eJournals Italienisch 44/87

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0002
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2022
4487 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Einleitung

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2022
Antje Lobin
ita44870004
Il linguaggio politico della Terza Repubblica Einleitung Das Jahr 2021 markierte das 75-jährige Bestehen der Repubblica italiana, die auf eine wechselvolle Geschichte zurückblickt und verschiedene Zäsuren erfahren hat. Zwar besteht Uneinigkeit bezüglich der exakten zeitlichen Abgrenzungen, und auch die für eine ‘ neue ’ Republik i. e. S. erforderliche institutionelle Veränderung ist nicht gegeben; gleichwohl sind die ursprünglich rein journalistischen Begriffe der Prima und Seconda Repubblica auch im fachwissenschaftlichen und alltagssprachlichen Diskurs fest etabliert. Mehrere Ereignisse kennzeichnen das Ende der Ersten Republik, von der Aufdeckung des Schmiergeldsystems Tangentopoli ab dem Jahr 1992 über die Verabschiedung des neuen Wahlrechts der «gemischten Mehrheit» (sog. Mattarellum) 1993 bis hin zum kompletten Umbruch des italienischen Parteiensystems. Mit den vorgezogenen Parlamentswahlen im März 1994 setzte die Zweite Republik ein, die in hohem Maße durch Silvio Berlusconi geprägt wurde (Grasse 2021: 505 f.). Zum Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends hin führten die Wirtschaftskrise sowie politische Skandale zu einer wachsenden Kluft zwischen der Wählerschaft und ihren politischen Vertreterinnen und Vertretern. Dieser Vertrauensverlust offenbarte sich bei den Parlamentswahlen im Februar 2013 durch Stimmenthaltungen und Proteststimmen (Gualdo 2017: 1206 f.). In der Folge der Parlamentswahlen im März 2018 kam es dann zu weitreichenden Veränderungen auf der politischen Bühne und zu einem deutlichen Erstarken der populistischen Kräfte des Landes. Die aus einer Protestbewegung hervorgegangene populistische Partei Movimento 5 Stelle gewann die Wahlen mit Abstand als stärkste Kraft. Als Ursachen für dieses Wahlergebnis gelten neben der Migrationsproblematik die massiven ökonomischen und sozialen Probleme, die Italien v. a. seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 zu bewältigen hat (Grasse 2021: 514). Ob es sich angesichts dieses Umbruchs nun um eine weitere Zäsur im Sinne eines Übergangs zu einer ‘ Dritten Republik ’ handelt, ist eine viel und kontrovers diskutierte Frage: «Comincerei ponendo un problema di . . . matematica costituzionale: quante Repubbliche si sono succedute dal 1948 in poi? E adesso, dove stiamo, dove ci troviamo? Nel secondo tempo della Seconda Repubblica, quella battezzata all ’ alba degli anni ’ 90? Già nella Terza? O forse dinanzi all ’ eterno ritorno della Prima, come confermerebbe la rivincita del proporzionale, dopo vent ’ anni di maggioritario duro e puro? »* 1 DOI 10.24053/ Ital-2022-0002 * Versione italiana a p. 7. 1 Ainis 2019: 111. 4 Ausgehend von den skizzierten politischen Entwicklungen wird mit dem Schwerpunktthema dieses Heftes die Zielsetzung verfolgt, einen sprachwissenschaftlich perspektivierten Beitrag zu der oben aufgeworfenen Frage nach einer möglichen Zeitenwende zu liefern. Zur Beschreibung der vielfach kryptischen Sprache der Politiker der Prima Repubblica wurden das Paradigma der superiorità (Überlegenheit) ins Feld geführt und die Bezeichnung politichese verwendet, während die volksnahe Sprache der Politiker der Seconda Repubblica (sog. gentese) im Zeichen eines rispecchiamento (Widerspiegelung) steht (vgl. Antonelli 2000). In den folgenden Beiträgen soll das Profil der Sprache in der gegenwärtigen politischen Öffentlichkeit erfasst werden, für die Cortelazzo (2017) ein Paradigma des iperrispecchiamento und die Bezeichnung parlare ostile vorgeschlagen hat. Eine wesentliche Rolle spielen dabei auch die medialen Entwicklungen: Ebenso wie die Etablierung des Fernsehens als bevorzugter Ort politischer Debatten in der Zeit der Zweiten Republik deren Sprache geprägt hat, ist die Sprache der Politik heute nicht losgelöst von ihrem starken Gebrauch in den neuen Medien und v. a. den sozialen Netzwerken zu betrachten. Darüber hinaus gilt es, die Perspektive zu erweitern und über die lexikalisch-funktionale Orientierung hinaus, die in der auf das Italienische bezogenen Sprach- und Politik-Forschung lange Zeit dominant war (Gualdo 2017: 1200), Diskurs- und Textanalysen bisher unbeachteter Kommunikate einzubeziehen. Weiterhin soll die bislang vorherrschende Beschränkung der Analyse des Sprachgebrauchs von Männern um die Betrachtung des Sprachgebrauchs von Politikerinnen ergänzt werden. In einem ersten Beitrag charakterisiert R ICCARDO G UALDO unter Rückgriff auf ein Korpus von Parlamentsreden in synthetischer Form die politische Sprache in Italien der vergangenen anderthalb Dekaden. Als zentralen Einflussfaktor auf die heutige Sprache der Politik macht der Autor Geschwindigkeit und Verstärker- Funktion der Medien aus, die im Dienste politischer Angriffe stehen. Einer bislang wenig beachteten argumentativen Textsorte widmen sich C RISTIANA D E S ANTIS und J ESSY S IMONINI . In ihrem diskursanalytisch ausgerichteten Beitrag untersuchen sie die Sprache von Briefen, die Politiker und Politikerinnen in italienischen Tageszeitungen veröffentlichen. Neben Politikern der Seconda Repubblica werden mit Giorgia Meloni und Matteo Salvini auch Protagonisten einbezogen, die die italienische Politik nach 2018 prägen. Einen differenzierten Blick auf die Sprache der Politik in den sozialen Medien bietet S TEFANIA S PINA . Sie identifiziert unterschiedliche zeitliche Phasen, die mit je eigenen sprachlichen Charakteristika einhergehen. Auf der Grundlage von Tweets von Luigi Di Maio, Giorgia Meloni und Matteo Renzi zeichnet die Autorin die Entwicklungen nach, die in die nach den Parlamentswahlen von 2018 einsetzende und heute bestehende Phase verbaler Aggression münden. Eine personenbezogene Studie liefert M ARA P APACCIO , Il linguaggio politico della Terza Repubblica 5 die sich auf die rhetorischen Strategien in der Twitter-Kommunikation von Matteo Salvini fokussiert. Grundlage der Untersuchung sind 1800 Posts des Politikers aus dem Jahr 2018. In einem abschließenden Beitrag zeigt E LMAR S CHAFROTH , auf der Grundlage der phraseologischen Datenbank GEPHRI (Gebrauchsbasierte Phraseologie des Italienischen), in welchem Maße idiomatische Wendungen des Italienischen im politischen Kontext verwendet werden, wobei dies zum Teil mit Bedeutungsverschiebungen einhergeht. Antje Lobin/ Daniela Pietrini Bibliographie Ainis, Michele (2019): «La forma di governo della Terza Repubblica», in: Quaderni costituzionali 1/ 2019, S. 111 - 115. Antonelli, Giuseppe (2000): «Sull ’ italiano dei politici nella Seconda Repubblica», in: Vanvolsem, Serge et al. (ed.): L ’ italiano oltre frontiera, Bd. 1, Leuven/ Firenze: Leuven University Press / Franco Cesati Editore, S. 211 - 234. Cortelazzo, Michele (2017): «Sulla cattiva strada: la lingua politica e l ’ iperrispecchiamento», in: Lingua Italiana Magazine, Istituto della Enciclopedia Italiana Treccani (https: / / www. treccani.it/ magazine/ lingua_italiana/ speciali/ politici/ Cortelazzo.html). (15/ 03/ 2022) Grasse, Alexander (2021): «Die Seconda Repubblica», in: Lobin, Antje / Meineke, Eva-Tabea (ed.): Handbuch Italienisch. Sprache, Literatur, Kultur, Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 505 - 516. Gualdo, Riccardo (2017): «Politolinguistik in Italien (1994 - 2013)», in: Niehr, Thomas et al. (ed.): Handbuch Sprache und Politik, Bd. 3, Bremen: Hempen Verlag, S. 1200 - 1212. Einleitung 6