eJournals Italienisch 44/87

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0012
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2022
4487 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Susanne Kleinert: Geschichte und Gedächtnis im Roman: Beispiele aus Frankreich; Italien und Lateinamerika 1970-2000, Saarbrücken: universaar 2020, 529 Seiten, € 59,90

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2022
Peter Ihring
ita44870129
Buchbesprechungen Susanne Kleinert: Geschichte und Gedächtnis im Roman: Beispiele aus Frankreich, Italien und Lateinamerika 1970 - 2000, Saarbrücken: universaar 2020, 529 Seiten, € 59,90 Mit der hier anzuzeigenden Monographie legt die Autorin dem wissenschaftlichen Publikum eine aktualisierte Fassung ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1994 vor. Darin behandelt sie neben den italienischen Quellen, um die es in dieser Rezension vor allem gehen soll, auch zwei Romane aus Lateinamerika (Mario Vargas Llosas La guerra del fin del mundo und Carlos Fuentes ‘ Terra nostra) sowie Le Jardin des Plantes von Claude Simon. Mit derAuswahl der italienischen Romane deckt Susanne Kleinert einen zeitlichen Bogen von 1975 bis 1988 ab, eine Phase also, in der die großen Kriege des 20. Jahrhunderts noch dunkle Schatten werfen. Symptomatisch dafür sind vor allem die beiden Werke aus den 1970er Jahren: Elsa Morantes La Storia und Guido Morsellis Contro-passato prossimo. Demgegenüber entspringt Umberto Ecos Pendolo di Foucault einem historischen Augenblick, in dem die Schrecken der Geschichte schon deutlich weniger spürbar waren. Bis weit ins Novecento hinein gibt es in der italienischen Literatur wohl keine historische Erzählung, die ohne impliziten Bezug auf die Promessi Sposi entstanden wäre. Von den hier zur Diskussion stehenden Werken lässt sich am ehesten Elsa Morantes La Storia mit Blick auf das von Manzoni zur Verfügung gestellte Modell lesen: Der Roman ist aus auktorialer Perspektive erzählt und hat einen klar umrissenen Zeitraum zum Gegenstand: Die Jahre zwischen 1941 und 1947, als die römische Stadtbevölkerung unter dem Eindruck von Bombenkrieg und Hungersnöten um ihr Überleben kämpfen musste. Freilich spielt das Phänomen des historischen Wandels, das sich in Manzonis Erzählung von den beiden Brautleuten sehr markant ausgeprägt hatte, bei Elsa Morante keine Rolle. Vielmehr will die Autorin mit La Storia eine pessimistische Einsicht illustrieren, wonach die Historie «ewig und unveränderlich auf der gewalttätigen Unterdrückung der Mehrheit durch eine Minderheit» (S. 157) beruht. Ein solcherart fatalistisches Geschichtsverständnis lässt sich wohl nicht anders erklären als mit einem Hinweis auf die traumatisierenden Erfahrungen, die Elsa Morante in den Kriegs- und Nachkriegsjahren am eigenen Leibe und in ihrem Umfeld machen musste. Der große Erfolg des Werks beim italienischen Publikum der 1970er Jahre deutet darauf hin, dass es bei den Zeitgenossen der Autorin noch ein großes Bedürfnis nach einer literarischen Aufarbeitung der unmittelbaren Vergangenheit gegeben haben muss. In einer so beschaffenen kollektiven Bewusstseinslage ist möglicherweise auch die Ursache dafür zu suchen, dass ein Autor wie Guido DOI 10.24053/ Ital-2022-0012 129 Morselli mit seinem erzählerischen Hauptwerk Contro-passato prossimo keinen Verlag gefunden hat, der bereit gewesen wäre, den Text zu veröffentlichen. Denn dieses Werk liefert ein programmatisch verfälschtes Bild der Historie Europas im 20. Jahrhundert: In Morsellis uchronischer Erzählung verläuft diese Historie nach dem Kriegsausbruch 1914 ganz anders, als sie von der herkömmlichen Geschichtsschreibung üblicherweise dargestellt wird. Aus dem militärischen Konflikt geht das Deutsche Reich bereits im Jahr 1917 siegreich hervor und avanciert zur uneingeschränkten europäischen Führungsmacht. Unter dem genialen Staatsmann Walter Rathenau finden die Länder Europas schon früh zu einer prosperierenden politischen Einheit zusammen. Aus naheliegenden Gründen können bei einer solchen historischen Ausgangslage die Ursachen, die in der tatsächlichen Geschichte zur Herausbildung des Faschismus und daher in letzter Konsequenz zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, nicht wirksam werden. Daher gibt es in Morsellis Darstellung keinen deutschen Nationalsozialismus, und auch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges bleiben dem Kontinent erspart. Während sich Elsa Morantes La Storia wie eine verzweifelte Klage angesichts der Grausamkeit der Geschichte liest, ist Morsellis Contro-passato prossimo von einem ironischen Erzählton durchzogen, der bereits den Titel des Werkes prägt. Seinen ästhetischen Mehrwert, so schreibt Susanne Kleinert, bezieht dieser Titel aus einer spielerischen Überblendung der «grammatikalische[n] Kategorie des ‘ passato prossimo ’ mit dem Neologismus des ‘ contro-passato ’ » (S. 279). Morsellis Erzählung lasse sich beschreiben als «[. . .] Kontrafaktisches Spiel mit der Geschichte» (S. 280), wobei die in der Romanhandlung dargebotenen kontrafaktischen Sachverhalte kontinuierlich mit Motiven aus der historischen Tatsächlichkeit interferieren. Um den Ironie-Effekt zu veranschaulichen, der sich aus einer so intrikaten Verflechtung von ‘ Storia ’ einerseits und einer forciert antihistorischen ‘ Invenzione ’ andererseits ergibt, sei hier nur eine Episode aus dem «Epilogo» des Romans herausgegriffen: In den ersten Novembertagen des Jahres 1918, das Kriegsende liegt lange zurück und die politische Vereinigung des Kontinents unter deutscher Führung ist seit wenigen Monaten vollzogen, wütet in ganz Europa eine verheerende Grippe-Epidemie, besonders in den großen Städten. In dieser Situation reist der österreichische Journalist Walter von Allmen, schon bei Beginn der Romanhandlung die fiktive Zentralfigur von Contro-passato prossimo, im Auftrag einer Wiener Zeitung nach Dresden, um dort eine Ausstellung der Brücke-Maler zu besuchen, wo unter anderem Bilder von Emil Nolde und Oskar Kokoschka zu sehen sind. Auf der Rückfahrt nach Wien trifft der Reisende einen Landsmann wieder, der als Kunstmaler arbeitet und den er während der Ausstellung in Dresden kennengelernt hatte. Sein Name ist Adolf Hitler, und die beiden kommen ins Gespräch miteinander. Mit großer Emphase erläutert der Maler seinem erstaunten Gesprächspartner eine abstruse Rassentheorie, wonach die germanische Rasse auf- Buchbesprechungen 130 grund ihrer Überlegenheit zu einer historischen Führungsrolle in der Welt berufen sei, was sich auch daran gezeigt habe, dass Deutschland in dem unlängst beendeten Krieg die Völker Europas unterworfen habe. Der fiktionale Adolf Hitler beendet seinen Monolog mit der Erklärung, dass er selbst angesichts einer solchen historischen Entwicklung, wie sie sich in den Jahren seit 1916 ergeben habe, seine politischen Träume erfüllt sehe und die dadurch gewonnene Freiheit jetzt dadurch nutzen wolle, dass er sich seinem eigentlichen Interessensgebiet zuwendet, nämlich der Malerei. In dem Gespräch, das der von Morselli erdachte Journalist Walter von Allmen mit einem Adolf Hitler führt, dem es aufgrund der im Roman geschilderten gegengeschichtlichen Umstände vergönnt ist, sich auf eine Tätigkeit als Kunstmaler zu beschränken, findet die narrative Strategie des Autors, «alternative Welt- und Geschichtsverläufe mit ironischer Detailpräzision zu entwerfen» (S. 268), ihren spektakulären Höhepunkt. Wo die Erzählerin Elsa Morante das Unheil des Zweiten Weltkriegs in einem hohen epischen Ton beklagt hatte, gibt der Autor von Contro-passato prossimo auf dieses Geschichtsereignis eine andere, eine spielerische Antwort, die freilich ihrerseits im Hinblick auf ihre Komplexität über eine einfache Konfrontation von Geschichte einerseits und Gegengeschichte anderseits nicht hinausgeht. Im Unterschied dazu legt Umberto Eco mit seinem Pendolo di Foucault einen Roman vor, dessen narrative Struktur im Handlungsverlauf ständig gebrochen wird. Die Gegengeschichte, um die es in diesem Werk geht, ist die von der Historiographie vergessene bzw. ignorierte Geschichte der esoterischen Bewegungen in Europa. Anders als bei Morante und Morselli gibt es im Pendolo di Foucault keine handlungsexterne Erzählinstanz. Geschildert werden drei Intellektuelle der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, «die mit dem Material der Geschichte der Esoterik spielen, sich darin verlieren und am Ende von einer rechtsextremistischen Sekte verfolgt und umgebracht werden» (S. 403). Angesichts des ausufernden und übermächtigen Textmaterials, mit dem sie sich beschäftigen und das im Roman mit sehr ausführlichen Quellenzitaten präsentiert wird, kann es allenfalls «Illusionen von Fixpunkten» (S. 406) geben. In faszinierender Weise gelingt es Susanne Kleinert, den Überblick über das hochkomplexe Gefüge von aufeinander verweisenden und einander überlagernden Mikrogeschichten zu behalten und dieses Gefüge für den Leser durchsichtig zu machen. Als Hauptakteure treten drei Verlagslektoren in Erscheinung, die beauftragt werden, Material für eine Buchreihe zur Geschichte der Esoterik zu sammeln, und dabei zu der (irrigen) Einsicht kommen, sie seien einer sich über viele Jahrhunderte hinziehenden geheimen Verschwörung auf der Spur. Mit einer ingeniösen Erzählidee kann Eco den Bericht über die Quellenforschungen der drei genannten Akteure mit dem italienischen Rechtsterrorismus der 1980er Jahre kurzschließen. Indem die lesenden Romanhelden dem verführerischen Reiz der Buchbesprechungen 131 von ihnen studierten Texte erliegen, demonstrieren sie die «Wirkungsmacht von Narrationen» (S. 430). «Die übliche Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart», die das erkenntnistheoretische Fundament des traditionellen Geschichtsromans gebildet hatte, «löst sich [in Il Pendolo di Foucault] ganz auf, da [. . .] [die] Wahrnehmung [der Protagonisten] durch Texte präformiert ist und Texte das Kontinuum bilden, das es wiederum erlaubt, die Welt als Text zu lesen» (S. 432). Unter den von Susanne Kleinert behandelten Autoren ist Eco zweifellos derjenige, der die aus seiner Sicht unhintergehbare Textualität des historischen Materials am deutlichsten akzentuiert. Vor einem solchen Hintergrund erscheint es als folgerichtig, dass er auch als einziger seine Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Aufbewahrungsform der in den Romanen verarbeiteten Daten richtet, d. h. auf die Frage nach ihrer Speicherung. Die Autorin erwähnt am Ende ihres Buches ein Gespräch, das sie im Jahr 1994 mit Umberto Eco geführt hat und in dem dieser zum Ausdruck gebracht habe, das Jahr 1983 sei ein Schlüsseldatum für Il Pendolo di Foucault gewesen, weil in diesem Jahr «die Firma Olivetti mit dem Vertrieb von Personal Computern in Italien begann» (S. 460). Mit einem schönen Begriff kennzeichnet Susanne Kleinert das Computerzeitalter als Epoche einer «Gedächtnis-Hypertrophie» (ebd.). Angesichts einer solchen Diagnose könnte man sich dazu veranlasst sehen, die Frage nach den Möglichkeiten des historischen Romans, aber auch diejenige nach seiner Sinnhaftigkeit unter den heute obwaltenden Umständen neu zu stellen. Peter Ihring Buchbesprechungen 132