eJournals Italienisch 44/87

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2022
4487 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Zur Erinnerung an Marisa Faussone Fenoglio (17.2.1933-27.11.2021)

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2022
Caroline Lüderssen
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Flaiano; Vite di pascolanti, 2006, Premio Viareggio; Conversazioni del vento volatore, 2011). Das Leben Gianni Celatis war ein Leben in Bewegung. Das eines Nomaden, angezogen vom Exotischen und Pittoresken, den unbeholfenen, launischen, absurden Charakteren und der flachen, schmucklosen Landschaft der Po-Ebene. Das Leben eines Zugvogels, der die bürgerliche Sesshaftigkeit nicht ertragen konnte. Der umherzieht, irgendwo zwischen Worten, Bildern und Schwellengestalten, aber immer nah dran am Menschen, immer auf dem Boden. Sein Schreiben ist geprägt von unzähligen (zielführenden! ) Irrfahrten, als produktives Grenzüberschreiten von Ländern und Kulturen. Wenn er stillsteht, wird er melancholisch. Doch gerade diese Melancholie der Stille hat er immer wieder nicht nur zugelassen, sondern gesucht. Er hat sie beobachtet und belauscht und ihr eine warme, unbestimmt vertraute Stimme gegeben. «Scrivere è un modo di consumare il tempo, rendendogli l ’ omaggio che gli è dovuto: lui dà e toglie, e quello che dà è solo quello che toglie, così la sua somma è sempre lo zero, l ’ insostanziale, e il vuoto, l ’ ombra, l ’ erba secca, le pietre dei muri che crollano e la polvere che respiriamo» (Quattro novelle sulle apparenze, 1987). Katharina von Harsdorf Zur Erinnerung an Marisa Faussone Fenoglio (17.2.1933 - 27.11.2021) Marisa Faussone Fenoglio war die Schwester des früh verstorbenen italienischen Schriftstellers Beppe Fenoglio, dessen Andenken sie intensiv pflegte. In ihrem autobiographischen Text Viaggi in Italia/ Reisen in Italien beschreibt sie die Herzlichkeit des familiären Zusammenlebens und das fröhliche Leben der kleinen Stadt Alba im Piemont, berühmt für Wein, Trüffel, gutes Essen und die Landschaft der Langhe, die Pavese besungen hat: «[. . .] i muri delle case, del Duomo, i portici delle piazze di Alba, mia città natale, mi erano apparsi sempre come quinte di un grande palcoscenico da cui trarre i miei modelli di vita [. . .]. / Die Häuser meiner Heimatstadt, ihre alten Türme, ihre schattigen Arkaden mit den kleinen Läden, die Barockkirchen, der mächtige Dom waren für mich Kulisse eines Theaters gewesen, dem ich meine Identität und meine Vorbilder verdankte.» (Viaggi in Italia/ Reisen in Italien, Letteratura de-centrata, Frankfurt 1995, S. 271/ S. 148, übersetzt von Alberto Faussone) DOI 10.24053/ Ital-2022-0023 Mitteilungen 162 Doch das Schicksal führte Marisa als junge Ehefrau und dann bald auch Mutter dreier Kinder nach Deutschland in die Emigration: 1957 folgte sie mit Anfang 20 ihrem Mann nach Stadtallendorf in Oberhessen, wo dieser den Aufbau einer Ferrero-Vertretung mit betreute. Die neue Umgebung ist für sie zunächst ein Schock: Der dichte dunkle Wald, die grauen Straßen, der graue Himmel, ja, sogar die grauen Kleider der Menschen in der deutschen Nachkriegszeit, deprimieren sie. Das, was die Autorin selbst in einem Gespräch mit Johannes Röhrig als «Verlust meiner kulturellen Umgebung» bezeichnet hat, hat sie als besonders hart empfunden. Den Kontrast zu ihrer Heimat beschreibt sie eindringlich: «Allendorf [. . .] è, nei miei ricordi, una voragine nera che un brutto giorno inghiottì tutto quello che io ero e amavo per ributtarmi fuori, dopo anni, diversa, altra. / Allendorf [. . .] ist in meiner Erinnerung ein schwarzer Schlund, der eines bösen Tages alles verschlang, was ich war und was ich liebte, um mich nach Jahren wieder auszuspeien, verändert, verformt.» (Viaggi in Italia/ Reisen in Italien, S. 266/ S. 142) Später zog die Familie nach Marburg, und nach Jahren der vermissten «Zugehörigkeit» (im Original deutsch), ein Schlüsselwort in ihren Erinnerungen an diese Zeit, kam die «lang ersehnte Integration» («la tanto desiderata identificazione») (ebd., S. 150). In Marburg etablierte sich Marisa Faussone Fenoglio als Autorin und Kulturvermittlerin. Die Identifizierung mit dem bedeutenden Bruder (ihr Portrait Beppe Fenoglio mio fratello erschien 1990), die Beschreibung der Emigrationserfahrung, der zunehmenden Integration und des kontinuierlichen Kulturaustauschs zwischen Italien und Deutschland, die Erfahrungen als Schriftstellerin, alles das fand Eingang in ihr Schreiben. Es erscheinen Erzählungen in der Zeitschrift Il Ponte, im Marburger Almanach, in diversen Anthologien, die Bücher Casa Fenoglio (Palermo 1995), Vivere altrove (Palermo 1998), Mai senza una donna (2002), Il ritorno impossibile (Roma 2012) und der dramatische Monolog Viaggio privato (Boves 2004). Regelmäßig nahm sie an Tagungen und Workshops zur Emigrationsliteratur teil, sie war ein liebenswürdiger und gern gesehener Gast bei Lesungen. Ich erinnere mich gern an unsere ersten Begegnungen bei den Tagungen zur letteratura de-centrata, in Frankfurt im Literaturhaus und in der Villa Vigoni in Menaggio am Comer See, 1991 und 1993. Passion für das Schreiben, Engagement für den Dialog, Wahrhaftigkeit der gelebten Interkulturalität, in der immer eine gewisse Wehmut über den Verlust der italienischen Heimat mitschwang, zeichneten sie aus. Die Eleganz ihrer Erscheinung, ihr strahlendes Wesen, ihre Zugewandtheit werden wir vermissen. In einem Artikel im Tagesspiegel vom Juli 2006 schrieb sie: «Ich werde die unermüdliche Fähre zwischen Deutschland und Italien bleiben, die ich seit Jahrzehnten bin, und die eines Tages an deutschem Ufer Mitteilungen 163 vor Anker gehen wird.» Wir erinnern uns an die grande dame der letteratura italiana in Germania mit ihren Worten: «Le materie letterarie si erano rivelate il mio forte. Avevo vinto una piccola borsa di studio, consegnatami al termine di una festicciola scolastica, e in quell ’ occasione i professori avevano fatto notare che dimostravo di essere la degna sorella dei due Fenoglio» (Casa Fenoglio, S. 147) Caroline Lüderssen In memoriam Harald Weinrich (1927 - 2022) Am 26.2.2022 verstarb im Alter von 94 Jahren in Münster Harald Weinrich. Geboren 1927 in Wismar, wurde er noch zum Krieg eingezogen und brachte sich in Gefangenschaft selbst Französisch bei. 1948 begann er in Münster Romanistik, Germanistik, Latein und Philosophie zu studieren, weitere Stationen waren Freiburg, Toulouse und Madrid. 1954 promovierte er bei Heinrich Lausberg in Münster, 1958 folgte die Habilitation. Mit nur 31 Jahren erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für romanische Philologie in Kiel, es folgten Rufe nach Köln und nach Bielefeld und schließlich nach München, wo er den Lehrstuhl für Deutsch als Fremdsprache etablierte. Weitere Etappen seiner akademischen Laufbahn waren Gastdozenturen in Ann Arbor, Michigan, und Princeton, New Jersey, das Wissenschaftskolleg in Berlin, die Chaire européenne am Collège de France in Paris, der Lehrstuhl Galileo Galilei an der Scuola Normale Superiore di Pisa (1992/ 1993) und, schon als Münchner Emeritus, die Rückkehr an das Collège de France als erster ausländischer Inhaber der Chaire de langues et de littératures romanes. Er wurde zum Mitglied der bedeutendsten wissenschaftlichen Gesellschaften in Deutschland und im Ausland berufen (darunter die Accademia della Crusca und die Accademia Nazionale dei Lincei di Roma, das PEN-Zentrum Deutschland und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) und erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden (Bielefeld, Heidelberg, Augsburg, Roma «La Sapienza», Madrid «Complutense» und Cagliari), Ausdruck der Bedeutung seiner Person und seines Werks. Weinrich vertrat in Forschung und Lehre eine traditionelle Romanistik, in dem Sinne, dass sie Linguistik und Literaturwissenschaft umfasste. Das Thema seiner Dissertation lautete Das Ingenium Don Quijotes. Ein Beitrag zur literarischen Charakterkunde (erschienen in Münster 1956), dasjenige der Habilitationsschrift Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte (ebd. 1958). Genau in der Schnittmenge von Linguistik und Literatur kann man sein Hauptwerk situieren: DOI 10.24053/ Ital-2022-0024 Mitteilungen 164