Italienisch
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2021
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttDie Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt
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2021
Christine Ott
Volker Reinhardt
Caroline Lüderssen
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Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt Auf Einladung des Italienzentrums der Goethe-Universität und der Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien/ Italienstiftung fand am 25. Mai 2021 eine Buchvorstellung und ein Gespräch mit Prof. Dr. Volker Reinhardt als Zoom-Konferenz statt über sein Buch Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens (München: Beck 2020). Kooperationspartner der Veranstaltung waren das Forum für Italienstudien der Universität Mainz sowie die Deutsch- Italienische Vereinigung e.V. in Frankfurt am Main. Wir veröffentlichen hier einen Auszug des Gesprächs. Volker Reinhardt studierte in Kiel, Freiburg i. Br. und in Rom Geschichte und Romanische Philologie. Er wurde mit einer Arbeit über den Kardinal Scipione Borghese promoviert, 1989 habilitierte er sich bei Ernst Schulin in Freiburg mit einer Arbeit zu Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt: Annona und Getreideversorgung in Rom 1563 − 1797. Seit 1992 ist Volker Reinhardt Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Fribourg in der Schweiz. Er ist ein Experte für die Geschichte des Papsttums. Unter seinen rund 20 veröffentlichten historischen Biographien seien zitiert: Leonardo Da Vinci. Das Auge der Welt, München 2018; Pontifex. Die Geschichte der Päpste, München 2017; Luther. Der Ketzer, Rom und die Reformation, München 2016; De Sade oder die Vermessung des Bösen. Eine Biographie, München 2014; Pius II. Piccolomini, der Papst, mit dem die Renaissance begann, München 2013; Machiavelli oder Die Kunst der Macht, München 2012; Die Borgia. Geschichte einer unheimlichen Familie, München 2011; Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia, München 2011; Der Göttliche. Leben des Michelangelo, München 2010; Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009. Für seine Biographie Machiavelli oder Die Kunst der Macht wurde er mit dem Golo-Mann-Preis für Geschichtsschreibung ausgezeichnet. 2020 erhielt er den Kythera-Preis der Kythera-Kulturstiftung, Düsseldorf. Volker Reinhardt hat aber auch großen Ereignissen Bücher gewidmet: Blutiger Karneval. Der Sacco di Roma 1527. Eine politische Katastrophe, Darmstadt 2009, Die Macht der Seuche. Wie die große Pest die Welt veränderte 1347 - 1353, erschienen in München 2021. Magnus Ressel Herr Professor Reinhardt, es ist bemerkenswert, wie Sie in Ihrem Buch den Klischees einer ‘ typischen ʼ italienischen Kulturgeschichte ausgewichen sind - durch eine konsequente Rückbindung an die aktuelle Forschung. So hätte man bei den Venedig-Kapiteln den Topos der decadenza erwartet. Sie erwähnen diesen zwar aus der Sicht der Zeitgenossen Montesquieu, Voltaire und Rousseau, betonen aber, dass die jüngere Forschung das kaum mehr so sieht. Ebenso haben Sie die angeblich lähmende spanische Hegemonie über die Halbinsel in der Frühen Neuzeit ins Reich der Legenden verwiesen. Das ist ein deutlicher Unterschied zu ähnlichen Büchern des Genres. Jedoch überrascht mich, dass Sie im Falle Piemont- DOI 10.24053/ Ital-2021-0020 3 Sardiniens im 18. Jahrhundert eine eher ungünstige Entwicklung des Staatswesens sehen. Diesbezüglich wird in der angloamerikanischen Forschung doch gerne von der «Piedmontese exception» gesprochen, und dabei eigentlich die ältere Idee des ‘ Prussia dell ’ Italia ʼ wiederbelebt. Man betont in der einschlägigen Literatur gerade die Unterordnung des Adels in das modernisierte Heer und sieht damit einen bedeutenden Schritt zum ‘ State Building ʼ gemacht. Die Niederlage gegen Napoleon widerlegt das doch kaum. Gegen diesen verloren doch faktisch alle Staaten und Staatswesen Europas. Warum teilen Sie hier nicht die Auffassung Ihrer angloamerikanischen Kollegen? Volker Reinhardt Vielen Dank für diese interessanten und begründeten Fragen. Die Dekadenz Venedigs im 18. Jahrhundert ist längst als Mythos erwiesen, sie geht in hohem Maße auf die negative Einschätzung der Aufklärer, die Sie genannt haben, speziell der Encyclopédie, zurück. Noch bei Harrington und Spinoza, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ist Venedig die beste aller politischen Welten. Dann kippt dieses völlig idealisierte Bild plötzlich ins Gegenteil um. Die Wahrheit liegt, wie immer, zwischen den Polen. Man kann darüber spekulieren, wie entwicklungsfähig Venedig gewesen wäre, wenn da nicht ein gewisser Napoleon Bonaparte mit seinen Kanonen an der Lagune gestanden hätte, aber ich glaube nicht, dass die Republik Venedig im Vergleich zur europäischen Staatenwelt des 18. Jahrhunderts rückständig ist. Das hängt auch mit einer Überschätzung des Westens zusammen. Sie wissen wahrscheinlich, gegen wen ich da polemisiere; auch Frankreich ist vor 1789 ein Flickenteppich mit sehr viel weniger Macht der Zentrale als der unheilvolle Begriff des Absolutismus suggeriert. Zu Sardinien-Piemont: Hier muss man sicherlich differenzieren. Die Reformzeit bis 1730 unter Vittorio Amedeo II. ist eine bemerkenswerte Zeit. Hier wird in einer wirklich kurzen Zeit eine bedeutende Innovationsleistung erbracht. Der Einfluss der Inquisition, der Kirche allgemein, wird zurückgedrängt. Mit der Domestizierung des Adels ist das so eine Sache, auch in Preußen ist der Adel unter dem angeblich großen Friedrich erschreckend mächtig, er behält seine Hoheit auf dem Land, und bis zum Ersten Weltkrieg ist der preußische Junker ein Kleinkönig. Der piemontesische Adel war nie sehr stark, er hatte nie feudale Rechte wie in Süditalien und anderswo, er bleibt vor der französischen Revolution und teilweise auch lange danach in einer Symbiose mit der Monarchie zusammengeschlossen. Bis 1730 verstärkt sich die Position der Monarchie, aber die Rückläufigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist doch sehr deutlich. Die Anstöße dieser Reformzeit werden nicht wieder aufgenommen, auch im 19. Jahrhundert kommt es ja zu einer regelrechten Re-Klerikalisierung. Man besinnt sich wieder auf ältere Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 4 Patterns, gerade in der sogenannten Restaurationszeit ab 1815 fällt auch der kulturelle Stand der piemontesischen Monarchie im 19. Jahrhundert weit hinter diese Zeit des frühen 18. Jahrhunderts zurück. Wenn dieser Staat durchgehend so innovationsfähig gewesen wäre, dann müsste er im 19. Jahrhundert anders auftreten. Ein vielversprechender und durchaus weitreichender Umgestaltungsprozess bricht hier einfach zu früh ab. Ich glaube, dass sich das belegen lässt und aus der weiteren Entwicklung abgelesen werden kann. Ressel Venedig scheint in Ihrem Buch keine überragende Rolle zu spielen, was angesichts einer überbordenden Dominanz der Markusrepublik in der deutschen Imagination des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Italien zu begrüßen ist. Andererseits findet das im 17. und 18. Jahrhundert sehr dynamische Livorno gar keine Erwähnung, obwohl diese Stadt als Planstadt der Medici (ein Stadtplan des Zentrums zeigt das sofort) mit einer sehr weitreichenden Toleranz für die zahlenmäßig größte jüdische Gemeinde Europas doch auch auf eine eigene Art ein kulturelles Juwel Italiens war - und nach Meinung einiger Forscher die positive, da lukrative Botschaft der Toleranz stark nach Europa ausgestrahlt hat. Es stellt sich daher die Frage: Nach welchen Kriterien sind Sie im Wesentlichen bei der Auswahl Ihrer vielen Schlaglichter vorgegangen? Reinhardt Die Auswahl der Themen sollte so viel Paradigmatisches wie möglich aufzeigen, das heißt, viele Verbindungen von Gesellschaft und Politik auf der einen, Kunst und Kultur auf der anderen Seite herausarbeiten, sollte zeigen, dass Kunstwerke aller Art, intellektuelle Hervorbringungen welchen Genres auch immer mitten in der Gesellschaft, nicht abgesondert in einem von diesen lebendigen Entwicklungen abgeschnittenen Freiraum entstehen. Natürlich haben Sie Recht mit Livorno, man könnte das auch auf die inzwischen sehr gut untersuchte jüdische Gemeinde in Florenz ausweiten, die Forschungen von Stefanie B. Siegmund haben das gezeigt. Die kulturell hochstehenden jüdischen Gemeinden auf Medici- Territorium werden heute ganz anders bewertet. Sie sind nicht primär als Diskriminierung, sondern im Gegenteil als eine Chance zu sehen, sie vermitteln der jüdischen Gemeinde eine teilweise weitreichende lokale Autonomie und dem Großherzog Ansprechpartner, was zu konstruktiven Lösungen führen konnte. Ich würde die ökonomische Bedeutung Livornos für die Gründungszeit hoch ansetzen, aber jenseits des 16. Jahrhunderts lässt sie doch stärker nach als es die bisherige Forschung sieht. Die Stadt hat ja auch ihrem Gründer im 16. Jahrhundert ein schönes Denkmal gewidmet. Gewiss, der angebliche Niedergang der Medici- Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 5 Monarchie im 17. und frühen 18. Jahrhundert ist ebenfalls ein Mythos, er ist von den Habsburg-Lothringern kreiert worden, die ihre Vorgänger in einem möglichst ungünstigen Licht darstellen wollten (wie Politiker das ja gerne tun) und ihre eigenen Reformleistungen dafür umso stärker hervorheben wollten; wir wissen im Grunde seit 1990, dass das nicht stimmt. Ich habe das in zwei anderen Abschnitten etwas zu fokussieren versucht, im Abschnitt über den florentinischen Fußball und die großen kulturellen Leistungen der jüdischen Gemeinden dann in einem Abschnitt zum 19. Jahrhundert. Christoph Cornelissen Meine Frage ist noch einmal die nach dem Verfahren. Wenn man das quantifiziert, ist das einfach tatsächlich so, dass Italien sich immer wieder anbietet als das Land der Schönheit, oder ist das unser Problem, dass wir unsere Augen öffnen müssen, wenn wir uns bewegen, und uns Ihre Methoden einer historischen Archäologie zulegen, damit wir überall sehr viel Schönes entdecken können? Könnte die Methode insgesamt hilfreich sein, um mit offenen Augen einen höheren Grad an Schönheit zu entdecken? Reinhardt Ich könnte Ihnen jetzt eine sehr billige Antwort geben: das UN-Weltkulturerbe ist in Italien weiterhin mit zwei Dritteln der Objekte vertreten, das muss freilich nichts heißen, das zeugt auch von einer geschickten Kulturpolitik Italiens. Die Zeugnisse der Vergangenheit sind gewiss zum großen Teil nicht mehr authentisch − in Rom ist jedes historische Objekt von der Antike bis zur Gegenwart irgendwann einmal umfunktioniert, umgestaltet, aktualisiert, recycelt worden. Aber das ist ja auch ein faszinierender historischer Prozess, der Authentizität eben als dynamisch, nicht als museal definiert. Diese Transparenz der Geschichte sollte nicht als statisch-antiquarisch verstanden werden, sondern als eine Herausforderung nachzudenken, warum hier diese Sichtbarkeit ist, welche historischen Kräfte hier am Werk gewesen sind. Auch für die Italienreisenden des 18. Jahrhunderts war Italien ein Freilichtmuseum Alteuropas, mit allem, was dazu gehört, Abscheu und Faszination. Ob es in Italien mehr Transparenz, mehr Greifbarkeit der Geschichte gibt als in Spanien oder Portugal, das zu beurteilen bin ich nicht kompetent, aber diese unmittelbar anregende, geradezu überwältigende Gegenwart der Geschichte Italiens teilt sich bis heute in sehr hohem Maße mit. Der britische Historiker Gibbon behauptet, seine Geschichte vom Untergang des römischen Imperiums gewissermaßen durch eine Inspiration gewonnen zu haben: Es ist am 15. Oktober 1764, auf dem ehemaligen Forum Romanum psalmodieren Mönche, Kühe weiden, die Wäsche wird getrocknet, und ihm wird elementar die Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 6 Geschichte als Transformationsprozess bewusst. Also bringen wir es auf die Formel, dass Italien ein Land ist, in dem die Geschichte in unerhörtem Maße präsent ist, das lässt sich, glaube ich, nicht bestreiten. Das Unschöne, das Konfliktuelle kommt in meinem Buch durchaus vor, etwa in dem Kapitel über die Benandanti, über die Volkskultur. Auch der Gattinmörder Carlo Gesualdo hat seinen Platz in diesem Buch, wobei es mir darum ging, die Legende zu widerlegen, dass er sein Leben lang ein schlechtes Gewissen hatte, er hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen. Er hat nach neapolitanischem Feudalrecht einen Auftrag zu erfüllen, nämlich eine untreue Frau zu töten. Wir sehen das heute sehr kritisch, aber damals war das legitime juristische Praxis. Also Gewalt - ein Kapitel heißt «Das Blut der Baglioni» - als Humus von Kultur, sei es durch Sühnezeichen, sei es durch Konkurrenzzeichen, sei es durch die Sicht der Sieger, kommt durchaus in meinem Buch vor. Schönheit und Zerstörung hängen sehr eng zusammen, wir hätten heute keine neue Peterskirche, wenn man die alte nicht brutal dem Erdboden gleichgemacht hätte. Caroline Lüderssen Im Epilog nennen Sie ja den Begriff der Krise als etwas, das eigentlich die Höchstleistungen hervorbringt. Ist das auch spezifisch für Italien gemeint, und ist Ihr Urteil nicht etwas sehr zugespitzt, dass Italien heute eine «gestörte, von tiefen Verwerfungen durchzogene Formation» ist (S. 609)? Reinhardt Auch da sind wir in einem Grenzbereich von subjektiv journalistisch eingefärbter Wahrnehmung und belegbaren Fakten. Konfliktualität, wenn sie durch Spielregeln geordnet, domestiziert wird, so wie der große Francesco Guicciardini, der Urvater aller modernen Geschichte, das für Italien vor 1494 sieht, ist das Grundprinzip produktiver Kultur. Wenn diese Spielregeln außer Kraft geraten oder gar nicht mehr vorhanden sind, dann kann aus dieser produktiven Konkurrenz sehr schnell eine Orgie der Gewalt werden, und das haben wir in Italien: Salò brauchen wir ja gar nicht zu zitieren, oder die Guerra dei banditi, die Süditalien einige Jahre nach der von oben vorgenommenen Einigung zerreißt. Krisis heißt ja in der ursprünglichen griechischen Wortbedeutung Entscheidung, Auseinandersetzung nach der Entscheidung, ich glaube, wir haben beide Seiten der Krise in Italien, das Produktive, aber auch das Destruktive. Ob es deutlicher als anderswo hervortritt, ist die große Frage, aber es ist zumindest ein sehr klar definierbares Leitmotiv. Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 7 Elisabeth Oy-Marra Sie haben vorhin noch einmal betont, dass Geschichte anschaulich erzählt werden muss. Aus meinem Erleben heraus ist das nicht selbstverständlich für Historiker, aber das mag eben auch sehr subjektiv sein. Mir fällt auf, dass Sie das Rom des frühen 17. Jahrhunderts ein bisschen ‛ stiefmütterlich ’ , was die kunsthistorische Seite betrifft, beschreiben. Ich frage mich, wo ist da Caravaggio oder Borromini, aber das mag eine sehr kunsthistorische Sicht sein. Reinhardt Das Buch ist aus der Sicht eines Historikers geschrieben - das klingt jetzt vielleicht nach Expansionsstreben oder sogar nach Usurpation - , der die Trennlinie zwischen Geschichte und Kunstgeschichte letztlich für künstlich hält. Ich sehe ganz klar, dass die Kunstgeschichte ihre Parameter, ihre Methoden hat, die durchaus ein Proprium sind, aber letztendlich, glaube ich, gehört in vieler Hinsicht beides zusammen, wobei die Kunstgeschichte selbstverständlich bestimmte Elemente, also etwa stilimmanente Entwicklungen und Ähnliches in besonderer Weise für sich reklamieren kann, aber mir ging es um die Zusammenhänge zwischen beiden, die hier hervortreten sollten: Kunstwerke stehen mitten in der Gesellschaft, sind auf keinen Fall nur, aber doch in sehr hohem Maße Instrumente, Werkzeuge der gesellschaftlichen Statusbildung, der Politik; diesen Aspekt hervorzuheben, war ein Anliegen dieses Buches. Dass dabei bestimmte Künstler stiefmütterlich behandelt werden, hängt mit dem Prinzip der Auswahl zusammen, auch mit dem Prinzip der Transparenz, das dazu dient, hier solche Querverbindungen sehr deutlich nachweisen zu können. Ganz kann ich Ihr Urteil über das römische 17. Jahrhundert nicht akzeptieren, es gibt ein Kapitel über Bernini und die Villa Borghese. Es ging hier vor allem um diese Zusammenhänge. Sie sind wahrscheinlich zu gütig und zu generös, um die eigentliche Lücke und Leerstelle dieses Buches nicht zu erwähnen, ich habe kein Kapitel über Raffael . . . Oy-Marra . . . genau . . . Reinhardt . . . einfach deswegen, weil mir dieser Aspekt der In-Dienst-Stellung, der Vernetzung mit Ökonomie, Gesellschaft und Politik an anderen Beispielen deutlicher nachzuweisen scheint als bei ihm. Und Caravaggio hat, summarisch ausgedrückt, für B-Promis, teilweise für C-Promis gearbeitet, dieser Zusammenhang zwischen Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 8 Kunst und Gesellschaft ist hier also etwas weniger deutlich, das wäre im Großen und Ganzen die Erklärung. Es lag mir sehr am Herzen, ein Kapitel über Venedig im 18. Jahrhundert zu schreiben, weil dieses 18. Jahrhundert meiner Ansicht nach in vieler Hinsicht stereotypisiert und damit verzerrend beurteilt wird. Venedig ist im 18. Jahrhundert eine europäische Kulturmetropole mit enormer Ausstrahlung. Das reicht von der großen Kunst bis in die Rotlichtszene hinein; die Memoiren Casanovas sind wahrscheinlich die faszinierendste Quelle für die Kulturgeschichte Europas im 18. Jahrhundert überhaupt. Bei Vivaldi kann ich eine persönliche Vorliebe wiederum nicht leugnen, aber ich glaube, auch die ist berechtigt, diese Musik strahlt außerordentlich weit aus, und ist eben auch durch Venedigs Platz als, ich sage mal etwas salopp, ‛ Las Vegas des 18. Jahrhunderts ’ , von europäischer Bedeutung. Fast alle europäischen Könige und Fürsten sind inkognito in Venedig im 18. Jahrhundert gewesen, diese Stadt ist kein der inneren Erstarrung oder Sklerotisierung anheimfallendes Auslaufmodell, sondern eine sehr dynamische Stadt. Das ad nauseam strapazierte Klischee vom romantisch verfallenen Venedig des 19. Jahrhunderts muss ganz sicher neu überdacht werden. Es hat gewiss eine Krisenzeit, eine sehr problematische Zeit zwischen 1797 und dem zweiten oder dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gegeben, aber das Schlimme ist, dass Geschichte - vielleicht ist es in der Kunstgeschichte auch so - eben immer in solchen geronnenen Schaubildern gefasst wird, die immer einen harten Kern haben, aber letztlich eine sehr viel komplexere Realität ausblenden und nivellieren. Diese Komplexität des angeblich absterbenden Venedig im 18. Jahrhundert zu widerlegen war der Zweck dieses Kapitels. Sehr gerne hätte ich ein Kapitel über die Dogen des 15. Jahrhunderts oder über Ähnliches hinzugefügt, aber selbst bei einem so umfangreichen Buch ist der Raum begrenzt, es ging ums Paradigmatische, aber der Übergang Venedigs zur terra ferma-Politik, die inneren Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans, das alles hätte sicher noch ausführlicher dargestellt werden können. Hans Aurenhammer Ich fand schon erstaunlich, dass in Ihrem Buch so stark der Bereich des Ästhetischen ins Zentrum rückt, und ich finde den Titel interessant, weil er so doppeldeutig ist: Das ist die «Macht der Schönheit», aber ist es nicht vor allem auch die «Schönheit der Macht», um die es geht? Ich habe mich immer mit italienischer Kunst beschäftigt und wenn es etwas gibt, das ich ein bisschen weniger anziehend finde, dann ist es dies: Es ist schon eine stark propagandistische Kunst, und ich habe persönlich auch die individuellen Äußerungen gesucht. Sie haben Biographien geschrieben über große Künstler: Es würde mich inte- Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 9 ressieren, wie Sie die Spannung zwischen dieser propagandistischen, programmatischen Seite der Kunst und einer anderen Seite der Kunst, die in Italien durch die Kunsttheorie, durch die Entdeckung des Künstlerindividuums und so weiter, auch gefördert wurde, sehen. Die zweite Frage betrifft den Bezug der italienischen Kultur zu Europa. Die vielen italienischen Maler, Stuckateure, Architekten, Bildhauer, die ganz Europa seit dem späten 16. Jahrhundert geprägt haben: Bringen sie sozusagen italienische Kultur eigentlich ins Ausland, oder passen sie sich an? Reinhardt Natürlich ist italianità ein Exportartikel, ein Exportschlager. Italien gilt für die europäischen Eliten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in vieler Hinsicht als Maß aller Dinge. Musiker von großer Bedeutung und großem Talent mussten sich einen italienischen Namen zulegen, um überhaupt reüssieren zu können. Zugleich unterliegt italianità einem Adaptationsprozess, einer Anpassung an im anderen Land vorherrschenden Standards, das macht die Reise Berninis nach Paris sehr deutlich. Wir alle würden uns wahrscheinlich freuen, wenn sein Louvre-Entwurf verwirklicht worden wäre, der wirklich spannender ist als dieses eher kühle, klassizistische Gebäude, das dann von einem französischen Architekten realisiert wird. Das zeigt also, dass ab der Mitte des 17. Jahrhunderts Frankreich in zunehmendem Maße Konkurrenz- und letztlich auch vorherrschendes Modell wird, und trotzdem: italianità wird exportiert, aber auch angepasst. Ich kann aus meiner bescheidenen Heimatstadt Rendsburg am Nord-Ostsee-Kanal in Schleswig-Holstein ein Beispiel zitieren: Als Schüler sind wir auf dem Weg zum Gymnasium immer an einem ziemlich misshandelten Gasthaus, genannt Deutsches Haus, vorbei gefahren. Irgendwann in den 1970er Jahren entdeckte man, dass das ein Palazzo Pelli ist, also der Wohnsitz eines Tessiner Baumeisters, der für den dänischen König die Festung der Stadt Rendsburg neu gebaut hat mit einer Kirche, die heute als einer der besten Konzertsäle Europas gilt. Italienische Künstler aller Sparten, die Stuckateure, die Bildhauer, die Musiker, die Maler und Architekten hatten einen europäischen Arbeitsmarkt, der ganz klar nach Hierarchien geordnet war. Frankreich belegte sicher Platz 1, über die weiteren Plätze lässt sich streiten, es gibt acht Königreiche in Europa im 18. Jahrhundert. Es gibt einige große Fürsten, etwa in Dresden, die attraktive Arbeitsbedingungen bieten, aber alle diese Künstler bringen ihre Werte und Standards aus Italien mit. Um beim Beispiel Rendsburg zu bleiben: Pelli, ein hervorragender Architekt, baut für den dänischen König natürlich ganz anders, als er in Italien bauen würde, sehr viel zurückhaltender, fast schon im Stile des nordischen Klassizismus, aber er baut sich in dieser Stadt einen Palast nach römischem Vorbild. Das ist ein bisschen Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 10 Paradigma für diese exportierte italianità, am Beispiel von Fontainebleau kann man das, glaube ich, auch sehr deutlich sehen, die Maler Rosso Fiorentino und Primaticcio, die hier von François I. ins Land geholt werden, bringen natürlich ihre inkomparablen Errungenschaften mit, aber sie müssen sich eben auch sehr stark an die Vorstellungen der französischen Monarchie und die von ihr bevorzugte Ästhetik anpassen. Das Spannungsverhältnis Propaganda/ Auftrag und Entfaltung künstlerischer Individualität habe ich am Beispiel der Sixtinischen Kapelle, überhaupt am Werk Michelangelos aufzuzeigen versucht. Grundsätzlich besteht das schematische Verhältnis darin, dass der Auftraggeber, ein zahlungskräftiger Geldgeber, meistens ein Fürst oder ein Kirchenfürst, sehr präzise Vorstellungen des Objekts hat, das geschaffen werden soll. Mich haben die Widerspenstigen fasziniert, Leonardo, der die meisten seiner Projekte unvollendet zurücklässt, der nach heutigen Begriffen zweistellige Millionenhonorare kassiert und kaum etwas abliefert. Im Falle Michelangelos kehrt sich dieses selbstverständlich vorausgesetzte Machtverhältnis um. Da ich aus der strengen sozialhistorischen Schule Wolfgang Reinhards komme, der die Gesetzmäßigkeiten der Anthropologie betont, interessieren mich die Durchbrechungen dieser Gesetzmäßigkeit, die Abweichung von der Gesetzmäßigkeit, und die besteht im Falle Michelangelos darin, dass er dem Auftraggeber diktiert, wie das Kunstwerk aussieht, etwa in der Alten Sakristei von San Lorenzo. Giulio de ’ Medici, später Clemens VII., hat ganz andere Vorstellungen, aber Michelangelo setzt sich durch, weil er allein durch seine Urheberschaft eine eigenständige und sehr hochwertige Quelle der Propaganda ist. Christine Ott Ich fand es sehr erfrischend, wie Sie in Ihrem Kapitel zu Alessandro Manzonis Roman Die Brautleute zeigen, warum dieser große Risorgimento-Roman im Nachkriegsitalien in Verruf geriet und der 68er-Generation geradezu zum Hassobjekt wurde. Manzoni zeigt in seiner Geschichte über das Schicksal zweier kleiner Leute im Norditalien der 1620er Jahre, woran es Italien bisher gemangelt hat: an einer aufgeklärten, national gesinnten Führungsschicht, die sich der Fremdherrschaft erfolgreich widersetzt, zugleich aber auch an einer sprachlichkulturellen Einheit. Sie führen vor, wie Manzoni durch seinen «gedämpfte [n] historische [n] Entwicklungsoptimismus» (S. 491), vor allem aber durch seine sprachliche Vorbildfunktion - der Lombarde Manzoni orientiert sich am gesprochenen Florentinischen und vollzieht damit eine Einigung Italiens mit sprachlichen Mitteln - mit diesem historischen Roman zum Inbegriff des literarischen Risorgimento wurde. Im Nachkriegsitalien gerät er aber in den Verdacht, «die Geschichte im Dienst der Mächtigen bewusst zu verfälschen» Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 11 (ebd.). Auch wenn man den paternalistisch-konservativen Grundton der Promessi sposi nicht leugnen kann, bin ich ganz einverstanden mit Ihrer Betonung der Ironie, die Manzonis Geschichtsroman durchwirkt. Der von Ihnen zitierte Michael Bernsen hat die untergründige Skepsis von Manzonis Geschichtsvision noch dezidierter herausgearbeitet. Ich denke, dass gerade Manzonis Pestkapitel einerseits die unheimliche Aktualität dieses Romans belegen, andererseits aber auch eine zutiefst pessimistische Geschichtsvision. Zumindest zeigt der Umgang der Regierenden, der Ärzte ebenso wie der Bevölkerung mit der Mailänder Pest von 1628, dass diese aus der Geschichte nichts gelernt haben. Zwar gab es einige Jahrzehnte vorher eine Pest in Mailand, doch die Parallelen zu damals werden geflissentlich übersehen. Ein Arzt, der den Mut hat, die Krankheit bei ihrem Namen zu nennen, wird vom wütenden Mob bedroht. Verschwörungstheorien kommen auf, Sie schreiben dazu: «Das Wüten der Epidemie erzeugt noch viel irrationalere Verhaltensweisen als der Hunger. Die kleinen Leute machen sogenannte Einschmierer, die todbringende Salben an Türen und Fenster reiben, für das Massensterben verantwortlich.» (S. 489) Auch wenn Manzoni in seiner Pestdarstellung sichtlich mit der Idee einer göttlichen Vorsehung spielt - der Bösewicht Don Rodrigo stirbt an der Pest, während die Protagonisten Renzo und Lucia sie überleben - , wird hier doch eine starke Skepsis an der Möglichkeit einer aufgeklärten und humanen Krisenbewältigung, sowohl von Seiten der Mächtigen als auch der kleinen Leute sichtbar. Wie blicken Sie als Historiker heute auf Manzonis Pestkapitel? Reinhardt Vielen Dank, Sie haben einen sehr komplexen Sachverhalt umrissen. Dieses zentrale Kapitel über Krieg, Hungersnot und Epidemie, die alle drei ja ursächlich eng untereinander verknüpft sind, spiegelt letztlich die Ideologie eines Risorgimento von oben sehr deutlich wider. Die Schuldzuweisungen an der Katastrophe gehen einmal an das unwissende Volk, aber das unwissende Volk ist unschuldig, es ist eben in Unwissenheit gehalten, es weiß es schlicht nicht besser. Die eigentliche sarkastische Schuldzuweisung geht an die spanische Fremdherrschaft. Mailand ist Kolonie in dieser Zeit, das ist natürlich hochaktuell im 19. Jahrhundert, es waren ja, um das noch deutlich zu machen, noch einige spanische Wortfetzen in diese Erzählung mit eingewoben. Die spanischen Machthaber versagen in einem besonders eklatanten Maße: Sie reizen die unwissende Masse zur Weißglut und stehlen sich dann schließlich aus der Verantwortung, das ist Risorgimento-Ideologie pur. Spanien, das ist ja die vorherrschende Sicht der Nationalhistorie im 19. Jahrhundert, hat den intakten lebendigen, produktiven Volksgeist letztlich Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 12 infiziert durch Adelskasten-Arroganz, durch das Lob des aristokratischen Nichtstuns. Das ist schon für Guicciardini das große Thema, ab der Mitte des 16. Jahrhunderts drängt sich hier die spanische Machtstellung, die spanische Hegemonie in den Vordergrund. Dass das Volk sich nicht selbst helfen kann - auch das ist natürlich Risorgimento-Ideologie von oben, es ist nicht Mazzini-Ideologie, aber es ist Cavour-Ideologie, die Zeit für eine Demokratie ist noch nicht reif. Sie kann laut Cavour eines Tages kommen, aber erst einmal bedarf das unwissende Volk einer guten paternalistisch-fürsorglichen vormundschaftlichen Regierung. Die kriegt es im 17. Jahrhundert nicht, und die Schuldzuweisung geht sicher in hohem Maße an die spanische Fremdherrschaft. Die immer wieder durchbrechende milde Ironie ist die Ironie des besseren historischen Wissens. Manzoni schreibt aus der Position eines Autors des 19. Jahrhunderts, der glaubt, die Ursachen für den Niedergang Italiens in dieser Zeit erfasst und verstanden zu haben und der Perspektiven eines Wiederaufstiegs sieht. Die Darstellung der Pest, die Goethe ja sehr bewundert hat, nicht zuletzt, weil sie sich auf authentische Dokumente stützt, ist moralisierend, selbst der ansonsten sehr positiv geschilderte Erzbischof von Mailand Borromeo macht eklatante Fehler, ruft zu Betprozessionen auf, die ein gefundenes Fressen für den Floh sind. Auch Manzoni wusste noch nicht, wodurch die Pest verursacht wird - das ist erst 1894 geklärt worden, als man das Bakterium Yersinia pestis erkannt und erfasst hat - , aber er ist ohne Frage der Meinung, dass sich die Obrigkeiten in dieser Zeit unvernünftig verhalten haben. Und als Mailänder weiß Manzoni natürlich, dass es das schon einmal gegeben hat. In der ganz großen Pestwelle von 1348 gibt es eine Ausnahme: In Mailand wird nicht an der Pest gestorben, weil Luchino Visconti als einziger Machthaber Europas rechtzeitig reagiert, die Stadt isoliert, auch brutal einmauert, sie vorher proviantiert hat, so dass also die ganz große Pest, die im Durchschnitt ein Viertel bis ein Drittel der Europäerinnen und Europäer das Leben kostet, im Mailand des Jahres 1348 ausbleibt. Manzoni schreibt natürlich aus der Perspektive des Nachgeborenen, nach 1721 ist die Pest ja nicht mehr nach Europa zurückgekommen. Ott Sie definieren das Made in Italy als eine «attraktive Synthese von Vergangenheit und Gegenwart, wiederbelebter Klassik und moderater Exzentrik» und erkennen in ihm zugleich eine «aristokratische Prägung» (S. 18). Meine Frage diesbezüglich betrifft die italienische Esskultur. Deren Vielfalt und Exzellenz lassen sich bestimmt auch wieder auf das Konkurrenzprinzip zurückführen, das Sie ja hervorheben und auch auf die Macht der Städte, aber ich denke, dass italienische Esskultur heute weltweit für etwas anderes steht, sie steht für Regionalität, für Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 13 traditionelle Herstellungsmethoden, für die Attraktivität des Einfachen, des Volkstümlichen. Ich würde sagen, es ist die Kreativität der cucina popolare, die heute italienisches Essen zum Inbegriff von italianità macht. Inwiefern findet die Kulturgeschichte des Essens bei Ihnen Platz und wie würden Sie das Phänomen der aristokratischen Prägung zuordnen? Reinhardt Es gibt ein Kapitel über die italienische Küche als Exportschlager, und zwar über «la grande bouffe», das große Fressen auf dem Kapitol Anfang des 16. Jahrhunderts unter dem frisch gewählten Medici-Papst. Ich habe auch zu zeigen versucht, wie große Küche in Europa aus italienischen Wurzeln erwächst, dann allerdings, wie so vieles, das Italien hervorgebracht hat, im Laufe des 17. Jahrhunderts in der französischen Sphäre aufgenommen, weiterentwickelt wird. Die großen Köche und Kochbuchschreiber Europas im 15. und 16. Jahrhundert sind Italiener, sie haben eigentlich auch die Prinzipien der bis heute gültigen Küche entdeckt, einfache, gesunde, ‘ naturnahe ʼ Rezepte, das alles wird von den großen Verfassern der ars culinaria im 15. und 16. Jahrhundert thematisiert. Erstaunlicherweise hat selbst der berühmte Papst-Biograph Platina ein Kochbuch geschrieben. Er war Söldner, Koch und Historiker zugleich, eine interessante Kombination. Diese großen Traditionen und Anregungen werden in hohem Maße in Frankreich weitergeführt. Die Wertschätzung der einfachen, bäuerlichen, ländlichen Küche ist meiner Ansicht nach ein Element der kommunistischen Gegenkultur. Italien nach dem Zweiten Weltkrieg hat mehrere Kulturen und eine sehr respektable, wichtige, eigenständige Gegenkultur von links. Ich bin allerdings eher skeptisch, ob das wirklich ein Exportschlager geworden ist, auch hier gilt m. E. das Prinzip der Anpassung. Eine deutsche Pizza würde ein Neapolitaner nicht in den Mund nehmen, die schmeckt nach deutscher Machart, ist nach völlig anderen Prinzipien zubereitet, also ich bin nicht so sicher, was die Ausstrahlung dieser cucina popolare angeht. Ott Mir ging es vor allem darum zu sagen, dass das, was weltweit als italienisches Essen bekannt ist, zum sogenannten world food wurde, man kann sich natürlich darüber streiten, da bin ich ganz einverstanden, ob das ‛ italienisches Essen ’ ist, aber das sind ja Pasta und Pizza . . . Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 14 Reinhardt Diese Ausbreitung hat es gegeben, aber sie ist eben zugleich auch eine Umformung, und die cucine stellate, die italienischen Küchen und Köche, die vom roten Guide Michelin mit ein, zwei oder drei Sternen bedacht sind, sind doch relativ weit weg von dieser cucina popolare, sie pflegen gewiss italienische Elemente, aber auch sie sind sehr stark wiederum von den französischen Vorbildern beeinflusst, deren Ursprung in Italien liegt: ein Geben und Nehmen, ein Auswandern und Zurückkehren. Lüderssen Ich habe eine Frage zu Ihrem Gattopardo-Kapitel am Schluss des Buchs, was ich sehr spannend finde, weil Sie damit auch die Klammer ‘ Sizilien ʼ wieder schließen. Sie sagen, der Roman liest sich streckenweise wie ein Geschichtsbuch, aber andererseits hat er doch auch Mythen um Sizilien und das Lebensgefühl der Sizilianer generiert, die sich massiv halten, und die dann vielleicht doch nicht mehr so viel mit der wahren Geschichte zu tun haben, ist das nicht ein Widerspruch? Oder zeigt das nur, dass die Literatur für Sie einerseits zu einer Quelle wird und andererseits Geschichte ja auch immer narrativ ist und sich das dann überblendet? Reinhardt Um die Kritik Goethes an Manzoni aufzunehmen: Für Goethe wird der Dichter eigentlich erst durch Umformung, Überformung, Überhöhung der Geschichte zum Poeten, das gilt sicherlich auch für diesen Roman, der in einigen sehr wichtigen Aspekten tatsächlich eine historische Quelle ersten Ranges ist. Der Aristokrat Tomasi di Lampedusa zeichnet uns die Mentalitäten des einfachen Volkes mit einer Tiefenschärfe und einer Genauigkeit, die man kaum in einem anderen Text findet. Der Dialog zwischen dem Principe di Salina und dem Organisten Don Ciccio, der aus einfachen Verhältnissen stammt, ist in dieser Hinsicht ein absolutes Highlight. Es ist ja nicht selten so, dass der Aristokrat dem einfachen Volk näher steht, sehr viel näher als die Schakale, die dann an die Stelle des Leoparden treten. Dem ist wenig hinzuzufügen. Auch Manzonis Darstellung der Pest ist in vieler Hinsicht sehr richtig, die volkstümlichen Mentalitäten werden mit sehr viel Einfühlungsvermögen aufgezeichnet. Das ist Mentalitätsgeschichte vom Feinsten, ich glaube, auch Carlo Ginzburg würde dem zustimmen. Das schließt nicht aus, dass das Gesamtbild des an einer Überdosis Geschichte leidenden Sizilien, des überreifen, letztlich nicht mehr zukunftsfähigen Sizilien hohe literarische Fiktion ist. Das ist wahrscheinlich auch ein persönlich ein- Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 15 gefärbtes Bild des Hocharistokraten Tomasi, der ein sehr problematisches Verhältnis zum Italien seiner Zeit, auch zum Faschismus gehabt hat, das ist natürlich nicht historisch. Sizilien ist eine in jeder Hinsicht lebenskräftige Insel, ich habe das durch das Noto-Kapitel deutlich zu machen versucht, wo im 18. Jahrhundert tatsächlich eine grandiose neue Stadt gebaut wird auf eine Art und Weise, die in vieler Hinsicht modern anmutet. Ich glaube, Einfühlungsvermögen in die Mentalitäten fremder Schichten und historische Mythenbildung müssen sich nicht ausschließen, sie bilden eigentlich eine grandiose Synthese in einem faszinierenden Buch. Oy-Marra In Ihrer Einleitung sind Sie kurz auf die Fremdherrschaft, insbesondere die von Spanien in weiten Teilen Italiens eingegangen und haben zu Recht gesagt, dass das sicher nicht dazu führen kann, dass man weite Teile Italiens nicht mehr als Italien bezeichnen könnte, so habe ich das jedenfalls verstanden. Sie haben aber sehr stark betont, dass diese Fremdherrschaft auf die oberste Ebene der Macht beschränkt sei. Ich würde als Kunsthistorikerin nicht so weit gehen, zu behaupten, die Spanier hätten ihre Kultur mitgebracht, aber die Vizekönige in Neapel waren doch in einer sowieso schwierigen Gemengelage aktiv und agierten zum Beispiel als Auftraggeber, allerdings nicht für Neapel, sondern eben für ihre Heimatstädte oder für Madrid im Auftrag des Königs - ich denke, das ist ein wichtiges Kapitel, was denken Sie darüber? Reinhardt Es ist natürlich erst einmal ein Austausch auf der obersten Ebene der Macht, der für diese Etage der Politik durchaus relevant ist. Der spanische Gouverneur in Mailand, der Vizekönig in Neapel, das sind erstrangige politische Akteure, aber sie zeigen natürlich auch die Grenzen frühneuzeitlicher Staatlichkeit auf. Frühneuzeitliche Staatlichkeit besteht stärker aus Sich-informieren lassen, Kontrolle von regionalen und lokalen Autonomien als in aktiven Interventionen von oberster Ebene. Das hängt damit zusammen, dass es sehr wenig Erzwingungsorgane gibt, es gibt auch keine moderne Polizei, stehende Heere sind erst in Ausbildung begriffen, also man sollte sicher die Machtspielräume dieser obersten Machtetage nicht überschätzen. Das gilt auch etwa für die Visconti in ihrer großen Zeit bis zum 14. Jahrhundert, sehr viele vorher unabhängige Republiken schließen sich dieser Herrschaft an, weil sie das als eine lockere Assoziation, als eine mehr oder wenige symbolische Oberherrschaft, ein Schutzverhältnis ansehen. Diese spanische Dominanz hat eine regulative, stabilisierende Funktion, der Mythos der steuerlichen Auspressung, der kolonialen Ausbeutung ist heute weitgehend Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 16 widerlegt. Ein Ausbluten vormals produktiver Wirtschaftsregionen durch diesen angeblichen unerträglichen spanischen Fiskaldruck, das hat es so nicht gegeben. Natürlich hat es eine Abschöpfung gegeben, aber letztendlich hat das zwei Seiten: eine koloniale Ausnutzung Italiens, aber eben auch eine schiedsrichterliche schlichtende Funktion auf der obersten Ebene. Diese spanischen Machthaber in Mailand und Neapel nahmen immer auch eine sehr prekäre Stellung ein. Sie mussten letztlich einen Konsens mit den dortigen Eliten herbeiführen, weiter reichende längerfristige Konflikte konnten sie sich nicht erlauben, dann schrieb der Senat von Mailand, oder dann schrieben die einflussreichen Aristokraten in Neapel an den spanischen König und baten untertänigst darum, doch einen geeigneteren Stellvertreter zu schicken und das war meistens das Ende des Gouverneursamts oder des Vizekönigsamts. Diese spanischen Machthaber auf Zeit - es konnten zwei Jahre, manchmal auch längere Zeiten sein - müssen sich sehr stark an ihren Wirkungsort anpassen. Sie brauchen eine relativ lange Zeit, bis sie die Spielregeln verstanden haben, die Spielregeln in Neapel sind so kompliziert, dass die Historiker sie bis heute nicht völlig verstanden haben. Wer da wo sitzt und Einfluss hat, das ist wirklich, salopp gesagt, ein Piranha-Becken mit sehr vielen gegensätzlichen Einflüssen, das war kein beneidenswerter Job. Ein kluger Vizekönig in Neapel hielt sich raus, versuchte, sein Prestige zu mehren, sich mit den einflussreichen Fraktionen zu einigen und natürlich von diesem kulturellen Ambiente zu profitieren. Für die Besprechung von Volker Reinhardts Buch Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens durch Jürgen Charnitzky s. S. 108 ff. in diesem Heft (Hinweis der Redaktion). Die Macht der Schönheit oder Die Schönheit der Macht: A colloquio con Volker Reinhardt 17
