eJournals Italienisch 44/87

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0001
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2022
4487 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Dialoge über den Ukraine-Krieg. Ein Bericht

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2022
Kay Kirchmann
ita44870001
Dialoge über den Ukraine-Krieg. Ein Bericht Im Sommersemester 2022 habe ich als Medienwissenschaftler gemeinsam mit meinem Kollegen Jürgen Kähler von der Wirtschaftswissenschaft und dem hiesigen Forum für Integration und interkulturelle Kommunikation eine öffentliche Ringvorlesung zum Ukraine-Krieg an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg konzipiert und organisiert. Deren Titel «Der Ukraine-Krieg im Dialog» ist dabei für gleich drei Ebenen des Austausches über das beherrschende Thema des Jahres zu veranschlagen gewesen: einmal für den interdisziplinären Dialog zwischen Kolleginnen und Kollegen des Hauses, Expertinnen und Experten der Städte Erlangen und Nürnberg sowie einschlägiger NGOs; sodann für den Dialog mit der interessierten Öffentlichkeit der Region und schließlich für das Gespräch mit den unmittelbar Betroffenen, also mit Menschen aus der Ukraine. Aus dieser Grundidee ergab sich auch das spezielle Format der Veranstaltung: Im Regelfall traten jeweils zwei Vortragende unter einer locker gesetzten thematischen Klammer mit rund 20minütigen Impulsreferaten auf, über die anschließend mit den Zuhörerinnen und Zuhörern diskutiert wurde. So kamen bei insgesamt 12 Durchführungsterminen über 20 Vorträge zusammen, die ein breites thematisches Spektrum abdeckten: von Fragen der Flüchtlingshilfe, der Menschenrechte und des Völkerrechts über Themen wie die durch den Krieg ausgelöste Landwirtschaftskrise bis hin zu Aspekten der Sanktionspolitik, der Rolle Chinas und der Medien im aktuellen Konflikt sowie immer wieder zu den historischen Hintergründen der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. 1 Von allen drei angesprochenen Dialog-Feldern gibt es Bemerkenswertes zu berichten, was insgesamt auch als Indiz für den hohen Gesprächsbedarf und die große Gesprächsbereitschaft gelesen werden kann, die Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg auch hierzulande ausgelöst hat. So ist es für den akademischen Betrieb ja eher unüblich, dass sich Kolleginnen und Kollegen innerhalb allerkürzester Zeit - die Veranstaltungsreihe wurde in nur drei Wochen organisiert - zur Teilnahme bereiterklärt und bereitwillig auf das ungewohnte Format dieser Ringvorlesung eingelassen haben. So kamen auch überraschende Synergieeffekte zwischen Disziplinen zustande, die normalerweise eher weniger Berührungspunkte haben, so z. B. wenn sich eine Wirtschaftswissenschaftlerin und ein Sinologe über die Rolle Chinas bei einer möglichen Umgehung der gegen Russland verhängten Sanktionen austauschen oder wenn sich eine Historikerin und ein Medienwissenschaftler gemeinsam mit Fragen der Sichtbarmachung des Krieges DOI 10.24053/ Ital-2022-0001 1 Das Programm der Ringvorlesung ist nachzulesen unter: https: / / www.integra.fau.de/ v ernetzung/ ringvorlesung/ ringvorlesung-der-ukraine-krieg-im-dialog/ 1 in sozialen Netzwerken beschäftigen oder wenn ein Philosoph und eine Soziologin zusammen Fragen der Raumpolitik in Osteuropa erörtern. Indem alle Vorträge dezidiert an ein breites Publikum gerichtet waren und indem es dabei weniger um gesicherte Erkenntnisse, sondern eher um Perspektiven auf die aktuelle Lage, Einschätzungen oder auch um konkrete Diskussionsangebote ging, kam immer wieder ein lebhafter Dialog mit dem Publikum zustande. Hieran war bemerkenswert, dass ein sehr großer Teil des Publikums seinerseits gut informiert über das Geschehen war und entsprechend konstruktiv, zuweilen auch kritisch nachfragen und die Vorträge kommentieren konnte. Daneben war aber auch immer wieder Verunsicherung über das weitere Kriegsgeschehen, die Rolle der deutschen Politik in Vergangenheit und Gegenwart, mögliche Auswirkungen auf unsere Wirtschaft oder bei der Frage nach einem angemessenen Umgang mit den aufgenommenen Flüchtlingen zu spüren. Naturgemäß gab es auf viele derartiger Nachfragen nur selten eine ganz eindeutige Antwort, sondern es herrschte eher der Versuch vor, mögliche Szenarien im Dialog auszufalten und abzuwägen. Nachdem dergestalt viel über die Ukraine gesprochen worden war, kamen in den letzten drei Sitzungen der Ringvorlesung Ukrainerinnen und Ukrainer selbst zu Wort: Hohe Beamte aus dem ukrainischen Außenministerium, eine Menschenrechtsaktivistin und (geflüchtete) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren entweder vor Ort oder wurden per Zoom und Livestream aus Kiew bzw. Warschau zugeschaltet. Dieser Teil der Veranstaltung war erwartungsgemäß der beeindruckendste, aber auch der bedrückendste. Beeindruckend war v. a. die einhellige Überzeugung aller Gäste, dass ihr Land diesen Krieg gewinnen und die russischen Kriegsverbrecher vor Gericht stellen wird; beeindruckend waren aber auch der gelebte Patriotismus, der Stolz auf die Erfolge der ukrainischen Truppen und der unbeirrbare Wille, die Ukraine nach dem Krieg in einer großen gemeinsamen Anstrengung wiederaufzubauen. Bedrückend war es hingegen immer wieder, den großen Schmerz der Gäste, die Trauer, die heillose Wut sowie das fassungslose Entsetzen über das, was in diesem Krieg mit ihrem Land und seinen Menschen passiert, mitzuerleben. Gerade die sehr expliziten Schilderungen der Kriegsgräuel durch die Menschenrechtsaktivistin lösten große Betroffenheit im Publikum aus. Deutlich wurde auch, wie sehr die Ukrainerinnen und Ukrainer einerseits die Solidarität der deutschen Bevölkerung, v. a. bei der Aufnahme von Flüchtlingen, wertschätzen, dass sie andererseits aber wenig glücklich mit einigen Aspekten der deutschen Russland- und Ukrainepolitik und den vieldiskutierten offenen Briefen einiger deutscher Intellektueller sind. Hier wurde dann doch auch viel Verbitterung ansichtig und artikuliert. Insgesamt aber endete die Vorlesungsreihe mit einer großen Geste, die das Verbindende und Gemeinsame betonte: Wie der Zufall es wollte, fiel die letzte Sitzung auf den «Tag der Staatlichkeit», einen ukrainischen Feiertag. Entsprechend viele Ukrainerinnen und Ukrainer kamen zu Dialoge über den Ukraine-Krieg. Ein Bericht 2 der Abschlussveranstaltung und nutzten sie, um in bewegenden Worten für die vielen Zeichen und Gesten der Solidarität zu danken, die von dieser Ringvorlesung ausgegangen waren. Das Organisationsteam prüft gerade den von einigen Teilnehmenden geäußerten Wunsch, aus diesen Vorträgen einen Sammelband zusammenzustellen und sie dadurch einem noch größeren Publikum zugänglich zu machen. Eventuell wird der Dialog also im Medium der Schrift fortgesetzt werden. Weitergeführt werden muss er angesichts dieses furchtbaren Kriegsgeschehens aber so oder so. Kay Kirchmann Dialoge über den Ukraine-Krieg. Ein Bericht 3