Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2021-0030
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttLorenzo Tomasin: Europa romanza. Sette storie linguistiche, Torino: Einaudi 2021, 234 Seiten, € 25,00
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Rafael Arnold
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Kurzrezensionen Lorenzo Tomasin: Europa romanza. Sette storie linguistiche, Torino: Einaudi 2021, 234 Seiten, € 25,00 Wohl kaum jemand kennt die Namen Guglielma Venier, Pietro d ’ Alamanno, Bondì de Iosef, Bartol de Cavalls, Isabelle Hamerton und Henri de Praroma. Anders sieht es vielleicht im Falle von Orlando di Lasso aus, der unter Musikliebhabern noch heute eine gewisse Berühmtheit besitzt. Der Romanist Lorenzo Tomasin, der an der Universität Lausanne lehrt, hat sich dieser Personen, genauer gesagt der von ihnen verwendeten Sprachen angenommen und widmet ihnen je ein Kapitel. Das siebente über den Komponisten Orlando di Lasso nennt Tomasin eine musikalische Zugabe, wobei die Betonung auf Zugabe liegt, denn seine vielsprachigen Briefe fallen, wie gezeigt wird, ein wenig aus dem Rahmen. Ausgangspunkt jedes Kapitels ist jeweils ein kurzes, handgeschriebenes Textdokument aus unterschiedlichen geographischen Gegenden. Zumeist handelt es sich um « testi di carattere pratico», die nicht für eine Veröffentlichung gedacht waren, wie beispielsweise Kaufmannsbriefe oder Testamente, die keinen literarischen Anspruch erfüllen. Selbst wenn einige einem gewissen formalen Zwang unterliegen, bieten sie doch Raum für Alltagssprache und Idiolekt, wie beispielsweise, wenn es in den Niederschriften des Letzten Willens um die Benennung von Hab und Gut des Erblassers geht. Und genau um diese individuellen Spuren im Sprachgebrauch geht es Tomasin. Die Texte der Verfasserinnen und Verfasser stammen aus der Zeit des ausgehenden Mittelalters, also zeitlich vor den großen nationalsprachlichen Normierungsmaßnahmen, als sprachliche Variation in der Schriftlichkeit selbstverständlich war - was allerdings keine vollkommene Regellosigkeit bedeutet. Tomasin setzt sich mehrere Ziele für sein Buch. Zunächst rückt er die ausgewählten Personen in ihren jeweiligen historischen Hintergrund, beleuchtet ihre gesellschaftliche Stellung, nennt familiäre Zusammenhänge und geschäftlichen Beziehungen, die ihm Anlass bieten, zahlreiche kulturgeschichtliche Umstände zu erörtern. Dazu zählen die Produktion von Waren, der Handel und die Handelswege, die in der Regel grenzüberschreitend waren. Sodann geht es ihm um das individuelle sprachliche Repertoire der Personen. Eine Gemeinsamkeit aller hier vorgestellten Personen ist, dass sie mindestens eine romanische Varietät sprechen; manche sprechen mehrere, und einige außerdem noch eine andere Sprache, wie etwa Bondì de Iosef, zu dessen sprachlichem Repertoire auch zumindest rudimentäre Kenntnisse des Hebräischen zählten. DOI 10.24053/ Ital-2021-0030 147 Außerdem geht es Tomasin aber auch darum, zu demonstrieren, dass Mehr- oder Vielsprachigkeit im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit eine Selbstverständlichkeit darstellten. Dabei zielt seine Textauswahl gerade auf nichtliterarische Sprachzeugnisse. Der pragmatische Umgang der Menschen mit sprachlicher Variation, aber auch mit Anderssprachigkeit (hier vor allem innerhalb der romanischen Sprachfamilie), erlaubte ihnen, so Tomasin, ein Gemeinschaftsgefühl und ein europäisches Bewusstsein, das er im Buchtitel Europa romanza zum Ausdruck bringt. Dieses romanische Europa reichte über die heutige Romania hinaus, und so umfasst die Auswahl auch Texte aus angrenzenden Sprachräumen, im Norden beispielsweise England, wo Isabelle Hamerton lebte, oder im östlichen Mittelmeerraum, mit ein. Die Mehrsprachigkeit der einzelnen Personen, die aus familiär oder ökonomisch bedingter Migration oder dem persönlichen Bildungsgang resultierte und etwa dem beruflichen Nutzen diente, zeigt sich in diesen Dokumenten meist spontan und unbewusst in Form von Interferenzen zwischen den verschiedenen Idiomen oder in Unsicherheit hinsichtlich der Flexionsformen von Verben oder Pluralformen von Substantiven und Adjektiven (gerade darin bilden die Briefe von Orlando di Lasso eine Ausnahme, weil ihr Verfasser in ihnen offensichtlich mit Absicht von Satz zu Satz die Sprache wechselt). In sämtlichen dargestellten Fällen stand der individuelle Bi- oder Multilinguismus im Kontext einer gesellschaftlichen Di- oder Polyglossie, die in dieser Zeit in bestimmten Kommunikationsdomänen (Rechtswesen, Religion, z.T. Wissenschaft) noch das Lateinische als internationale Sprache umfasste, was Tomasin im Zusammenhang mit dem Testament von Isabelle Hamerton sehr überzeugend erläutert. Das Besondere an diesem Buch ist die sorgfältige Analyse der Einzeldokumente bis ins kleinste Detail. So entscheidet manchmal ein einzelner Konsonant oder Vokal, Laut oder Buchstabe über die Zuordnung zu einer Varietät oder einem Dialekt, wie im Falle der Formen signuri (signori) und minuri (minori) mit metaphonischer Vokalerhöhung, die Tomasin dem padovano zuschlägt, eine Vermutung, die er mit biographischen Details, die einen längeren Aufenthalt der Verfasserin Guglielma Venier auf der Terra ferma nahelegen, in Einklang bringen kann. Auf allen möglichen sprachlichen Ebenen, am deutlichsten natürlich auf dem Gebiet des Wortschatzes, identifiziert Tomasin sprachliche Einflüsse. Hier dient ein einzelnes Lexem, eine Warenbezeichnung oder sonst ein Wort zum Sprungbrett in etymologische Erklärungen (z. B. bei Henri de Praroma aus Fribourg in der Schweiz, um den Ursprung des modernen politisch-administrativen Begriffes Kanton zu erklären). Das ist Mikrophilologie im besten Sinne. Wer das für sterilen Positivismus halten mag, wird eines Besseren belehrt. Denn Tomasin lässt es nicht bei der bloßen Identifikation bewenden, sondern entfaltet, Kurzrezensionen 148 von einer Textstelle ausgehend, die Biographie der Verfasserinnen oder Verfasser und vergegenwärtigt anhand weniger Einzelheiten deren Lebenswelt. Großen Einfluss auf das individuelle Sprachverhalten hat selbstverständlich die Bildung, deshalb erörtert Tomasin an mehreren Stellen Bildungsmöglichkeiten der Zeit, die Schreibgewohnheit und, anhand von Verzeichnissen privater Bibliotheken wie derjenigen des Iosef di Bondì, die Lektürevorlieben. Geographisch und kulturell überschreitet die Untersuchung die traditionell als Romania bezeichneten Gebiete, auch unterläuft sie eine klare neuzeitliche Einteilung nach den dominierenden Sprachen Italienisch und Französisch nicht nur durch die Zuordnung der Texte zu ‘ kleineren ’ , regionalen Sprachen und Varietäten, sondern vor allem durch die Sprachmischung in den Texten selbst, die Ausdruck von sprachlicher Freiheit und Zusammengehörigkeit zugleich sind. Hierzu gehören auch die judenromanischen Varietäten, wie das Judenspanische und Judenitalienische, über die man auf Basis des aktuellen Forschungsstandes ebenfalls viel erfährt. Die Kapitel lassen sich unabhängig voneinander lesen, zugleich sind sie durch Querverweise untereinander verbunden. Auf vorbildliche Weise bietet dieses Buch nicht nur «storie linguistiche», wie der Untertitel verspricht, sondern eine sehr viel umfassendere Darstellung einer vergangenen Epoche. Damit unterstreicht er die Bedeutung von Linguistik als Schlüssel zur Interpretation menschlichen Seins und Handelns. Und sachte wird man vom Autor darauf hingewiesen, dass wir daraus für das gegenwärtige Europa und seine Sprachenvielfalt ebenfalls etwas lernen können. Rafael Arnold Lingue naturali, lingue inventate. Atti della Giornata di studi (Trento, Dipartimento di Lettere e Filosofia, Palazzo P. Prodi, 29 novembre 2019) a cura di Serenella Baggio / Pietro Taravacci, Alessandria: Edizioni dell ’ Orso 2020, 256 Seiten, € 38,00 Am Anfang einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Phänomen Kunstsprachen stand für die Herausgeberin Serenella Baggio die Lektüre von Alessandro Bausanis Le lingue inventate. Linguaggi artificiali, linguaggi segreti, linguaggi universali (Rom 1974). Einen vorläufigen Höhepunkt erlebte dieses Forschungsinteresse mit einer wissenschaftlichen Tagung zum Thema Lingue naturali, lingue inventate im November 2019 an der Universität Trento, wo die beiden Herausgeber, Serenella Baggio und Pietro Taravacci, als Philologen im Bereich der Romanistik tätig sind. Die Ergebnisse dieser Veranstaltung liegen nun als Sammelbandpublikation vor. DOI 10.24053/ Ital-2021-0031 Kurzrezensionen 149