tun haben, mit etwas Ursprünglichem, Universellen, das mit diesen Bildern dargestellt werden soll� Das ist etwas eher Unspezifisches� 26 Vgl� Kretschmann 2012, S�-129 f� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 14 Sie haben nach Purgatorio und Paradiso gefragt� Diese beiden Teile hat Pandur auch inszeniert, er beschreibt sie als Ort der Reinigung fürs Purgatorio und der Erlösung für das Paradiso; aber auch das ist ein Bildertheater als ‘Theater der Träume’, also ganz anders als die große Erzählung von Dante, die sehr ins Detail geht� Fromm Darf ich noch einmal auf Andreas Ammers Hörspiel zurückkommen? Ich sehe da eine Parallele zu Ossip Mandelstam, zu seinem Gespräch über Dante (1933), in dem er auch einen sehr sinnlichen Zugang wählt, fast ähnlich wie bei einem Hörspiel, er schreibt, dass die Divina Commedia ein sehr zeitloses Werk sei, immerwährend, immer gültig� Was ich mich gefragt habe: Wenn solche modernen Elemente auftauchen in einer Inszenierung, die eigentlich anachronistisch sind, was hat das für eine ästhetische Wirkung auf den Zuhörer/ Zuschauer, wie zum Beispiel bei Pandur die Journalistin, die aus einem Hubschrauber dazu stößt? Kretschmann Ingeborg Bachmann hat in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung 1959/ 1960 gesagt: «An jedem großen Werk, sei es nun der Don Quijote oder die Divina Commedia, ist für uns etwas verblüht, verwittert, es gibt einen Mangel, den wir selbst beheben dadurch, daß wir ihm heute eine Chance geben, es lesen und morgen lesen wollen - einen Mangel, der so groß ist, daß er uns antreibt, mit der Literatur als einer Utopie zu verfahren�» 27 Bachmann setzt sich in dieser Poetik-Vorlesung auch mit der Präsenz von Klassikern in der Gegenwartsliteratur auseinander: «Wir haben diese Klassiker, aber sie sind uns in einer gewissen Art und Weise auch fremd geworden�» Der christliche Aspekt einer Jenseitswanderung zum Beispiel ist vielleicht für heutige Rezipienten nicht mehr vollständig nachvollziehbar� Und das, was Bachmann als eine Utopie beschreibt, kann auch übersetzt werden in: ‘Da wird etwas Neues gemacht, es wird gefragt: Was hat denn dieser alte Text uns heute zu sagen? ’ Wenn man jetzt auf Ihre Frage zu Ammer zurückkommt, dann sind solche Aspekte der Modernisierung keine Anachronismen, sondern es sind Elemente dieses Bestrebens, eine neue Version eines alten Textes zu schaffen, mit einer ganz eigenen Ästhetik� Das ist ein anderer Zugang, als frühe Illustratoren ihn gewählt haben, die dem Literalsinn relativ streng gefolgt sind� Hier wird nach 27 Ingeborg Bachmann, Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung, München: Piper 1980, S� 82 f� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 15 Lust und Laune Eigenes hinzugefügt, weil es zeigen soll, so könnte es in der Gegenwart sein� Fromm Quasi auch mit dem übergeordneten Ziel, einen leichteren Zugang zu der Materie zu schaffen aus heutiger Sicht? Kretschmann Nein, ich glaube, dass keine der Neubearbeitungen das Ziel hat, didaktisch zum Originaltext hinzuführen� Das tun sie auch, glaube ich, überwiegend nicht, sondern es geht darum, in irgendeiner Weise etwas Eigenständiges zu schaffen� Auch im Text von Pandur ist der Originaltext kaum mehr wiederzuerkennen, das führt nicht didaktisch zu Dante, sondern es führt zu einem ‘Theater der Träume’� Ullrich Auch im Hinblick auf das Künstlerbuch von Sandow Birk 28 beschäftigt mich dieses Dilemma, wenn er die Divina Commedia in moderne Großstadtszenerien versetzt� Die Dante-Figur wird zu einem amerikanischen Durchschnittsbürger, der mit Walkman, Bier und Skateboard in der Hand durch die Straßen streift, Vergil wirkt wie ein heruntergekommener Bettler und Beatrice trägt high heels und ein viel zu eng geschnittenes, knappes Kleid� Sie bezeichnen das Vorgehen Birks als «Klassiker-Recycling» 29 � Gleichzeitig übertragen Sandow Birk und Marcus Sanders die Verse der Commedia auch sprachlich in eine modernisierte englische Fassung in kolloquialem Stil amerikanischer Jugendsprache� Halten Sie eine so starke Entfernung vom Original für hilfreich oder gar notwendig, um ein heutiges, jüngeres Publikum anzusprechen und ein nachhaltiges Interesse am Original zu wecken, oder geht für Sie dabei zu viel von dem verloren, was Sie vorhin als Motiv für die Bearbeitung genannt haben, nämlich das Meisterwerk Dantes, so dass es dann für zukünftige Generationen gar nicht mehr interessant ist für eine Bearbeitung, weil es sein ‘gewisses Etwas’ verloren hat? 28 Sandow Birk/ Marcus Sanders, Dante’s Divine Comedy, 3 Bde�, San Francisco: Chronicle Books 2003-2005� 29 Kretschmann 2012, S�-204� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 16 Kretschmann Ich glaube nicht, dass die Neubearbeitungen primär Werke sind, die das Ziel haben, die Rezipienten zum alten Text hinzuführen, so dass die sich alle in Universitätsbibliotheken wiederfinden und Dante im Original und die Kommentare dazu lesen� Es ist in diesem Fall, den Sie zu Recht nennen, sicherlich so, dass auch so Dante gelesen wird, dass man einen Eindruck von diesem Werk bekommt, aber es ist eben ein veränderter Eindruck, der einer Neubearbeitung, die ein eigenständiges Kunstwerk ist� Ott Ich hatte es so verstanden, dass die Eigenständigkeit eher bei den punktuellen Aufnahmen vorliegt, das Werk bleibt eigenständig, nehmen wir noch einmal Dante and the Lobster, das ist ja schon ein starker Gestus, wenn man in einer Neubearbeitung schon im Titel den Bezug auf die Commedia bzw� Dante hat� Kretschmann Man muss bei dem Begriff ‘eigenständig’ aufpassen: Wir haben einmal den Begriff im Sinne von punktuellen intertextuellen Bezugnahmen in einem ansonsten selbstständigen Werk, das mit der Divina Commedia ansonsten gar nicht sehr viel zu tun hat� Und wir haben den Begriff ‘eigenständig’ verwendet im Sinne von: Da werden ‘Nuove Commedie’ geschaffen als für sich selbst stehende Kunstwerke, als dezidiert neue Fassungen der mittelalterlichen Divina Commedia. Ott Es ist klar, dass es uns nicht darum geht, zu entscheiden, wer näher an der Commedia ‘dran’ ist, das wäre völlig überholt als Zugang� Ich frage mich nur, ob es nicht doch Pole gibt oder verschiedene Grade auch von Eigenständigkeit� Ich sehe in manchen Werken schon diesen didaktischen Anspruch, etwas aus der Commedia zu vermitteln, ich würde das nicht so kategorisch ausschließen, obwohl es mir völlig einleuchtet, dass es für die Mehrheit der von Ihnen behandelten Werke so ist� Kretschmann Sicher gibt es Werke, die näher am Originaltext sind und andere, die sind weiter weg, aber trotzdem sind es erstmal selbstständige Kunstwerke� Ein Tanztheater zum Beispiel, ohne Sprache, da ist nur noch der Titel erkennbar Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 17 und dann durch den Paratext (Programmhefte o� ä�) zu den Aufführungen, dass Dante, Vergil, Beatrice auftreten, sonst nicht mehr viel, und das ist trotzdem einzuordnen in diese ‘Nuove Commedie’� Hartmann Ich habe ein bisschen Schwierigkeiten mit dieser Trennung: Auch wenn etwas ‘eigenständig’ für sich steht, ist es doch gleichzeitig eine Einladung, zu dem Hypotext zurückzukehren- - ob das nun die Rezipierenden tun oder nicht, aber das ist doch immer mit enthalten? Kretschmann Also ich würde zumindest sagen, es ist nicht unbedingt intentional� Nochmal das Beispiel des Tanztheaters: Jemand sieht sich ein Tanztheater an mit dem Titel Inferno, vielleicht schaut man vorher oder hinterher mal bei Wikipedia nach, Stichworte ‘Dante’, ‘Inferno’ - aber wie viele Besucher von einem Tanztheater besorgen sich tatsächlich Dantes Originalwerk, vielleicht in der Ausgabe von Gmelin, drei Bände Text, drei Bände Kommentar? Ich glaube, es sind nicht allzu viele� Deshalb machen diese Bearbeitungen auch etwas hinsichtlich der Vorstellung von der Göttlichen Komödie in der Gegenwart und mit ihrer kulturellen Präsenz� Womöglich beziehen sich die Vorstellungen, die man von der Göttlichen Komödie entwickelt, gar nicht mehr so sehr auf die Lektüre des Originaltextes mit all den vielen Facetten, sondern auf eine neuere Darstellung, die man wahrgenommen hat, auf eine Neubearbeitung vielleicht plus Wikipedia-Eintrag� Und wenige werden zum Originaltext greifen� Das ist nur eine Vermutung, das müsste man empirisch feststellen� Ullrich Das Künstlerbuch Dante’s Divine Comedy von Birk und Sanders würden Sie dann nicht als Neubearbeitung bezeichnen? Kretschmann Das Künstlerbuch selber ist eine modernisierende Übersetzung mit flankierenden modernisierenden Illustrationen� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 18 Ullrich Aber es folgt ja der Handlungsstruktur… Kretschmann …ist aber primär eine Übersetzung des Originaltextes� Ullrich So wie ich es verstanden habe, sind die Verse erkennbar, wenn auch in Prosa, mehr oder weniger abgewandelt, aber eigentlich folgt es noch genau der Handlung des Inferno und hat nicht diese ‘Eigenständigkeit’, von der die Rede war� Kretschmann Ich glaube, da sind wir tatsächlich in einem Graubereich zwischen einer modernisierenden Übersetzung mit modernisierenden Illustrationen und der Neubearbeitung, diese wäre dann der Film, der daraus gemacht wurde� 30 Dafür wurde noch viel mehr verändert und es fand ein Medientransfer statt� Ullrich Eigentlich ist ‘außen rum’ nicht mehr viel an eigenständigem Werk… Kretschmann Genau, das ist tatsächlich der Knackpunkt, da ist nicht viel Eigenständigkeit, das ist ähnlich wie beim Künstlerbuch von Tom Phillips� Es handelt sich erst einmal um eine Übersetzung mit zeitgenössischen Druckgrafiken, aber nicht um eine Neubearbeitung im Sinne von einer neuen Version der Divina Commedia� Hartmann Aber die Illustrationen, oder besser, die Bilder von Tom Phillips leisten schon eine eigenständige Interpretationsarbeit durch die zahlreichen Verschachtelungen, die man im Bild sieht und die dann später auch in den Film von Peter Greenaway 31 eingeflossen sind� 30 Sean Meredith, Dante’s Inferno, 2007� 31 A TV Dante - Cantos I-VIII, von Peter Greenaway und Tom Phillips, 1988� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 19 Kretschmann Ich glaube, dass man bei den Druckgrafiken die Tradition der Illustration der Göttlichen Komödie mitdenken muss, und da ist Dalì ein Umkehrpunkt, da er die Wende vollzogen hat zur kreativen Neugestaltung; bei Dalì haben wir ja auch Traumbilder zur Göttlichen Komödie� Und das haben wir dann auch bei Phillips in anderer Weise, sein Künstlerbuch ist von einer ‘verändernden’, eigenständigen Art der Illustration geprägt� Die Geschichte der Illustrationen zur Divina Commedia ist insgesamt jedoch noch einmal ein eigenständiger Bereich der Dante-Rezeption mit einer eigenen Traditionslinie� Hartmann Ich möchte noch einmal auf den ‘didaktischen Aspekt’ zurückkommen� In Greenaways Film entsteht durch die Wissenschaftler, die das Ganze kommentieren oder erklären, ein Effekt einer wissenschaftlichen Arbeit� Das hat vor allem formalästhetischen Wert, aber für die Rezipierenden hat es doch schon etwas von einer ‘Lehrsendung’� Kretschmann Jein� Meine gesamte Deutung der Verfilmung von Greenaway und Phillips, die ja auch auf Selbstaussagen dieser beiden beruht, geht in die Richtung, dass es sich um eine ‘symbolische Übersetzung’ handelt, es werden Symbolbilder geschaffen� So sehe und interpretiere ich auch die Wissenschaftler� Ich habe das gedeutet im Sinne von Fußnoten, die einen Text - das Inferno - kommentieren� Die Wissenschaftler, da haben Sie Recht, geben gewisse Informationen wissenschaftlicher Art zum Verständnis dieses Textes, aber sie sind nicht erschöpfend� Deswegen haben sie für mich symbolischen Charakter, sie sind kurz und exemplarisch, eine symbolisch eingesetzte wissenschaftliche Kommentierung, die bei Dantes Göttlicher Komödie immer wieder gegeben war� Hartmann Sie zitieren Greenaway, der sagt: «Mein Interesse an Kino hat sehr viel mit Ästhetik zu tun und ganz sicher nicht mit Politik� […] Ich hasse schon die bloße Andeutung, ich könnte didaktisch oder polemisch sein oder eine Botschaft haben�» 32 Eine Aussage, die in sich ja schon polemisch ist� Andererseits sagte 32 Kretschmann 2012, S�-165� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021 20 Greenaway in einem Interview 33 , dass es ihm darum ging, einem breiteren Publikum Dantes Werk näherzubringen, aber auch darum, das, seiner Meinung nach, Enzyklopädische von Dantes Werk hervorzuheben� Damit bestätigt er jedoch durchaus eine didaktische Intention� Wie würden Sie dies einordnen? Kretschmann Am Ende dieses Interviews sagt er: «I am not very interested in narrative», dafür aber an Zahlen und Symmetrien� Und das ist ja genau das, was auch die Verfilmung prägt� Bei Dante gibt es das auch, das fand Greenaway interessant an der Göttlichen Komödie, die Dreizahl, Zahlensymmetrien etc� Wenn ich seine Hinweise richtig verstanden habe, war es die Intention der BBC als Auftraggeberin für dieses Werk, Dante einem breiteren Publikum zugänglich zu machen� Das, was Greenaway dann gemacht hat, ist aber eine Verfilmung gemäß seinen eigenen ästhetischen Vorstellungen� Ich glaube, es gab eine Erwartungshaltung der BBC, die Greenaway aber, wenn man sich die Verfilmung anschaut, vielleicht gar nicht eingelöst hat� Ich empfinde seine Verfilmung nicht als sehr didaktisch oder für ein ganz breites Publikum als Hinführung zur Göttlichen Komödie sehr geeignet, aber als ein äußerst interessantes ästhetisches Filmdokument� Hartmann Ich denke schon, dass er versucht, diese beiden Elemente miteinander zu verbinden� Dafür sprechen meiner Meinung nach auch die Wissenschaftler, die die Leute kennen-- vielleicht nicht alle, aber jeder kennt David Attenborough� Würden Sie das nicht so sehen? Kretschmann Die Wissenschaftler erläutern ein paar Zusammenhänge, da haben Sie Recht, es schließt sich nicht aus, es ergänzt sich, sie sind gleichzeitig in diesem symbolhaften Format als Fußnoten zu sehen� Vielleicht kann man beides kombinieren� 33 «Peter Greenaway on Dante», https: / / www�youtube�com/ watch? v=o-DdP2qrh3o (26�03�2021)� Dante 700: Ein Gespräch mit Tabea Kretschmann zum Dantejahr 2021
