eJournals Italienisch 44/87

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0022
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2022
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Gianni Celati: Der Erzähler der Ebenen zieht weiter

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2022
Katharina von Harsdorf
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intellettuale nel significato che Edward Said conferisce alla parola, cioè un personaggio marginale e ‘ amatore ’ che sta dalla parte dei non-potenti, un ‘ esiliato ’ che dimostra coerentemente il suo dissenso nei confronti dello status quo. Gerhild Fuchs Gianni Celati: Der Erzähler der Ebenen zieht weiter Das Titelbild von Narratori delle pianure, eine Fotografie von Luigi Ghirri, zeigt die Rückenansicht einer großgewachsenen Gestalt, der schneebedeckten Landschaft des Po-Delta zugewandt, umspielt von einem melancholischen Licht, das durch die winterliche Wolkendecke bricht: Gianni Celati, der einen Feldweg entlanggeht, einen Moment innezuhalten scheint, um eine Notiz festzuhalten. Dieses Bild erzählt viel über den Autor - zweifelsohne eine der wichtigsten Stimmen der italienischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - , der am 3. Januar 2022 im Alter von 84 Jahren im englischen Brighton verstorben ist. Einem breiten Publikum blieb er lange Zeit nahezu unbekannt. Sein Weg verlief abseits kommerzieller Strukturen, konsumorientierter Vermarktungsstrategien, Preisverleihungen und Bestsellerlisten. Celati war nie ein Arrangeur groß angelegter, tragischer Epen oder erhabener Visionen. Es sind vielmehr die kleinen Zufälle des Lebens, die scheinbar unspektakulären Alltagsbegebenheiten mit all ihren Absurditäten, die seiner Erzählweise zu Grunde liegen. Den überaus gebildeten Schriftsteller (daneben Übersetzer u. a. von Joyce, Melville, Hölderlin, Stendhal, Swift, Twain und Barthes), der er fraglos gewesen ist, hat er niemals zur Schau gestellt, Celati zog es vor, einen gänzlich unprätentiösen Tonfall anzuschlagen. «La potenza della scrittura non sta in questa o quella cosa da dire, bensì nel poco o niente da dire, in una condizione in cui si annulla il dovere di scrivere», schrieb er im Vorwort seiner Übersetzung von Herman Melvilles Bartleby, the Scrivener. Giovanni ‘ Gianni ’ Celati wird 1937 in der lombardischen Alpenstadt Sondrio als Sohn ferraresischer Eltern geboren. Er studiert in Bologna und beendet sein Studium der englischen Literatur mit einer Dissertation zu James Joyce. Mitte der 1960er Jahre nimmt er seine literarische Tätigkeit auf, schreibt Artikel für Zeitschriften und veröffentlicht erste Übersetzungen. Zufälligkeiten prägen oftmals das Schreiben Celatis. So fallen ihm Aufzeichnungen von Patienten aus dem psychiatrischen Krankenhaus in Pesaro in die Hände. Inspiriert von deren Sprache, beginnt er, Texte zu schreiben, die von Maurizio Spatola, Mitglied des Gruppo 63, gelesen und veröffentlicht werden. Es DOI 10.24053/ Ital-2022-0022 Mitteilungen 159 ist Italo Calvino, der das Potential dieser ungewöhnlichen, traumwandlerischen und bisweilen grotesken Sprache erkennt und Celati vorschlägt, die Texte als Buch herauszubringen. Ergebnis ist der Debütroman Comiche (1971), den Einaudi in der experimentellen Reihe La ricerca letteraria drucken lässt. Im Anschluss an den Folgeroman Le avventure di Guizzardi (1972) erscheint sein einziger, aber bemerkenswerter Band mit literarischen Essays, Finzioni occidentali (1975), der den Untertitel Fabulazione, comicità e scrittura trägt - nicht von ungefähr die drei Dreh- und Angelpunkte seiner Poetik. Nach La banda dei sospiri (1976), dem ungewöhnlichen Portrait einer Kindheit, verfasst Celati Lunario del paradiso (1978), in dem der 40jährigeAutor die Reise eines jungen Mannes auf der Suche nach seiner Jugendliebe im Deutschland der 1960er Jahre schildert. Der Text basiert auf autobiographischen Erlebnissen, die den Studenten Celati für neun Monate nach Hamburg führten. Dieses Werk, ein Mosaik aus Versatzstücken von Briefpassagen, Liedversen und Zufallsbegebenheiten, hatte maßgeblichen Einfluss auf Autoren der nachfolgenden Generation (darunter Enrico Palandri, Claudio Piersanti und Pier Vittorio Tondelli - allesamt Schüler Celatis am legendären DAMS 1 in Bologna) und wird später in der Trilogie Parlamenti buffi (1989, Premio Mondello) erscheinen. Auf Seite 50 findet sich eine Passage, die vielleicht auch als eine Art Selbstporträt des Autors gelesen werden könnte, als Spiegelung Giannis in dem Protagonisten Giovanni: «Io sono malinconico, ve lo dico subito. Ho la malinconia che mi gorgoglia in basso, viene su dalla pancia, fa il giro delle budelle, poi si piazza nello stomaco e allora diventa magone. E col magone non sto più fermo da nessuna parte; mi alzo, mi siedo, mi muovo, fumo come un camino, tutti mi stanno sui coglioni. Ah, con la mia malinconia ne ho fatti di viaggi all ’ estero; viaggi bellissimi devo dire. Me la porto sempre dietro, non so cosa farci. Ma è prima, prima dei viaggi che viene; è quando sto in un posto e mi guardo i piedi e mi dico: cosa ci faccio qui? Dov ’ è l ’ amore? Dov ’ è la vita? Quand ’ è che muoio? » 1981 kreuzt sich Celatis Karriere mit der künstlerischen Arbeit einer Gruppe von Fotografen, die sich mit der Erkundung der sich verändernden postindustriellen Landschaft Italiens beschäftigen. Die Beteiligung an dem Projekt Viaggio in Italia, das in eine große Ausstellung und einen 1984 veröffentlichten Katalog mündet, ist der Beginn einer äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit insbesondere mit Luigi Ghirri. Die Medien Fotografie und Literatur finden sich in gemeinsam realisierten, höchst eigenwilligen Dokumentarfilmen (bspw. Strada provinciale delle anime, 1991 und Visioni di case che crollano, 2002), in denen Celati zu ganz neuen, narrativen Streifzügen aufbricht. 1 Discipline delle Arti, della Musica e dello Spettacolo. Mitteilungen 160 Es folgen weitere Jahre des Reisens und der Studien, bis er sich 1985 mit dem Band Narratori delle pianure (Premi Cinque Scole und Grinzane Cavour) wieder der Belletristik zuwendet und damit nicht nur den Wechsel zu Feltrinelli, sondern auch einen großen stilistischen Wandel vollzieht. Nach sieben Jahren literarischen Schweigens eröffnet der Autor eine neue Ära des Erzählens. Eine, die der mündlichen Überlieferung nahe steht - inspiriert von mitgelauschten Gesprächen in den örtlichen Lokalen - und sich dem entlegenen Alltagsleben der unteren Po- Ebene zuwendet. Der Erzählband wird sein größter Erfolg, bei der Kritik und endlich auch bei einer breiten Leserschaft. Ende der 1980er Jahre folgt Quattro novelle sulle apparenze (1987) und schließlich, nach einem langwierigen Prozess des Überarbeitens und Redigierens, der Band Verso la foce (1989): Eine Art Beobachtungsstudie, eine Reportage über die Vereinsamung in der modernen, ländlichen Welt, die er im Zuge der Wanderjahre durch die Landschaft der Po-Ebene in vier Reisetagebüchern aufgezeichnet hatte. Celati lässt sich ganz auf diese augenscheinlich unscheinbare Gegend ein, die dennoch bewegend und geheimnisvoll ist, mit niedrigen, bröckelnden Häusern, verwahrlosten Grundstücken, mit Schutt, Bars, Geschäften und Einkaufszentren. Eine Landschaft voll grauer Geschichten des Nichts, die erzählt, nicht interpretiert werden wollen. Die folgenden Zeilen, die Celati über den künstlerischen Weggefährten Ghirri schreibt, sind ebenso Ausdruck der eigenen Betrachtungsperspektive: «È riuscito a raccontare la fissità dello spazio vuoto, lo spazio che non si riesce a capire. Ha compiuto una radicale pulizia negli intenti o scopi dello sguardo. Finalmente ha fatto vedere uno sguardo che non spia un bottino da catturare, che non va in giro per approvare o condannare ciò che vede, ma scopre che tutto può avere interesse perché fa parte dell ’ esistente.» (Finzioni a cui credere, 1984) Die nachfolgenden Werke sind einmal mehr Zeugnis eines ungewöhnlichen Talents, werden vielfach ausgezeichnet und setzen Maßstäbe für junge italienische Erzähler. Doch Celati hat die Rolle des Lehrmeisters immer abgelehnt. Er verlässt die Universität, um sich fortan ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen, geht in die Normandie, und schließlich nach Brighton in England, wo er fortan mit seiner Frau Gillian Haley leben wird. Immer wieder bricht er von dort zu großen Reisen auf: nach Afrika - Thema eines weiteren Buches (Avventure in Africa, 1998, Premio Comisso), in die Vereinigten Staaten, wo er noch einmal einen Lehrauftrag annimmt und viele Male in sein Heimatland Italien. Die schriftstellerische Produktion wird intensiv fortgeführt, Celati experimentiert weiter und geht Wege, die sich schwerlich in den traditionellen Kanon von Gattungen einordnen lassen (exemplarisch genannt seien an dieser Stelle Cinema naturale, 2001, Premio Chiara; Fata Morgana, 2005, Premi Napoli und Mitteilungen 161 Flaiano; Vite di pascolanti, 2006, Premio Viareggio; Conversazioni del vento volatore, 2011). Das Leben Gianni Celatis war ein Leben in Bewegung. Das eines Nomaden, angezogen vom Exotischen und Pittoresken, den unbeholfenen, launischen, absurden Charakteren und der flachen, schmucklosen Landschaft der Po-Ebene. Das Leben eines Zugvogels, der die bürgerliche Sesshaftigkeit nicht ertragen konnte. Der umherzieht, irgendwo zwischen Worten, Bildern und Schwellengestalten, aber immer nah dran am Menschen, immer auf dem Boden. Sein Schreiben ist geprägt von unzähligen (zielführenden! ) Irrfahrten, als produktives Grenzüberschreiten von Ländern und Kulturen. Wenn er stillsteht, wird er melancholisch. Doch gerade diese Melancholie der Stille hat er immer wieder nicht nur zugelassen, sondern gesucht. Er hat sie beobachtet und belauscht und ihr eine warme, unbestimmt vertraute Stimme gegeben. «Scrivere è un modo di consumare il tempo, rendendogli l ’ omaggio che gli è dovuto: lui dà e toglie, e quello che dà è solo quello che toglie, così la sua somma è sempre lo zero, l ’ insostanziale, e il vuoto, l ’ ombra, l ’ erba secca, le pietre dei muri che crollano e la polvere che respiriamo» (Quattro novelle sulle apparenze, 1987). Katharina von Harsdorf Zur Erinnerung an Marisa Faussone Fenoglio (17.2.1933 - 27.11.2021) Marisa Faussone Fenoglio war die Schwester des früh verstorbenen italienischen Schriftstellers Beppe Fenoglio, dessen Andenken sie intensiv pflegte. In ihrem autobiographischen Text Viaggi in Italia/ Reisen in Italien beschreibt sie die Herzlichkeit des familiären Zusammenlebens und das fröhliche Leben der kleinen Stadt Alba im Piemont, berühmt für Wein, Trüffel, gutes Essen und die Landschaft der Langhe, die Pavese besungen hat: «[. . .] i muri delle case, del Duomo, i portici delle piazze di Alba, mia città natale, mi erano apparsi sempre come quinte di un grande palcoscenico da cui trarre i miei modelli di vita [. . .]. / Die Häuser meiner Heimatstadt, ihre alten Türme, ihre schattigen Arkaden mit den kleinen Läden, die Barockkirchen, der mächtige Dom waren für mich Kulisse eines Theaters gewesen, dem ich meine Identität und meine Vorbilder verdankte.» (Viaggi in Italia/ Reisen in Italien, Letteratura de-centrata, Frankfurt 1995, S. 271/ S. 148, übersetzt von Alberto Faussone) DOI 10.24053/ Ital-2022-0023 Mitteilungen 162