eJournals Italienisch 43/85

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2021-0011
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2021
4385 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Barbara Kuhn/Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder: Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr Francke Attempto 2019, 231 Seiten, € 55,00

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2021
Sven Thorsten Kilian
ita43850147
147 DOI 10.24053/ Ital-2021-0011 Buchbesprechungen Barbara Kuhn/ Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder: Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr Francke Attempto 2019, 231 Seiten, € 55,00 Der aus den Beiträgen und Diskussionen der Jahrestagung der Deutschen Leopardi-Gesellschaft im Jahr 2017 hervorgegangene Sammelband widmet sich der im Titel angesprochenen Thematik auf drei komplementären Ebenen, auf denen erstens Leopardis eigene theoretisch-philosophische Ansätze und Reflexionen diskursiver Bildlichkeit, insbesondere im Zibaldone, rekonstruiert und kontextualisiert, zweitens die vom Autor selbst verwendete Bildlichkeit in Lyrik und Prosa analysiert und drittens die Rezeption und der Einfluss seiner Bilder und Bildtheorien im zwanzigsten Jahrhundert aufgezeigt werden� Diese chronologisch angeordnete Auffächerung methodischer Zugänge zwischen genealogischen, interpretatorischen und intertextuellen Zugängen vermittelt selbst nicht nur ein präzise gerahmtes, detailreiches Bild der vom Kongress hochkarätiger deutsch- und italienischsprachiger Leopardi-Spezialisten erarbeiteten Forschungsergebnisse, sondern erfüllt auf erhellende Weise den von den Herausgebern eingangs formulierten Anspruch, neue Korrespondenzen zwischen den unterschiedlichen Schriften und Dichtungen des vielseitigen Poeten und Philosophen aus Recanati aufzuzeigen oder herzustellen� Wie Barbara Kuhn und Michael Schwarze in ihrer luzide formulierten Einleitung darlegen, ermöglichen es die skizzierten komplementären Zugänge dabei auch, die allzu einseitigen kategorialen Zuschreibungen und Verortungen zu umgehen, die Leopardis Werk in der Forschung häufig widerfahren� («Von Erde, Mond und anderen Bildern� Einleitende Überlegungen zur Frage von Bild, Bildlichkeit und Einbildungskraft im Werk Giacomo Leopardis», S�-7-19) Der Band demonstriert anschaulich, dass gerade die Frage nach der Bildlichkeit nicht beantwortet werden kann, wenn vorrangig nach Epochen- oder Strömungszuschreibungen gefragt wird� Dementsprechend partizipieren Leopardis Texte sowohl an barocken als auch an romantischen und an modernen Bildkonzepten, die sich in ihrer Wirkung nicht auf den einen Nenner der Metaphorizität, evidentia oder Vagheit bringen lassen und die ihnen eine Offenheit bzw� Eigenständigkeit einschreiben, welche sie nicht zuletzt - und zunächst unvermutet - attraktiv für den Futurismus und den Surrealismus machen� Von herausragender poetologischer Bedeutung erscheint den Herausgebern dabei völlig zurecht der den unterschiedlichen Prägungen von Bildlichkeit schon im barocken Cannocchiale aristotelico des Emanuele Tesauro Buchbesprechungen 148 gemeinsame Bezug zur Zeitlichkeit der Metapher, der auch bei Leopardi mal für die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen oder Heterogenen, mal für die schnelle Abfolge von Eindrücken, mal für die intendierte Überraschung des Lesers steht (vgl� S�-14)� In der ersten, genealogischen Sektion der Beiträge wird Leopardis Imaginationspoetik auf ihr Verhältnis zum Tournant des Lumières befragt und namentlich zum Einfluss, den die Imaginationskonzepte Descartes’ und Lockes, die Ästhetik Burkes und die Philosophie der Ideologen auf den Italiener hatten, wobei Silvia Contarini in ihrem Aufsatz einleuchtend aufzeigen kann, dass hier keine eindeutigen Filiationskonstruktionen möglich sind («L’infinito e la poetica dell’immaginazione dopo Burke», S�-21-40)� Vielmehr stellt die Autorin treffend fest, dass Leopardi gerade mit seinem dichterischen Werk darauf abzielt, die unterschiedlichen Phasen von Wahrnehmung und Einbildungskraft nicht als voneinander getrennte Vermögensleistungen erscheinen, sondern ihre auch abwegigen Bezüge aufeinander zur Anschauung kommen zu lassen, um der «finiten Realität des Alltäglichen» (S�- 38) ein Bild des Unendlichen anheimzustellen� Milan Herold («Funktionale Bildlichkeit - Leopardis Denkbilder [Frammento XXXIX: Spento il diurno raggio in occidente]», S�-41-64) löst die Zuschreibungskonflikte seinerseits elegant und originell, indem er Leopardis Bildlichkeit als funktional beschreibt und die überzeugende These vertritt, dass der Dichter ein «(romantisches) Transzendenzstreben», das er selbst als gescheitert betrachtet, mittels seiner Verwendung von Sprachbildern in ein Verfahren moderner «Sprachwerdung» umkehre (S�-45)� Giulia Agostini schließlich («Der unendliche Mangel an Bildern� Negativität bei Leopardi», S�- 65-84) bedient sich Schellings Terminologie vom «Ungrund», der aller Unterscheidung und Gegensätzlichkeit von Wahrnehmungsinhalten vorausgeht, um in Leopardis Verfasstheit der Unendlichkeitsmetapher ein «Unbild» zu erkennen, das, mit Kants erster Kritik gewendet, für eine Negativität steht, «ohne jedoch eine Negation zu sein» (S�-74)� Die zweite Serie von Beiträgen befasst sich mit prominenten Bildern in Leopardis Prosa und Poesie� Sebastian Neumeister («Leopardi in Kalifornien», S�- 85-102) zeichnet nach, welchen Berichten und Imaginationen der dem eurozentrischen Blick (noch) entzogenen Amerikas, insbesondere Kaliforniens, der Autor folgt und welche er selbst in Übereinstimmung mit seinen Auffassungen von der zerstörerischen Wirkung der europäischen Zivilisation und mit seiner Parallelisierung von ‘Kind’ und ‘Wildem’ entwirft� Dieses Kalifornienbild gerät so, gerade weil sich an ihm einerseits philosophische Vernunftkritik manifestiert, andererseits zur «Chance für die poetische Phantasie» (S�-94), die, ähnlich dem Bild vom Unendlichen, das der Wahrnehmung Entzogene exploriert, und zwar in vollem Bewusstsein ‘moderner’ Fatalität, 149 Buchbesprechungen die jene Imaginationschancen in dem Maße schmälert, in dem sich der tatsächliche Blick auf das noch nie Gesehene senkt� Sowohl Marc Föcking als auch Georges Güntert widmen sich in ihren Beiträgen den dichterischen «Totenbildern» (Föcking, «Friedhofsdichtung� Leopardis Totenbilder», S�-103-124) bzw� Leopardis «Grabesdichtung» (Güntert, «Poetiken der Grabesdichtung� Foscolo, Leopardi, Montale», S�-125-150), wobei der Erstgenannte in dessen genuin moderner Konzeption des Todes einen «dritten Weg» zwischen der antiken Heroisierung des Todes und dem christlich-romantischen Angst- und Belohnungsparadigma ausmacht� Für den Poeten, so Föcking, ist die unausweichliche Konfrontation mit der Vergänglichkeit des Irdischen ohne Aussicht auf Erlösung Anlass, der Todesangst und damit dem Nihilismus ‘bildend’ (S�-111) zu widerstehen� Güntert hingegen spürt den Todesbildern in der Dichtung in einer vergleichenden Reihung von Foscolo, Leopardi und Montale nach und führt in seinen Analysen vor, dass wir es mit einer systematischen, aber vielleicht auch historischen Diskrepanz zwischen der Imagination des eigenen Todes (Foscolo), seiner dichterischen Abstrahierung (Leopardi) und seiner ästhetischen Eskamotierung (Montale) zu tun haben� Der letzte Teil des Bandes besteht aus fünf Beiträgen zur Rezeption Leopardis und zu dessen Bildverwendung und -theorie in der Moderne bzw� Postmoderne� Paul Strohmeier («Schwellenbilder� Leopardis Spuren im Werk Montales», S�-151-169) verweist in seiner Analyse der Spuren Leopardis bei Montale zunächst einmal und wie die folgenden Autorinnen und Autoren auch völlig zurecht auf die möglichen performativen Widersprüche - sowohl seitens der angesprochenen Schriftsteller und Künstler als auch seitens der Interpreten--, die in der Behauptung oder Zuschreibung von Filiationen im Falle sprachkritischer und/ oder avantgardistischer Figuren liegen, deren manifestes Ziel es ist, sich von jeder Tradition abzugrenzen� Es ist nicht das geringste Verdienst des Bandes insgesamt, dass er gut dokumentiert und argumentativ überzeugend darlegen kann, inwiefern Leopardi gerade für eine derartige, in sich widersprüchliche Indienstnahme in Frage kommen konnte� So sieht Eva-Tabea Meineke («‘La ragione naufraga nel piacere crescente’� Leopardis ‘vaga immaginazione’ in der italienischen Avantgarde und dem Surrealismus», S�-187-200) im spezifisch italienischen Streit zwischen Klassik und Romantik einen hinreichenden Grund für die frühe und genuin europäisch orientierte Herausbildung der Avantgarden um Autoren wie Marinetti und Savinio (vgl� S�-187)� Während für Montale vor allem Leopardis «Schwellenbilder» (Paul Strohmeier) ins Gewicht fallen, die eine ‘Zirkulation’ poetischer Bilder in und zwischen unterschiedlichen Kontexten ermöglichen (S�- 152), sind die Futuristen - die man, wie der Band zeigt, in dieser Bezugnahme durchaus traditionell nennen kann - vor allem an den berühmten Mondbildern des Dichters Buchbesprechungen 150 interessiert und betrachten ihn daher quasi als Vorläufer ihrer eigenen aeropoesia (Emanuele La Rosa, «Leopardi, Marinetti, Futurismo e futurismi� Un rapporto infinito», S�-171-185)� Darüber hinaus verweist Marco Menicacci («Morale cibernetica� L’immagine della macchina da Leopardi a Primo Levi», S�- 201-214) auf Parallelen zwischen Leopardi und Primo Levi, insbesondere was den, beiden Figuren gemeinsamen, doppelten Anspruch angeht, als Literat und als Philosoph gleichermaßen wahrgenommen zu werden� Auch wenn die fundamentalen Unterschiede der zum Vergleich herangezogenen historischen Kontexte und Erfahrungen herauszustellen sind, ist von Gewinn, dass die einleuchtende Bezugnahme auf Leopardis Werk im Sinne eines disumanesimo hier nicht nur, wie sonst üblich, mit Blick auf Nietzsche geschieht� Festzuhalten ist ebenfalls, dass sich die kompositorische Kohärenz des Bandes gerade noch einmal am letzten Beitrag von Laura Aresi manifestiert, die im Vergleich Leopardis mit Calvino betont, dass die oft angesprochene ‘Vagheit’ als Kategorie der Bildkonzeption Hand in Hand geht mit einer außergewöhnlichen sprachlichen Präzision� («‘Herr Leopardi’ e ‘Herr Palomar’� Riflessioni tra canti solitari e prati infiniti», S�-215-231) Sowohl in der hier referierten Fülle als auch in der Stringenz, die die Beiträge mit der Gesamtkonzeption verbindet, stellt der Band eine Bereicherung der Forschungsdiskussionen um Leopardi dar und eröffnet damit auch weiteren Studien vielversprechende Perspektiven� Sven Thorsten Kilian