Italienisch
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0171-4996
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Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2021-0032
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttPia Claudia Doering: Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron. Eine novellistische Analyse juristischer Erkenntniswege, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2020, 324 Seiten, € 79,95, eBook € 72,90
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Lena Schönwälder
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Pia Claudia Doering: Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron. Eine novellistische Analyse juristischer Erkenntniswege, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2020, 324 Seiten, € 79,95, eBook € 72,90 Pia Claudia Doering legt mit Praktiken des Rechts in Boccaccios ‘ Decameron ʼ eine umfassende Analyse juristischer Diskurse in Boccaccios Decameron vor. Die erklärte Forschungsabsicht lautet zu zeigen, dass Boccaccio narrativ einen «Beitrag zur Rechtsreflexion» (S. 12) leiste, indem er die Jurisprudenz und ihre Repräsentanten über gängige Allgemeinplätze der Juristensatire hinaus einer profunden Kritik unterziehe. Er stelle dabei vor allem die in der Rechtspraxis angewandten Methoden der Wahrheitsfindung auf den Prüfstand und lasse diese in Konkurrenz zu alternativen Erkenntniswegen - nämlich solchen der Literatur - treten, denn, so das Anliegen Doerings, «poetologische Aussagen [stehen] im Decameron häufig im Kontext der Konkurrenz der Dichtung mit anderen Disziplinen, namentlich der Jurisprudenz und der Theologie» (S. 26). Der erste Teil der Arbeit widmet sich also solchen Novellen, in denen Juristen im Widerstreit mit Repräsentanten anderer Disziplinen, wie Theologen, Laien und Künstlern, dargestellt werden. Im zweiten Teil der Arbeit steht die «novellistische Betrachtung und Beurteilung des Rechtswandels» (S. 28) im Zentrum, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Art und Weise liegt, wie im Decameron juristische Methoden der Wahrheitsfindung kritisch reflektiert werden. Im ersten Kapitel («Juristen im Wettstreit der Disziplinen», S. 29 - 130) folgt nach einem generellen Überblick über die gesellschaftliche Stellung der Jurisprudenz - besonders im Verhältnis zu weiteren universitären Disziplinen - und die gängigen Vorbehalte, die gegen Vertreter des Rechtswesens bestanden, die Analyse von fünf Novellen, die einen Disziplinenstreit implizit oder explizit in Szene setzen: Novelle I, 1 (Ser Cepparello), Novelle VI, 5 (Giotto und Forese da Rabatta), Novelle VIII, 5 (der Richter ohne Hosen), Novelle II, 10 (Riccardo da Chinzica) und Novelle III, 7 (der für tot erklärte Tebaldo). Zu betonen ist, dass der gewählte Ansatz auch bei vielbesprochenen Texten wie jener ersten Novelle des Decameron Nuancen hervortreten lässt, die sich dem Interpreten/ der Interpretin nicht unmittelbar aufdrängen. So sei die Tatsache, dass Ser Cepparello ein Notar ist, wie die Verf.in betont, durchaus nicht akzidentiell. Vielmehr ergebe sich daraus eine weitere Deutungsebene der Beichtszene zwischen Cepparello und dem Frate als Vertreter der Theologie, nämlich eine Reflexion und Problematisierung der confessio, der Beichtpraxis, die sich an der Schnittstelle zwischen beiden Feldern befindet. Dass die unerhörte Beichte Cepparellos gelingt, ihm gar die Heiligsprechung nach dem Tode einbringt, demonstriere auf drastische Weise, dass sowohl das Rechtssystem als auch die Theologie dem Irrglauben aufsitzen, das Innere des Menschen über sprachliche und nicht-sprachliche Zeichen (hier im DOI 10.24053/ Ital-2021-0032 Kurzrezensionen 153 Besonderen auch die äußeren Zeichen der Reue, der contritio) erschließen zu können. Damit werde die grundsätzliche Unmöglichkeit demonstriert, absolute Wahrheiten durch Zeichen rekonstruieren zu können. Wie fehleranfällig Theologie und Justiz sind, inszeniere auch Novelle III, 7: Tebaldo, der zum «weltliche[n] Erlöser und Heilsbringer» (S. 126) stilisiert wird, gelingt es, einen groben Justizfehler aufzudecken und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Indem der Protagonist dabei eben jene Methoden - d. h. eine Sprache, die zur simulatio und dissimulatio instrumentalisiert wird - verwendet, die den Mönchen und Juristen zur Wahrung ihrer Interessen dienen, demonstriert er ihre Fehlbarkeit und zeigt, wie sie zum Bösen eingesetzt werden können. Wenngleich die Analyse rundum überzeugt, sei immerhin angemerkt, dass Tebaldos Überredung der Geliebten in Verkleidung des Pilgers moralisch fragwürdig scheint - was seiner narrativen Funktion als Erlöserfigur teilweise zuwiderläuft. Er nutzt gerade die perfiden Techniken jener Gruppen, Mönche und Juristen, deren Verkommenheit er zu beweisen gedenkt, um die Geliebte zur Rückkehr in die außereheliche Beziehung zu drängen. Damit übt er genau wie der Mönch zuvor sprachliche bzw. emotionale Gewalt aus, um seine eigenen Interessen durchzusetzen - auch wenn dies im Namen der gegenseitigen Liebe geschieht. Die Einzelanalysen dieses ersten Kapitels veranschaulichen insgesamt, wie im Decameron «menschliche Zeichensysteme und ihre Abhängigkeit von Affekt- und Machtstrukturen» (S. 130) prekarisiert, doch gleichsam mit beffa und motto zwei probate Mittel aufgezeigt werden, Erkenntnis zu stiften (so insbesondere in VI, 5 und VIII, 5). Dass im Decameron vielfach Richter mit ihren (Fehl-)Entscheidungen inszeniert werden, sei, so Doering, als Reflexion eines historischen Wandels im Rechtssystem zu verstehen, nämlich der «Übertragung der Urteilsmacht von Gott auf einen menschlichen Richter» (S. 136). Im Zentrum des zweiten Kapitels («Recht und Wahrheit», S. 131 - 209) stehen nun jene Novellen (VIII, 6: Bruno und Buffalmacco; IV, 6 und IV, 7; II, 1: der Gaukler Martellino), die juristische Methoden der Wahrheitsstiftung radikal in Frage stellen, darunter vor allem das Inquisitionsprinzip, was in seiner potenziellen Fehlbarkeit besonders eindrucksvoll in den Novellen IV, 6 und IV, 7 vorgeführt wird. Besonders IV, 6 veranschauliche den Zusammenhang von Erkenntnis und Ethik, denn «ein fortschrittliches juristisches Verfahren [das gerichtsmedizinisch gestützte Inquisitionsverfahren], das die Urteilsfindung auf die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung stützt, [bringt] nicht zwangsläufig Gerechtigkeit hervor [. . .]. [. . .] Der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sind Grenzen gesetzt.» (S. 165) Auch die Analyse der Martellino-Novelle vermag aufzuzeigen, wie Boccaccio Beweistechniken wie die Folter, die nach damaligem Kenntnisstand als rationale Kurzrezensionen 154 Ermittlungsmethode zu bewerten ist (vgl. S. 174), problematisiert und in Gestalt des beffatore Martellino, als «Künstler- und Erkenntnisfigur» (S. 177), implizit das erkenntnisstiftende Potential der Kunst - und damit der Literatur - als Gegenmodell konturiert. Der Befund des zweiten Kapitels stützt den des ersten insofern, als herausgearbeitet wird, wie in den untersuchten Novellen rechtlich-religiöse und gerichtsmedizinische Diskurse als dem Irrtum unterworfen dargestellt werden. Das dritte Kapitel («Strafgerechtigkeit», S. 211 - 289) widmet sich Novellen, in denen die Strafgerechtigkeit einer narrativ erzeugten poetischen Gerechtigkeit gegenübergestellt wird, darunter Novelle II, 9, in der der einem Betrug zum Opfer gefallenen Zinevra schließlich Gerechtigkeit widerfährt; Novelle V, 7, die die patria potestas problematisiert und den Prozess der Übertragung der Privatrache auf das staatliche Justizsystem bezeugt; schließlich die berühmte Novelle von Madonna Filippa (VI, 7), die durch ihre rhetorische Raffinesse den ihr gemachten Prozess zum Guten wenden und eine Gesetzesänderung zu ihren Gunsten erwirken kann. Dass, wie die Analyse zu zeigen vermag, die Rechtsfälle der jeweiligen Protagonistinnen einen glücklichen Ausgang nehmen, sei durchaus nicht eindeutig auf die Effizienz (neuer) juristischer Verfahren zurückzuführen, sondern verdanke sich in nicht unerheblichem Maß dem Zufall. Zinevra kann die Wahrheit über den Betrug an ihr (und dem Ehemann) nur aufdecken, weil sie in der Verkleidung des Sicurano dem Übeltäter Ambruogiuolo auf einer Handelsmesse begegnet und dieser mit seiner Intrige prahlt. Der Schurke wird der Rechtsprechung des Sultans - und damit dem staatlichen Strafverfolgungsapparat - überantwortet, der ihm eine gerechte Strafe auferlegt. Dass hier staatliche Rechtsprechung und poetische Gerechtigkeit in eins fallen, sei im Decameron selten, doch sei die Erzählung in geradezu utopische Ferne entrückt, denn es ist «kein italienischer Podestà, der das Urteil fällt, sondern ein weiser und gerechter Herrscher aus dem Orient» (S. 251). Einer zufälligen glücklichen Fügung ist es auch in V, 7 zu verdanken, dass Pietro, der eigentlich der Sohn eines Adligen ist, zu Tode gefoltert wird, da er eine verbotene, nicht standesgemäße, außereheliche Beziehung mit der Tochter Amerigos eingegangen ist. Die Novelle zeige, «wie Liebe und Sexualität gesellschaftliche Ordnungsmuster ins Wanken bringen und mit welcher Härte die Ordnungsträger gegen einen solchen Angriff vorgehen» (S. 272). Dabei werde die Legitimationsbasis privater (wie der pater familias) und öffentlicher Autoritäten infrage gestellt und ihre Anfälligkeit für Fehlurteile entlarvt. Schließlich vermag die Analyse von VI, 7 auf der Basis von aufschlussreichen Erkenntnissen über das Verhältnis von ius commune und Partikularrecht zu zeigen, wie die finale und unmittelbare Rechtsänderung eines als ungerecht empfundenen Gesetzes - das letztendlich zum Instrument privater Rache verkomme - die «Schnelllebigkeit von Statuten» im Unterschied zum allgemeingültigen Naturrecht veranschauliche (S. 287). Implizit werde zudem auch Kurzrezensionen 155 die Funktion der Öffentlichkeit aufgewertet: Mit ihrem zustimmenden Lachen sei sie Sprachrohr eben jener poetischen Gerechtigkeit, die Madonna Filippa zuteilwird. Der Ansatz, der systematisch die Inszenierung des Justizapparats bzw. juristische Methoden im Decameron in den Fokus stellt, vermag zu zeigen, dass damit kohärent im Werk zentrale Thematiken reflektiert werden: Täuschung und Illusion, die Macht der Sprache und der Zeichen, die Anfälligkeit menschlicher Wissenssysteme für Erkenntnisfehler und das Vermögen der Literatur, Wahrheit und Gerechtigkeit hervorzubringen. Besonders hervorzuheben ist, dass durch die spezifische Ausrichtung der Fragestellung einerseits vor allem bisher in der Kritik wenig beachteten Novellen eine bisweilen unerwartete Tiefe abgewonnen wird, andererseits neue Facetten bekannter Erzählungen des Decameron aufgezeigt werden. Lena Schönwälder Tobias Roth (Hrsg.): Welt der Renaissance, Berlin: Galiani Verlag 2020, 640 Seiten, Gebundene Ausgabe € 89,00, E-Book € 39,99 Das Ende des letzten Jahres beim Berliner Verlag Galiani erschienene Buch ist eine Anthologie, die sich durch ihre prachtvolle Gestaltung besonders auszeichnet. In dieser reichhaltigen Sammlung kommentierter Textausschnitte gelingt es dem Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Lyriker Tobias Roth, die Komplexität und Pluralität der italienischen Renaissance in klare Worte zu fassen. Die Texte sind ins Deutsche übersetzt und mit knappen Fußnoten versehen; dafür wird die große Vielfalt der Epoche durch die informativen Profile von Autorinnen und Autoren und eine breitgefächerte Textauswahl vor Augen geführt. In der Einleitung (S. 13 - 21) wird der vom Titel erweckte Erwartungshorizont eingeschränkt - es geht insbesondere um die humanistische Literatur im Italien des 15. Jahrhunderts. Bereits die erste Zeile beschreibt die Sammlung als ein «Großlesebuch» (S. 13) und keine Definition wäre treffender, denn es wird umfangreicher Lesestoff, inklusive einiger archivalischer Entdeckungen und kaum bekannter Textstellen, angeboten. «Obwohl die Renaissance eine Epoche des Buches ist, ist ihre Literatur in unserer heutigen Kultur kaum präsent - verglichen etwa mit der Allgegenwart ihrer Bildenden Kunst, die so virulent ist wie kaum die einer anderen Epoche» (S. 19) - diese Lücke versucht das Buch so wirksam wie möglich zu schließen. Das Buch enthält 68 Kapitel, die jeweils einem Autor/ einer Autorin gewidmet sind. Die Ordnung der Texte folgt einem chronologischen Schema nach dem DOI 10.24053/ Ital-2021-0033 Kurzrezensionen 156
