Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0019
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttRosemary Snelling-Gögh: Dynamische Wahrheit. Anthropologisches Denken und mythologisches Erzählen in Carlo Levis Paura della libertà und in Cristo si è fermato a Eboli. Wiesbaden: Harrassowitz 2020, 536 Seiten, € 98,00
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Jonas Hock
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Rosemary Snelling-Gögh: Dynamische Wahrheit. Anthropologisches Denken und mythologisches Erzählen in Carlo Levis Paura della libertà und in Cristo si è fermato a Eboli. Wiesbaden: Harrassowitz 2020, 536 Seiten, € 98,00 Die deutschsprachige Forschungsliteratur zu Carlo Levi ist, was monographische Arbeiten angeht, übersichtlich. Neben einigen graue Literatur gebliebenen Dissertationen ist der hier zu besprechende Band erst die zweite Studie seit Sabine Zangenfeinds Die Muschel der Zeit. Temporales Erleben zwischen Bewußtsein und Weltaneignung in den literarischen Reisebildern Carlo Levis (1995). Verdienst jener Arbeit war vor allem, einen Blick für das Gesamtwerk zu entwickeln und Cristo si è fermato a Eboli in die Reihe der «Reisebilder», von Sizilien über Sardinien bis zur Sowjetunion, zu stellen, ohne Paura della libertà zu vernachlässigen. Snelling-Gögh stellt nun zunächst Paura in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung, dieses 1946, ein Jahr nach dem Cristo, veröffentlichte, aber bereits 1939 begonnene «poema filosofico», das sich als poetisch-anthropologisches Theoriekondensat von den ethnographisch-literarischen Werken abhebt. Wie der Titel verrät, ist es das anthropologische Denken, um das ihre Untersuchung kreist, dasjenige Levis selbst, aber auch das weite Feld derAnthropologie, in das die Verfasserin ihren Autor stellt, «weil dezidiert anthropologische Denkvoraussetzungen eine bislang noch nicht kohärent ausformulierte Perspektive auf Levis Ideologie und Narration eröffnen» (S. 13). Gewährsleute sind dabei mit Bruno Latour und Michel Foucault zwei Anthropologiehistoriker und -kritiker, die Matrix und Begriffsinstrumentarium zur Verfügung stellen, um die Verflechtungen von Levis Denken und Schreiben mit dem moderner Anthropologie, von Ethnologie bis Volkskunde, zu entblättern. Dabei erscheint Levi dann als Latourianer avant la lettre, da er gegen die durch «Trennungen» konstituierte dichotome Übereinkunft der Moderne anarbeite, wie sie in Nous n ’ avons jamais été modernes (1991) prominent entworfen werden: Die zwischen Natur und Kultur sowie zwischen menschlichen Subjekten und nicht-menschlichen Objekten. In den Worten der Verfasserin nimmt sich das wie folgt aus: «Von der psychologischen Bibelinterpretation in Paura della libertà und ethnologischen Argumentationen in Cristo si è fermato a Eboli, über eine Form von kunsttheoretischer Hybridvorstellung, welche bei der Herstellung von Kunst den Versuch einer ganzheitlichen Darstellung von Welt, im Sinne einer momenthaften Verschmelzung aller möglichen Subjekte und Objekte anstrebt, bis hin zu einer diskursiven Hybridität unterschiedlicher Genres, Register, Bedeutungsdimensionen und struktureller Verfahren, die einen zwischen Symbolbildung und Symbolblockierung schwankenden, und wie ich ihn DOI 10.24053/ Ital-2022-0019 Kurzrezensionen 153 nenne möchte, dynamischen fluiden Diskurs in Paura hervorbringen, sowie komplementär dazu im Cristo eine ethnologische Narration perspektivischer Polymorphie und prälogischen Assoziationspotentials realistisch symbolischer Verknüpfungen zeitigen, versucht Levi auf allen Ebenen seines Werkes die Antimodernität der Moderne aufzudecken.» (S. 37 - 38) Die souveräne Hypotaxe der umfassenden Einleitung ist in den zwei mit je 200 Seiten etwa gleich umfangreichen folgenden Hauptteilen weniger schwindelerregend gestaltet. Nach einem Forschungsüberblick (II.) geht es in «III. Den Mythos denken» zunächst um den theoretischen Gehalt von Levis Werk als «mythologisches Konzept», in «IV. Den Mythos schreiben» dann um die diskursive Gestalt als «mythologisches Produkt», das die Form von Literatur annimmt. Beide Hauptteile gehen von Paura aus und Snelling-Gögh arbeitet heraus, inwiefern für die «Antimodernität der Moderne» der Mythos bzw. die Mythologie Levis, die eine Form der Übersetzung des anthropologisch Erfahrenen und Erforschten ins Literarische ist, steht. Der Mythos, nicht als das Andere der Vernunft, sondern als eine andere, aufgeklärtere, weil ihr Anderes mitdenkende Vernunft, gilt ihr als «Strukturprinzip» bei Levi, d. h., dass er «als Konzept sowie als Produkt der anthropologischen, durch Erfahrung, Natur und Sprache erfolgten Weltanalyse an die Stelle tritt, die einstmals metaphysisch besetzt war» (S. 38). Kunst als Mythos ist durch ihr enthistorisierendes Moment auch Gegenentwurf zum Diskurs der Humanwissenschaften sowie potentiell Ausdruck einer überzeitlichen Bewegung, die, in Levis Worten, als Storia sacra, angetrieben von der dynamisch-transformierenden Lebenskraft des sacro und dem formgebenden religioso im paradiso eine Auflösung findet, die kein evolutionärer Höhepunkt, sondern immer präsente Möglichkeit ist. Die Kernfrage der Arbeit lautet dann: «Ist Levis kulturanthropologische Prozesshaftigkeit zwischen sacro und religiose gegenepistemisch als gewissermaßen essentielle und nicht-moderne Hybride zu bewerten und propagiert diese eine Universalität im Sinne einer neuen anthropologischen Gnoseologie, die trotz der Geschichtlichkeit menschlichen Verstehens auf einer monistischen Naturalisierung ontologischer Positionierungen basiert? » (S. 48) Als Doris Bachmann-Medick in den 1990er Jahren die amerikanische Writing Culture-Debatte nach Deutschland trug, forderte sie komplementär zur Literarisierung der Anthropologie eine Anthropologisierung der Literaturwissenschaft. Vielleicht gerade, weil Carlo Levis Werk keine Ethnographie des Anderen darstellt, die textualistisch entlarvt werden könnte, bedeutet Snelling-Göghs Ansatz, die in Paura konzipierte und im Cristo meisterhaft diskursivierte «rettende Ethnographie» (S. 508) des Eigenen in ihrer Nicht-Modernität ernst Kurzrezensionen 154 zu nehmen, ein ‘ Zurück zu Levi ’ . Das ist kein Abschütteln des Philologischen, sondern eine Überschreitung der Anthropologie: Levis Versuch, der «Zerstückelung des epistemologischen Feldes der Wissenschaft» ein «Ganzheitsmodell» (S. 12) entgegenzusetzen, konnte nur literarisch verwirklicht werden und bedarf damit der «fundamentalphilologisch» (S. 13) vorgehenden Untersuchung. Dank ihrer stupenden Belesenheit und der Verbindung minutiöser Textanalysen mit der Herausarbeitung zahlreicher Systemreferenzen - genannt seien hier lediglich C. G. Jungs Archetypen, Émile Durkheims Religionsbegriff, Rudolf Ottos Komplex des Heiligen, Rudolf Bultmanns Verständnis der Bibel als Mythos, Marcel Mauss ’ Opferbegriff, das prälogisch-primitive Denken nach Lucien Lévy-Bruhl - nimmt die Verfasserin gleichzeitig eine Dezentrierung Levis vor. Damit setzt sie auf eine breite Einbettung, die es leicht machen würde, ‘ Lücken ’ zu finden; so ließe sich fragen, wie Levis sacro zum sacré-Begriff im Umfeld des Collège de Sociologie sich genau verhielte. Gleichzeitig wird durch diese Offenheit eine verkürzende Rezentrierung von Levis Denken im Eigenen vermieden, wie sie etwa Giorgio Agamben vornimmt, der Paura della libertà 2018 in seine Reihe bei Neri Pozza aufnahm. Im obligatorischen Vorwort übersetzt er Levis Begriffe gleichsam in categorie agambiane, indem er dessen Denken als ein zutiefst italienisches charakterisiert und als zentrale Frage - hergeleitet über einen Vergleich mit Primo, des ‘ anderen ’ Levi - die der Zeugenschaft herausstellt. Snelling-Gögh gelingt es nicht nur, über solche Engführungen hinauszugehen, sondern auch über einen Trend der Levi-Forschung, nämlich sein Schaffen als dialektische Auflösung einer Dichotomie zu verstehen, sei es als Überwindung der Gegenüberstellung von Kollektivität und Individualität, von Kultur und Natur oder von Rationalität und Irrationalität. Statt als Vermittlung erscheint sein Werk hier als Hybride - zwischen Kultur und Natur, Subjekt und Objekt; dynamische Wahrheit, die einen erweiterten Vernunftbegriff hervorbringt, welcher durch «Reintegration eines überzeitlich Archaischen in rationalistische Ordnungsstrukturen» (S. 500) in und durch den Mythos erfolgt. Levis lukanische Erfahrung kann so zu einer exemplarischen und universellen werden, die über die Mythologisierung in Form von Literatur nicht nur eine Erkundungen Lukaniens ist, sondern vor allem des Eigenen, denn «la Lucania è in ciascuno di noi». Jonas Hock Kurzrezensionen 155