Italienisch
ita
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Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0013
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttGesine Seymer: Fremdwörter in der italienischen Sportsprache (1920–1970). Lexikalischer Wandel unter dem Einfluss des faschistischen Fremdwortpurismus im Spiegel von «La Stampa». Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, Band 453. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter Verlag 2021, 505 Seiten, 12 Abb., 130 Farb-Abb., 18 Tab., € 139,95
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Christoph Frilling
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Gesine Seymer: Fremdwörter in der italienischen Sportsprache (1920 - 1970). Lexikalischer Wandel unter dem Einfluss des faschistischen Fremdwortpurismus im Spiegel von «La Stampa». Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, Band 453. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter Verlag 2021, 505 Seiten, 12 Abb., 130 Farb- Abb., 18 Tab., € 139,95 Es handelt sich um die Dissertation derAutorin, die 2020 mit dem Nachwuchspreis des Deutschen Italianistenverbands ausgezeichnet wurde. Dieser Preis wird an hervorragende Qualifikationsschriften im Bereich der Italianistik verliehen. Die Arbeit stützt sich auf eine über einen Zeitraum von 50 Jahren mit Hilfe des historischen Archivs der Tageszeitung «La Stampa» vorgenommene korpusbasierte Analyse. Die Autorin untersucht akribisch mögliche Auswirkungen der Purismus-Politik der Mussolini-Regierung auf die italienische Sprache, insbesondere die Sprache des Sports. Sie hält diese jedoch für relativ gering und vertritt die These, dass «die Entwicklung von Fremdwörtern im Wortschatz dynamisch, nicht prognostizierbar und multikausal beeinflusst ist» (S. 78). Nach der Einleitung (S. 1 - 9) legt die Verfasserin im 2. Kapitel «Theoretische und historische Grundlagen» (S. 11 - 162) dar. Teil der faschistischen Sprachpolitik war das Bestreben, einen Beitrag zur sprachlichen und nationalen Einheit zu leisten. Dabei galt es jedoch, die onomasiologischen Realitäten zu beachten. Die politische Einigung Italiens im Jahr 1861, die beginnende Industrialisierung und Modernisierung des Landes und die Anpassung der Sprache an die Bedürfnisse der Bürger eines modernen Nationalstaates machten die Erweiterung des Wortschatzes dringend notwendig. Zahlreiche bis dahin wenig bekannte Objekte aus Wissenschaft, Technik, Industrie und Sport bedurften der Bezeichnung, die oft aus dem Englischen und dem Französischen übernommen wurde. Dieser Entwicklung wollten nationalistische Sprachpolitiker Einhalt gebieten. Mit der wachsenden Faschisierung Italiens 1925/ 26 nahm ihr Einfluss zu und richtete sich vorrangig auf den Sport. Mit dem Konzept der «Italianità» propagierte das faschistische Regime eine «campagna autarchica», die eine wirtschaftliche Unabhängigkeit des Landes anstrebte. Dieses Konzept wurde mit dem Begriff «autarchia linguistica» auf die Sprachpolitik der Regierung übertragen. Die Fremdwortkritik richtete sich vorrangig gegen die Sportberichterstattung, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf den Luftsport gelegt wurde. Dadurch sollte «die Italianità sowohl der Luftfahrt als auch der zugehörigen Sprache» unterstrichen werden (vgl. S. 104). Das Fremdwortverbot wurde jedoch nicht immer beachtet, weil bald deutlich wurde, «dass Fremdwörter und Exotismen für die chauvinistische und xenophobe Propaganda genutzt werden konnten» DOI 10.24053/ Ital-2022-0013 Buchbesprechungen 133 (S. 110). Die Lexikografie wurde bald zum wichtigsten Instrument des Sprachpurismus. Sie vermittelte nicht nur die «Sprachnorm, die weitgehend ohne Fremdwörter auskommen sollte», sondern auch die «faschistische Ideologie» (S. 111). Im Verlauf des Krieges schwand jedoch der Einfluss der Sprachpuristen, denn die Bevölkerung hatte andere Sorgen als ihre sprachliche Ausdrucksweise. Stattdessen ist ein immer stärkerer anglo-amerikanischer Einfluss auf die Sprache zu verzeichnen, ähnlich wie in anderen Ländern, in denen US-Militär präsent war (auch z. B. in Algerien, wie dies bei Khadra 2008, S. 215 f. zu sehen ist). So hat die faschistische Sprachpolitik tatsächlich «die italienische Sprache nur oberflächlich tangiert» (S. 158). Viel wirksamer in faschistischem Sinn - so Gesine Seymer - sei die Gleichschaltung der Presse seit 1925 gewesen. Hier wären sicher noch die «neuen Medien» wie Radio und Kino-Wochenschau zu nennen gewesen. Das 3. Kapitel beschreibt die methodischen Grundlagen der Arbeit (S. 163 - 226), stets ausgehend von der Frage, ob puristische Interventionen auf den italienischen Fremdwortschatz Einfluss genommen haben. Die Autorin entscheidet sich für den «konzeptbasierten Ansatz der Kognitiven Kontaktlinguistik», der an der Katholischen Universität von Leuven (Louvain) entwickelt wurde (vgl. Riehl 2014); dieser verspreche differenzierte Ergebnisse durch Kombination lexikografischer sowie korpus- und befragungsbasierter Methoden (vgl. S. 180). Es handelt sich also um einen «mixed-methods-Ansatz», der rein empirisch vorgeht. Die Sportsprache bietet sich als Untersuchungsgegenstand an, weil zu Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche moderne Sportarten aus England und Frankreich importiert wurden. Zudem ist die Sportsprache «der größte homogene Teilbereich des italienischen Fremdwortschatzes» (S. 196), der auch von Laien verstanden wurde und auch während des Faschismus praktisch «alle sozialen Schichten» erreichte (vgl. S. 197). Gesine Seymer untersucht die meisten gängigen Sportarten mit Ausnahme von «Automobilsport, Motorradsport, Segelsport, Motorbootsport, Rudern, Luftsport, da deren Vokabular durch technische Neuerungen schneller veraltet als in anderen Sportarten» (ibid.). Die Daten erhebt die Autorin mit Hilfe von Korpora, also von Sammlungen authentischer Sprachdaten (vgl. S. 205). Auf diese Weise untersucht sie 104 «Konzepte» der Sportsprache, z. B. das Konzept «Fußballfan», zu dem die Fremdwörter «supporter (< engl.), suiveur (< frz.), fan (< engl.) und aficionado (< span.)» (S. 204) gehören. Diese 104 Konzepte ordnet sie sprach- und sportgeschichtlich ein und analysiert ihre Variation und Entwicklung. Dann behandelt sie jeweils die Etymologie des Fremdworts, seinen Erstbeleg, die Wortbildung, die Wortbedeutung, mögliche Substitute oder weitere Synonyme (vgl. S. 228). Gesine Seymer erstellt diese onomasiologischen Profile in den untersuchten 104 Fällen Buchbesprechungen 134 und beschreibt deren diachrone Entwicklung zwischen 1920 und 1970. Dies mag angesichts der detaillierten Ausführungen zu den einzelnen «Konzepten» etwas langatmig wirken, jedoch geschieht dies mit dem Ergebnis einer überzeugenden Fundierung ihrer Aussagen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Anzahl der Italianisierungen sich mit der von Fremdworterfolgen ungefähr die Waage hält. In 7 % der Fälle kommt es zu einer Koexistenz. Bei der Hälfte der untersuchten Sportkonzepte erfolgte tatsächlich eine Italianisierung, jedoch fand diese bei 46 % der Fälle schon vor 1920 statt, bei 50 % während des Faschismus und nur bei 4 % in der postfaschistischen Zeit (vgl. S. 409). Das faschistische System unternahm besondere Anstrengungen im Fußball, weil es darin ein hohes propagandistisches Potenzial wähnte (vgl. S. 252). Im Fußball gab es nur 3 Fremdworterfolge (goal, dribbling, cross [Flanke]). Also ist hier der Anteil der Fremdwortsubstitutionen besonders hoch. Die Ursache hierfür liegt jedoch nicht in den sprachpuristischen Interventionen der Faschisten, denn die meisten Ersetzungen fanden schon vor 1920 statt (vgl. S. 284). Allerdings lässt sich differenzierend festhalten, dass die Italianisierung bei populären Sportarten, die als Massenereignis organisiert waren, deutlich erfolgreicher war als bei den Elitesportarten wie Golf oder Tennis. Ein gut nachvollziehbares Beispiel hierfür ist der Fußball, dessen Popularität die Faschisten propagandistisch zu nutzen wussten (Italien war in den 1930er Jahren zweimal Weltmeister und einmal Olympiasieger). Propagandistisch ebenso gut nutzbar wäre der Motorsport gewesen, den Gesine Seymer jedoch aus ihrer Untersuchung ausklammert, weil sie annimmt, dass es hier aufgrund der rasanten Entwicklung der Technik unabhängig vom herrschenden politischen System zu einer großen Anzahl von Neologismen komme. Das 4. Kapitel behandelt die «Onomasiologische Variation in der italienischen Sportsprache zwischen 1920 und 1970» (S. 227 - 422). Es stellt den empirischen Hauptteil der Arbeit dar. Gesine Seymer untersucht auf der Grundlage des vorhandenen Datenmaterials des ASLS (Archivo storico La Stampa), wie der faschistische Fremdwortpurismus (FFP) bzw. dessen Protagonisten es vermochten, in der Sprache des Sports zahlreiche Fremdwörter auszusortieren und sie durch native Lexeme zu ersetzen. Dies gelang allerdings nicht flächendeckend und auch nicht nachhaltig. Die Grundlage für diese Untersuchung stellt die Autorin bereit durch eine Erhebung bzw. Berechnung der «relativen Realisierungshäufigkeit der Fremdwörter im ASLS über fünf Messzeiträume» (S. 227) innerhalb des Gesamtzeitrahmens von 1920 bis 1950. Auf diese Weise nähert sie sich ihrem Ziel, zu ermitteln und zu belegen, «ob, wann und in welchem Ausmaß» (ibid.) Fremdwörter durch native italienische Begriffe ersetzt wurden. Diese Analyse beschreibt sie in acht Teilkapiteln, die verschiedenen Sportarten gewidmet sind. Im Zentrum stehen dabei Fremdwörter, die den Sprachpuristen miss- Buchbesprechungen 135 fielen, und die nativen Begriffe, die an ihrer Stelle eingeführt wurden. Besonderes Augenmerk gilt dabei den traditionell populären Sportarten Radsport (vgl. S. 231 - 251), Fußball (vgl. S. 252 - 285), Rugby (vgl. S. 285 - 293), Boxen (vgl. 293 - 320) und dem Wintersport (vgl. 331 - 341). Tennis hingegen blieb «bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine vergleichsweise elitäre Sportart, die zumeist dem Adel und dem gehobenen Bürgertum vorbehalten war» (S. 321). Das letzte Kapitel ist dem Thema «Einflussfaktoren des Italianisierungsstatus» (S. 423 - 456) gewidmet. Im Hinblick auf die «populären Sportarten» stellt die Autorin fest, dass diese «mit 65 % eine deutlich stärkere Tendenz zur Italianisierung als die «elitären Sportarten» mit 27 % aufweisen (vgl. S. 431). Trotz einiger zum Teil aufschlussreicher Einzelergebnisse kann der Einfluss des «Faschistischen Fremdsprachenpurismus» (FFP) in Italien nicht wirklich dingfest gemacht werden. So kann nicht bewiesen werden, ob die Italianisierung aus puristischen Quellen stammt oder ob Substitutionsprozesse schon in präfaschistischer Zeit eingeleitet wurden und von den Puristen lediglich übernommen und dem eigenen Konto als sprachpolitische Erfolge gutgeschrieben wurden. Gesine Seymer bezweifelt abschließend (6. Kapitel: «Synthese», S. 457 - 463), dass eine puristische Intervention tatsächlich in bedeutendem Umfang dazu in der Lage war, Fremdwörter durch native Lexeme zu substituieren. «Vielmehr ist Sprachwandel [. . .] als Invisible-Hand-Prozess zu verstehen, der über die Zeit von der Menge der individuellen Sprecherentscheidungen bestimmt und dessen Ergebnis nicht vorherzusagen ist.» (S. 457) In manchen Fällen war die stereotyp vorgebrachte Fremdwortkritik auch nur eine «Form der proaktiven Demonstration politischer Gesinnung» (S. 458). Der faschistische Fremdwortpurismus kam auf im Kontext der durch nationalistische Kräfte vorgenommenen Gleichsetzung von Sprache und Nation sowie der angestrebten politisch-wirtschaftlichen Autarkie. Er sollte eine Stärkung der nationalen und sozialen Kohäsion bewirken, was allerdings in dem von faschistischen Intellektuellen gewünschten Ausmaß nicht gelang. Gesine Seymer gelangt zu dem Schluss, dass der Faschistische Fremdwortpurismus «als Katalysator lexikalischen Wandels wirkte - nicht mehr, aber auch nicht weniger» (S. 462). Christoph Frilling Literatur Khadra, Yasmina (2008): Ce que le jour doit à la nuit. Paris: Editions Julliard. Riehl, Claudia Maria (2014): Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. 3. Auflage. Tübingen: Narr Verlag. Buchbesprechungen 136
