Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2021-0008
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttSchlusspensee: Giosue Carduccis Stornello «Congedo»
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Heinrich Hudde
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103 DOI 10.24053/ Ital-2021-0008 Biblioteca poetica Schlusspensee: Giosue Carduccis Stornello «Congedo» Was für Paul Celan problematisch geworden ist, gestattet sich Giosue Carducci noch unbefangen: das Herausstellen eines letzten Gedichts� Celan hatte 1958 das Sonett «L’Épitaphe» von Robert Desnos unter dem Titel «Das letzte Gedicht» übersetzt, dann aber bemerkt, dass es gar nicht das letzte Gedicht war und dass der Titel nicht vom Dichter stammte� «Ich bin kein Freund solcher Mythen» schreibt Celan an Hans Magnus Enzensberger, der das Gedicht in seine Anthologie Museum der modernen Poesie (1960) aufnehmen wollte� Autor und Herausgeber einigen sich darauf, den Titel dort in Anführungsstriche zu setzen� 1 Carducci stellt das 1892 veröffentlichte Gedicht «Congedo» ans Ende seiner letzten Gedichtsammlung Rime e ritmi (1892)� Es lautet: Congedo Fior tricolore, Tramontano le stelle in mezzo al mare E si spengono i canti entro il mio core� 2 Abschied Stiefmütterchen blüht, die Sterne sinken mitten in das Meer und Lied um Lied im Herzen mir verglüht� Carducci, Klassizist und Meister des Sonetts, wählt hier die einfache und eher volkstümliche Form eines stornello� 3 Darin folgen zwei Elfsilber auf einen Fünfsilber, der meist eine Blume benennt, hier Viola tricolor, das Stiefmütterchen� Vers 1 und 3 reimen umarmend den reimlosen, aber assonierenden Mit- 1 Fremde Nähe. Celan als Übersetzer� Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs, Katalog von Axel Gallhaus u� a�, Marbacher Kataloge 50, Marbach 1997, 3 1998, S�-559, Briefe vom 1� u� 12�8�1960� 2 Giosue Carducci, Poesie, hrsg� v� William Spaggiari, Milano: Feltrinelli 2007, S�-234 f�; dort auch Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte sowie die Texte der weiteren Stornelli des Dichters� Ein Gedicht mit dem Titel «Congedo» stellte Carducci bereits an den Schluss seiner Odi barbare (1889): «A’ lor cantori diano i re […]»� 3 S� W� Theodor Elwert, Italienische Metrik, Wiesbaden: Steiner 1984, S�-131 (§-99), wo am Schluss Carduccis Gedicht als Beispiel zitiert wird� Elwert bezeichnet die Assonanz der drei Versschlüsse als Gattungsregel� Biblioteca poetica 104 telvers� Inhaltlich und mit dem Titel knüpft Carducci an das Trennungs- und Abschiedslied der Troubadours und der Minnedichtung des Mittelalters an� Das einleitende «Fior» bereitet binnenreimartig den Reim vor� Am Anfang des zweiten Verses bietet «Tramontano» erneut ein betontes ‘o’ und alliteriert mit «tricolore»� Auf ein ‘m’ in «Tramontano» folgt die Alliteration «in mezzo al mare»; damit endet auch der reimlose Vers auf -re� Im Schlussvers folgt auf die Alliteration «si spengono» die wichtigere «canti» / «core»� Die durch ‘E’ verbundenen endecasillabi weisen deutliche Parallelen auf: Die Verben beschreiben ein Verschwinden unter Lichtverlust� 4 Der auf den sechsten Silben liegende Akzent hebt «stelle» und «canti» heraus, die im Meer bzw� im Herzen verschwinden; «in mezzo» und «entro» entsprechen einander� Im vorletzten Wort «mio» - und nur hier - erscheint das lyrische Ich� Der letzte Vers bringt eine Verlagerung nach Innen� Das Bild aus der Natur bereitet die innere Erfahrung des Dichters vor� 1905 wurde das Gedicht von Bettina Jacobson so übersetzt: Abschied Dreifarbige Ranken, Die Sterne sind ins tiefe Meer gesunken, In mir erlöschen Lieder und Gedanken� 5 Die zu Stiefmütterchen nicht recht passenden «Ranken» winden sich wohl um des Reimes willen� 6 Die Übersetzerin rückt Vers 2 in die Vergangenheit und ersetzt «core» durch «Gedanken», vielleicht im Sinne des Blumennamens: französisch pensée, deutsch Pensee, italienisch pensiero - vergleiche englisch pansy� Die Blume ist daher prädestiniert für Gedankengedichte, für Erinnerung 7 und für eine Thematisierung des Endes, ein für Carducci zentrales Thema� Das zeigt sich etwa in den drei weiteren Stornelli des Dichters, die zum Vergleich herangezogen werden sollen� Eines davon nennt wiederum das Stiefmütterchen (jetzt italienisch) und konfrontiert die Bitterkeit der Erinnerung mit der Überheblichkeit der Hoffnung: 4 Das Gedicht hat 18 Wörter, deren zweite Hälfte den letzten Vers bildet� 5 Giosue Carducci, Poetische Werke, Sammlung Nobelpreis für Literatur, Zürich: Coron 1906, S�-309� Alle anderen Carducci-Übersetzungen vom Verfasser� 6 Reizvoll die Klangähnlichkeit der Versschlusswörter� 7 Der Nouveau dictionnaire étymologique et historique Larousse (1964) erläutert unter dem Stichwort «pensée»: «espèce de fleur (symbole du souvenir)»� Meyers Konversations-Lexikon (5� Auflage, 1897) schreibt zum Stichwort «Viola»: «Das Stiefmütterchen spielt in England und Frankreich dieselbe Rolle wie das Vergißmeinnicht in Deutschland und dient auch zum Schmucke der Gräber»� Biblioteca poetica 105 Fior del pensiero, Tutto quel che ricordo è troppo amaro, ed è troppo superbo quel ch’io spero� Stiefmütterchen hier, zu bitter ist Erinnerungsgeschmack, und viel zu stolz ist alles Hoffen mir� Ein weiteres Stornello stellt dem Friedhofsgedanken die Lebensfreude der zu pflückenden Rose entgegen: Fior di Certosa, il cimitero è troppo austera casa� Cogliamo nella vita il fior di rosa� 8 Blume der Kartause, der Friedhof ist ein allzu strenges Haus� Drum pflücken wir im Leben noch die Rose� Das dritte Beispiel ist ein Trinklied, das die vorher noch abqualifizierte Zukunft besingt und feiert; die Blume hat hier metaphorischen Charakter: Fior del Chianti, cantiam dell’avvenire i bei concenti poiché siamo ubriachi tutti quanti� Blume des Chiantiweins, besingen wir der Zukunft schönen Klang, sind wir doch hier in Trunkenheit vereint� In allen vier Stornelli sind die nicht reimenden Mittelverse lautlich eng an das rahmende Reimpaar gebunden� 9 In die deutsche Literatur hat Friedrich Rückert die Stornelli, die er Ritornelli nennt, eingeführt� Auf seiner Italienreise sammelt er im Sommer 1818 in Ariccia 183 Beispiele, die er später in deutsche Verse bringt� 10 Stiefmütterchen er- 8 «Fior di Certosa» dürfte auf das Blumenzüchten der Kartäusermönche anspielen� 9 So steht «mare» zwischen «tricolore» und «core»; «amaro» steht zwischen «pensiero» und «spero»; «casa» steht zwischen «Certosa» und «rosa»; «concenti» steht zwischen «Chianti» und «pianti»� Im letzten Beispiel sind die drei letzten Buchstaben gleich (vorher jeweils die beiden letzten)� 10 Friedrich Rückert, Gedichte von Rom und andere Texte der Jahre 1817-1818, hrsg� v� Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger, Schweinfurter Edition 2000 (Erstausgabe der deutschen Fassungen der Stornelli)� Biblioteca poetica 106 scheinen bei ihm nicht, wohl aber Veilchen im traditionellen Gegensatz zur Rose� 11 Indem Rückert mündlich verbreitete Texte sammelt, tritt der volkstümliche Charakter dieser Form in den Fokus, der bei Carducci keine Rolle mehr spielt� Bei dem 1982 geborenen österreichischen Autor Clemens J� Setz löst unsere Blume folgende Assoziationen aus: «Stiefmütterchen sehen aus wie Günter Grass�» Ein Schwarzweißfoto des Autors zeigt Stiefmütterchen und soll wohl die Ähnlichkeit belegen� Setz fährt fort: «Eben� David Schubert nannte Stiefmütterchen ‘profoundest Professors of the world’s woes’»� 12 Das Zitat des amerikanischen Dichters findet sich am Ende des Gedichts «A Corsage», in dem es heißt: «The next day you wear a Corsage of pansies� […] serious scholars of melancholy, brave and lionhearted with thoughtful thoughts»� 13 Eine traurige Sicht der Blume und ein weiteres Wortspiel mit pensée / pansy� 14 In seinem letzten Gedicht und in den drei weiteren Stornelli erweist sich Carducci als weiterhin beachtenswerter Dichter, gerade außerhalb der von ihm bevorzugten klassischen Gedichtformen� Den ersten italienischen Literaturnobelpreisträger 15 haben gleich zwei deutsche Nobelpreisträger übersetzt: Theodor Mommsen in Zusammenarbeit mit seinem Schwiegersohn, dem berühmten Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf 16 , und Paul Heyse� 17 11 Ebenda, S�-383, Nr�-61: «Als jüngst mein Lieb sich nach dem Veilchen bückte/ sprach dieses: Gott sey Dank, daß in der Nähe/ Die Rose doch einmal zu sehn mir glückte�» 12 Clemens J� Setz, Bot. Gespräch ohne Autor, hrsg� v� Angelika Klammer, Berlin: Suhrkamp 2018, S�-26� In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde Bot am 29�3�2018 (S�-12) von Oliver Jungen unter der Überschrift «Die geheime Lust der Stiefmütterchen» besprochen� 13 Contemporary Poetry� A Retrospective from the Quarterly Review of Literature, hrsg� v�T� Weiss und Renée Weiss, Princeton: Princeton University Press 1975, S�-44 f� 14 Schon Marcel Proust bezieht Stiefmütterchen auf weibliche Garderobe - Odette Swann trägt ein Sträußchen künstliche Stiefmütterchen an ihrem Strohhut� Neun Belege in Renate Mölk, Durch die Blume gesagt� Pflanzen und Blumen in Marcel Poust A la recherche du temps perdu, Heidelberg: Winter 2008, S�- 282 f�; Odette trägt einen Mantel «de couleur pensée», also dunkellila� Diesen Farbton führt der Duden unter «penseefarben» an� 15 Carducci, der den Preis nicht persönlich in Empfang nehmen konnte, starb einige Wochen später, am 16�2�1907� Gunnar Ahlström schreibt in Carducci, Poetische Werke (s� Anm� 5) eine «Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Giosuè Carducci»: «Man hat es also soweit gebracht, aus diesem Preis eine Art letzter Ölung werden zu lassen» (S�-12)� 16 Zehn Gedichte� Übersetzung von Theodor Mommsen und U� Wilamowitz-Möllendorf, Privatdruck Berlin 1879 (Gedichte aus den Odi barbare, 1877 ff�)� Zwei dieser Übersetzungen («Pianto antico» und «In una chiesa gotica», «Im gothischen Dom») stehen in Italienische Gedichte mit Übertragungen deutscher Dichter, zusammengestellt von Horst Rüdiger, Leipzig 1938, S�-291 ff� 17 Zu Heyses fast fünfzig Carducci-Übersetzungen s� Gabriele Kroes-Tillmann, Paul Heyse Italianissimo� Über seine Dichtungen und Nachdichtungen, Würzburg: Kö- Biblioteca poetica 107 Was Celan im eingangs angesprochenen Zusammenhang «Letztheit» 18 nennt und was hier nur an Carduccis Selbstinszenierung behandelt wurde, entspricht sicherlich einem großen Interesse an letzten Gedichten� Nur ein Beispiel sei hier erwähnt: Ralph Dutlis Deutung des letzten Gedichts aus Joseph Brodskys letztem nachgelassenem Gedichtband� 19 Übersetzung und Kommentar: Hinrich Hudde nigshausen und Neumann 1993, S�-226-235; S�-227 der Beleg dafür, dass Heyse die Zehn Gedichte von 1879 besaß� 18 Fremde Nähe, S�-559 (Brief vom 1�8�1960)� 19 Ralph Dutli, «Der Teilchenbeschleuniger der Poesie», Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Anthologie vom 5�1�2019 (Gedichttitel «Mir warfen sie alles vor»)� Ich danke meinem Sohn Ansgar für die Erstellung des Typoskripts und für Hilfe bei der Literaturerschließung.
