Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2021-0031
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttLingue naturali, lingue inventate. Atti della Giornata di studi (Trento, Dipartimento di Lettere e Filosofia, Palazzo P. Prodi, 29 novembre 2019) a cura di Serenella Baggio / Pietro Taravacci, Alessandria: Edizioni dell’Orso 2020, 256 Seiten, € 38,00
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Maria Lieber
Christoph Oliver Mayer
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von einer Textstelle ausgehend, die Biographie der Verfasserinnen oder Verfasser und vergegenwärtigt anhand weniger Einzelheiten deren Lebenswelt. Großen Einfluss auf das individuelle Sprachverhalten hat selbstverständlich die Bildung, deshalb erörtert Tomasin an mehreren Stellen Bildungsmöglichkeiten der Zeit, die Schreibgewohnheit und, anhand von Verzeichnissen privater Bibliotheken wie derjenigen des Iosef di Bondì, die Lektürevorlieben. Geographisch und kulturell überschreitet die Untersuchung die traditionell als Romania bezeichneten Gebiete, auch unterläuft sie eine klare neuzeitliche Einteilung nach den dominierenden Sprachen Italienisch und Französisch nicht nur durch die Zuordnung der Texte zu ‘ kleineren ’ , regionalen Sprachen und Varietäten, sondern vor allem durch die Sprachmischung in den Texten selbst, die Ausdruck von sprachlicher Freiheit und Zusammengehörigkeit zugleich sind. Hierzu gehören auch die judenromanischen Varietäten, wie das Judenspanische und Judenitalienische, über die man auf Basis des aktuellen Forschungsstandes ebenfalls viel erfährt. Die Kapitel lassen sich unabhängig voneinander lesen, zugleich sind sie durch Querverweise untereinander verbunden. Auf vorbildliche Weise bietet dieses Buch nicht nur «storie linguistiche», wie der Untertitel verspricht, sondern eine sehr viel umfassendere Darstellung einer vergangenen Epoche. Damit unterstreicht er die Bedeutung von Linguistik als Schlüssel zur Interpretation menschlichen Seins und Handelns. Und sachte wird man vom Autor darauf hingewiesen, dass wir daraus für das gegenwärtige Europa und seine Sprachenvielfalt ebenfalls etwas lernen können. Rafael Arnold Lingue naturali, lingue inventate. Atti della Giornata di studi (Trento, Dipartimento di Lettere e Filosofia, Palazzo P. Prodi, 29 novembre 2019) a cura di Serenella Baggio / Pietro Taravacci, Alessandria: Edizioni dell ’ Orso 2020, 256 Seiten, € 38,00 Am Anfang einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Phänomen Kunstsprachen stand für die Herausgeberin Serenella Baggio die Lektüre von Alessandro Bausanis Le lingue inventate. Linguaggi artificiali, linguaggi segreti, linguaggi universali (Rom 1974). Einen vorläufigen Höhepunkt erlebte dieses Forschungsinteresse mit einer wissenschaftlichen Tagung zum Thema Lingue naturali, lingue inventate im November 2019 an der Universität Trento, wo die beiden Herausgeber, Serenella Baggio und Pietro Taravacci, als Philologen im Bereich der Romanistik tätig sind. Die Ergebnisse dieser Veranstaltung liegen nun als Sammelbandpublikation vor. DOI 10.24053/ Ital-2021-0031 Kurzrezensionen 149 Die acht hier versammelten Artikel und das Nachwort von Serenella Baggio konturieren das Panorama der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Natur- und Kunstsprachen aus linguistischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive und unterfüttern ihre Argumentation mit umfangreichen Literaturverweisen. Davide Astori («Quanto è naturale una lingua pianificata? »; S. 5 − 31) präsentiert den Forschungsstand zum Esperanto aus linguistischer Perspektive und untermauert, wie gerade Metaphern das natürliche Potential dieser Kunstsprache andeuten. Der Beitrag von Emanuele Banfi («Forma e percezione di ‘ parole ’ in lingue storico-naturali tipologicamente diverse»; S. 33 − 61) fragt unter Berücksichtigung in sich unterschiedlichster Weltsprachen - Latein, Arabisch, Türkisch, Chinesisch - nach der Bedeutung von Wortbildung für das Konstrukt Sprache, während Franco Crevatin («Saperi riservati e usi linguistici: note su alcuni casi antichi»; S. 63 − 69) einige Thesen zum Zusammenhang zwischen dem Altägyptischen, Griechischen und Latein vorlegt bzw. den Hellenismus als eine Art Globalisierungsphänomen deutet. Zwei Aufsätze beschäftigen sich mit der Theorie der Universal- und Kunstsprachen. Massimiliano De Villas Beitrag («Dalla lingua di Adamo alla lingua pura: la riflessione del primo Benjamin sul parlare umano e sulla traduzione»; S. 71 − 96) interessiert sich für die Sprachtheorie des jungen Walter Benjamin und thematisiert die Gefahr des Bedeutungsverlusts durch Übersetzungen. Francesca Dovetto fragt in ihrem Artikel «Vulgariser l ’ idée de la langue universelle alle soglie del XX secolo» (S. 97 − 114) nach der Idee der Universalsprache, wie sie sich Ende des 19. Jahrhunderts v. a. in Paris wieder über Sprachgesellschaften und Zeitschriften verbreitete. Historisch weiter zurück geht Giorgio Graffi («I progetti di lingue universali nel Seicento: il loro ruolo nella storia della grammatica»; S. 115 − 133), und zwar in das Großbritannien des 17. Jahrhundert zu den Projekten des Schotten George Dalgarno und des Engländers John Wilkins. Diese werden mit Ansätzen von Leibniz, Eco und Chomsky verglichen, die allesamt auf die Ideen der beiden britischen Vorläufer zurückgegriffen haben. Marco Mancini präsentiert in «Quando gli scienziati inventarono una lingua: il pahlav ī nella filologia dell ’ Ottocento» (S. 135 − 195) äußerst umfangreich eine besondere Form von Kunstsprache, das ‘ pahlav ī zoroastriano ʼ , eine im 19. Jahrhundert wiederbelebte Sprache des Zarathustrismus. Glauco Sanga («In statu nascenti. L ’ infinito della lingua franca e il verbo nei pidgin»; S. 197 − 214) nimmt sich die «lingua franca» vor, eine vormoderne Verständigungssprache des Mittelmeerraums, die noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts belegt ist und eine Mischung aus verschiedenen romanischen Sprachen und arabischen, türkischen, persischen, griechischen und slavischen Einflüssen darstellte. Dabei zeigt Sanga auf, wie verschiedene Pidgin-Varianten eine ähnliche Entwicklung nehmen. Andrea Scalas Beitrag «Manipolazione del significante e invenzione delle parole nel gergo: qualche considerazione a partire Kurzrezensionen 150 da materiali italo-romanzi ed etio-semitici» (S. 215 − 229) schließt das Panorama ab mit einer Untersuchung des gergo. Die beiden letztgenannten Aufsätze sollen nun näher besprochen werden, weil sie zum einen sehr gut die historische Dimension der lingua franca (Sanga) zum Ausdruck bringen und zum anderen sich der theoretischen Analyse und dem Sprachvergleich widmen (Scala). Glauco Sanga beschäftigt sich in seinem sehr aufschlussreichen Ansatz mit einem Vergleich zwischen dem Infinitiv in der lingua franca und in verschiedenen modernen Pidginformen, wobei er im ersten literarischen Beispiel des Contrasto della Zerbitana, das auf die Zeit zwischen 1284 und 1305 zu datieren ist und von einem anonymen Autor stammt, durchgehend infinite Formen wie «Oi Zerbitana reticha, come ti voler parlare? / Se per li capelli prendoto, chome ti voler chonciare? / e così voler chonciare - tutte le votre ginoie» (S. 197) findet. Das Verbalsystem besteht demnach in der lingua franca lediglich aus drei Formen: Infinitiv (etwa mirar) für die Formen der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft (bei Futur und Konditional geht dem noch ein bisogno voran: bisogno mirar); mirato für alle Formen des Präteritums; und mira oder mirar für den Imperativ. Sehr eindrucksvoll belegen die reichlichen Funde die weitere literarische Verwendung der lingua franca von Luigi Pulci (ca. 1473) bis zu Louis Faidherbe (1884), wobei es eine ununterbrochene Tradition zu geben scheint. Tatsächlich sieht Glauco Sanga dies auch für den Infinitiv anderer Pidginformen auf romanischer Basis bestätigt (afro-portugiesisch, 15./ 16. Jahrhundert; afrospanisch, Anfang 16. Jahrhundert; spanisch-maurisch, 16./ 17. Jahrhundert; spanisch-philippinisch, 19. Jahrhundert; «Pidgin a base italiana», 19./ 20. Jahrhundert; altfranzösisch (Roman de Renart), 12./ 13. Jahrhundert): «Non c ’ è ragione per separare la lingua franca dagli altri pidgin, e infatti l ’ uso dell ’ infinito è ben diffuso nei pidgin a base romanza» (S. 204). Deutlich unterscheiden sich diese Pidginformen allerdings in ihrer funktionalen Zugehörigkeit: Während die lingua franca ein Verbalsystem besitzt, operiert die Pidginsprache ähnlich wie in den ersten Phasen des Spracherwerbs mit Substantiven: «È ben vero che nelle prime fasi dell ’ apprendimento del linguaggio non si sono ancora distinte le categorie grammaticali, quindi a rigore per una parola usata in maniera olofrastica non si può ancora parlare di nome o verbo, ma solo di forma sprovvista di categoria grammaticale, ma appunto per questo parlo di forma non marcata, e questa forma non marcata in seguito assumerà la categoria formale del nome, visto che nella frase olofrastica si dice acqua, non bere; pappa, non mangiare; nanna non dormire.» (S. 207) Die lingua franca scheint also eine Jahrhunderte hindurch benutzte Koinè gewesen zu sein, wohingegen das Pidgin ontogenetisch im jeweiligen Sprachkontakt stets wieder neu über die Nominalphrase entsteht. Kurzrezensionen 151 Andrea Scala betrachtet den gergo als rein lexikalisches Phänomen aus der Perspektive der künstlichen Entwicklung von Sprache: «Nel gergo dunque il lessico è tutto, o quasi, e l ’ Abstand lessicale è lo strumento fondamentale utilizzato dai gerganti per marcare il proprio gruppo. Si tratta in verità di un Abstand molto efficace sul piano identemico-coesivo e che consente anche la possibilità dell ’ uso criptolalico del gergo, funzione molto importante ideologicamente per i gerganti, quanto poco sfruttata a livello di atti linguistici concreti.» (S. 216) Diesen Zustand von Sprachen, den Scala nach Sanga (2014) 1 als Abstand definiert, untermauert er an Beispielen aus typologisch weit voneinander entfernten Sprachen aus dem italo-romanischen und äthiopisch-semitischen Raum, um so einen historisch gewachsenen Zusammenhang zwischen den Sprachen, wie es in europäischen Kontaktsprachen der Fall sein kann, auszuschließen. Es ist vielmehr so, dass etwa vorhandene Innovationen phonologischer Natur (von Scala sogenannte ‘ manipolazioni ʼ ) sich nicht im lexikalischen Bereich spiegeln, wie dies z. B. bei vispuviza ( ‘ lui] puzza ʼ ) oder viguarvirda ( ‘ guarda ʼ ) in einem norditalienischen dritto (etwa ‘ Clownerei ʼ von Zirkusleuten (dazu Giudici 2011/ 12) der Fall ist. Im Argot der von Wolf Leslau bereits 1964 untersuchten Sprache der Azmari, Sänger äthiopischer Bars und Hotels, die sich traditionellerweise mit der Masengo begleiten, wird dieses hier dargestellte Phänomen mit der Silbeneinfügung nach der ersten Silbe beschrieben: qärädda ‘ estrarre acqua ʼ (amharisch qädda) oder amazzäzä ‘ ordinare ʼ (amharisch azzäzä). Scala resümiert, dass die Etymologie in den Kunstsprachen nahezu keine Rolle spielt. Insgesamt entwickeln die Beiträge in der Konfrontation von Kunstsprachen mit natürlich entstandenen Sprachen mehr Fragen als Antworten rund um das Thema Universalsprache und das Verständnis und die Akzeptanz von Opazität von Sprachen. Damit untermauern sie das, was Hugo Schuchardt bereits 1904 formuliert hatte, nämlich dass die Kunstsprachen mehr oder weniger natürlich und die natürlichen Sprachen ebenso mehr oder weniger künstlich sind. Maria Lieber/ Christoph Oliver Mayer DOI 10.24053/ Ital-2021-0031 1 Der Terminus ‘ Abstandsprache ʼ stammt von Heinz Kloss: Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800, 2., erweiterte Auflage, Düsseldorf: Schwann 1978. Kurzrezensionen 152
