eJournals Italienisch 44/88

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0039
121
2022
4488 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Claudia Jacobi: Mythopoétiques dantesques – une étude intermédiale sur la France, l’Espagne et l’Italie (1766–1897). Strasbourg: Eliphi 2021, Travaux de littératures romanes, 417 Seiten, € 50,00

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Peter Ihring
ita44880160
Kurzrezensionen Claudia Jacobi: Mythopoétiques dantesques - une étude intermédiale sur la France, l ’ Espagne et l ’ Italie (1766 - 1897). Strasbourg: Eliphi 2021, Travaux de littératures romanes, 417 Seiten, € 50,00 In ihrer Bonner Habilitationsschrift aus dem Jahr 2021 unterscheidet Claudia Jacobi auf Textbasis der Divina Commedia drei verschiedene «mythopoétiques dantesques»: «envols célestes», «voyages infernaux» sowie diejenigen «mythopoétiques», die sich in dem von ihr ausgewerteten Quellenkorpus mit der Episode um Paolo und Francesca aus dem fünften Gesang des Inferno verbinden. Die Arbeit gliedert sich also in zwei recht ungleichartige Teile: Auf der einen Seite stehen Werke aus dem Gattungskontext der Visionsliteratur im weiteren Sinne, auf der anderen ein inhaltliches Gefüge, das von zwei durch ihre Namen eindeutig identifizierbaren Figuren getragen wird, dessen Herkunft aus dem Jenseits in den meisten herangezogenen Rezeptionsbeispielen jedoch keine Rolle zu spielen scheint. Die Autorin nimmt also zum einen eine Art Handlungsbewegung (ascensus bzw. descensus) in den Blick, die in romantischer Kunst und Literatur häufig begegnet, zum anderen beschäftigt sie sich mit einem Erzählstoff, der bis ins 18. Jh. hinein nahezu unbekannt geblieben ist, dem aber in der Zeit danach eine fast mythisch zu nennende Qualität zuwächst. In jedem Fall hat man es hier wie dort mit Dante-Adaptationen zumeist aus dem Ottocento zu tun, deren Deutung, und das ist der grandiose argumentative Fluchtpunkt der Überlegungen von Frau Jacobi, auch die Divina Commedia selbst in neuem Licht erscheinen lässt: In einem Licht, das von der heutigen Literaturwissenschaft ausgeht, das aber schon in den behandelten Rezeptionszeugnissen aus dem 19. Jahrhundert erkennbar wird und in ihnen gewissermaßen vorweggenommen ist. Die Arbeit ist intermedial angelegt, d. h. literarische Werke werden ebenso untersucht wie solche aus dem Bereich der visuellen Künste. Das hat den Vorteil, dass sich die beiden Quellentypen wechselseitig beleuchten und dass sich daraus mitunter Textdeutungen ergeben, zu denen es ohne die Heranziehung des Bildmaterials nicht hätte kommen können. Die schiere Anzahl der Dante-Adaptationen aus Frankreich, Spanien und Italien, die in der Arbeit zur Sprache kommen, ist riesig, und dabei gibt die Autorin selbst zu verstehen, dass ihre Liste gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: Sie spricht von einer «masse impressionante d ’ appropriations des adultères dantesques [sc.: Paolo und Francesca]» und kann sich dabei auf eine Erhebung aus dem Jahr 2019 berufen, die auf einen «. . . nombre de plus de 2112» gekommen ist, «dont 1078 seraient littéraires» (S. 215). Es kommt noch etwas anderes hinzu: Der zugrunde DOI 10.24053/ Ital-2022-0039 160 gelegte intermediale Ansatz bringt es mit sich, dass die voluminöse Abhandlung ohne eine auch kunsthistorische Gelehrsamkeit nie hätte geschrieben werden können: Die Liste der ausgewerteten Quellen, die sich den «Arts plastiques» zuordnen lassen (S. 386 f.), umfasst mehr als fünfzig Künstlernamen, von Leonardo bis Auguste Rodin. Der Rezensent stellt sich die bange Frage, wie er eine solche wissenschaftliche Leistung adäquat bearbeiten kann, und kommt zu dem Schluss, dass ein bloßes name dropping bzw. eine bloß kommentierende Auflistung der behandelten Quellen bzw. ihrer jeweiligen Deutung unergiebig wäre. Er fasst daher den Entschluss, sich nach der Devise multum, non multa mit einem etwas genaueren Blick auf nur zwei Kapitel zu begnügen, weil er glaubt, der Feinfühligkeit von Frau Jacobi, ihrem ungeheuer sensiblen Spürsinn für aussagekräftige Details damit am ehesten gerecht werden zu können. Unter den vielen in dem Buch behandelten Autoren ist Charles Baudelaire der Einzige, der in beiden Hauptteilen zur Sprache kommt, im ersten, den «envols célestes» und den «voyages infernaux» gewidmeten Großabschnitt und im zweiten, der die Adaptationen der Geschichte von Paolo und Francesca betrifft. Ganz offenbar ist Dante ein Schlüsselautor für den französischen Lyriker, zumal wenn man bedenkt, dass sich das von diesem beschworene Spannungsfeld zwischen Spleen und Idéal auch als dualistische Engführung des dreiteiligen Weltbilds der Divina Commedia lesen lässt. Im Abschnitt III. 5 «La figure de la prostituée comme emblème de la poésie: La Béatrice et la Francisca de Baudelaire (1857) entre femmes fatales et femmes angéliques» (S. 317 - 332) unterzieht die Autorin zwei Baudelaire-Gedichte aus dem Jahr 1857 einer vergleichenden Betrachtung. Sie hat die kluge Idee, die beiden etwa gleich langen (30 bzw. 33 Verse) Stücke in einer Gesamtschau auf ein- und derselben Seite typographisch nebeneinander zu stellen, was den Vorteil bietet, dass dadurch zwei randständige metrische Varianten aus dem riesigen Formspektrum der Lyrik Baudelaires sehr anschaulich werden. Das erste Stück mit dem Titel «La Béatrice» steht außerhalb des Paolo-Francesca-Kontextes, der Bezug zur Divina Commedia ist dessen ungeachtet evident. Die thematisierte Frauengestalt Beatrice, die in Dantes Gedicht als Leitfigur des Jenseitswanderers fungiert und deren angemessener Bereich allein das Paradiso ist, bekommt von Baudelaire einen bestimmten Artikel verpasst, wodurch sie - wie in einer gelehrten Kommentierung des Gedichts mitgeteilt wird - nach den französischen Sprachgewohnheiten im Zweiten Kaiserreich auf die Position einer käuflichen Frau und damit in eine satirische Distanz rückt (S. 319). Der Lyriker aus dem 19. Jahrhundert inszeniert seine Heldin als «s œ ur démoniaque» (S. 321) des lyrischen Ich, welche dieses nicht der Sphäre der Erlösung näherbringt, sondern es ganz im Gegenteil auf direktem Wege in den Höllenkreis des Spleen treibt. La Béatrice bildet die erste Komponente eines aus zwei Gedichten bestehenden «diptyque» Kurzrezensionen 161 (S. 318) und wird ergänzt durch ein lateinisches Gegenstück, das in der Motivtradition der Marienlyrik des Mittelalters steht und Dantes Sünderin Francesca in eine anbetungswürdige Heilige verwandelt: Franciscae meae Laudes. Das Gedicht ist natürlich antiphrastisch zu verstehen, und zwar in dem Sinn, dass die unkeusche Francesca aus der Commedia hier als eine Frau erscheint, die aufgrund ihrer Reinheit zur weiblichen Erlöserfigur werden kann. Der genannte Effekt wird noch unterstrichen durch den bei Baudelaire völlig ungewohnten Gebrauch der Liturgiesprache Latein, wobei sich der Dichter hier für die geistliche Varietät dieser Sprache entscheidet, das sog. Kirchenlatein. Diese Varietät wirkt in stilistischer Hinsicht wenig elegant, ja eigentlich sogar sehr unbeholfen, was den Text auch für eine Leserschaft verstehbar macht, die mit einer romanischen Sprache vertraut, aber des Lateinischen nicht mächtig ist. Darüber hinaus ist ein solcher Sprachgebrauch natürlich geeignet, den satirischen Impetus des Ganzen zu forcieren. Die Heldin aus Franciscae meae Laudes wird also stilisiert im Hinblick auf die Motivtradition der Marienlyrik, aber auch hier bleibt Raum für ironische Brechungen, was Claudia Jacobi sehr einfühlsam herausarbeiten kann: Denn wenn die Titelheldin als «femina delicata» (V. 5) apostrophiert wird, dann verbindet sich mit einer solchen Wendung ein schlüpfriger Doppelsinn: Zum einen wirkt es schon befremdlich, wenn eine Marienfigur als «femina» bezeichnet wird, und zum anderen umfasst, wie die Autorin anhand eines lateinischfranzösischen Wörterbuchs aus dem Jahr 1865 (! ) nachweisen kann (S. 326), die Bedeutung des lateinischen Adjektivs «delicatus» nicht nur «empfindlich» bzw. «heikel», sondern auch: «lüstern». Für Claudia Jacobi sind Franciscae meae laudes und La Béatrice gleichermaßen bestimmt durch eine nicht aufgelöste «tension entre la profanation du sacré et la sacralisation du profane» (S. 318). Im Rahmen ihrer Deutung des letztgenannten Gedichts ruft die Autorin darüber hinaus die Dante-Lektüre von Rosanna Fenu Barbera in Erinnerung, die schon im Jahr 2017 für die Beatrice-Figur aus der Vita Nuova eine solcherart subversive Ambivalenz geltend gemacht hat. Ebenso wie an vielen anderen Stellen der Arbeit wird auch hier deutlich, wie der Blick auf die Dante-Rezeption früherer Jahrhunderte dazu beitragen kann, die Gültigkeit und Plausibilität heutiger Forschungserträge zur Divina Commedia zu untermauern. In einem Kapitel aus dem ersten Hauptabschnitt des Buches wird erkennbar, dass sich die Autorin nicht nur den infernalischen Sujets der Commedia in angemessen subtiler Weise zu nähern versteht, sondern auch hochkomplexen Gegenständen aus der mittelalterlichen Theologie, wie z. B. der Frage nach dem Wesen der Trinität. Unter der Überschrift «Poétique de la vue et vision de la trinité» (S. 43 - 67) beschäftigt sich Frau Jacobi mit Alfonso Varanos Visioni sacre e morali aus dem Jahr 1766. Für die Dante-Renaissance, die sich im 19. Jahrhundert vollziehen wird, spielt Varano insofern eine Schlüsselrolle, als er für den Autor der Kurzrezensionen 162 Commedia eine herausragende Position als Leitstern der italienischen Literatur reklamiert, nachdem bis dahin Petrarca diese Position eingenommen hatte. Zwar gibt sich der Dichter aus dem Settecento mit seiner Deutung von Dantes Werk, die vor allem auf dessen katholische Prägung fokussiert ist, als Präromantiker zu erkennen und arbeitet insofern späteren Adaptationen vor. Im Hinblick auf die Komplexität des mittelalterlichen Vorbilds kommt er aber, wie Claudia Jacobi zeigen kann, über eine verkürzende «lecture unilaterale» (S. 54) nicht hinaus. Das zeigt sich insbesondere da, wo es um die konkrete Veranschaulichung des theologischen Lehrsatzes von der Trinität geht. Und hier erweist sich wieder, wie sinnvoll und ergiebig Frau Jacobis intermedialer Ansatz ist. Die Autorin präsentiert eine Miniatur aus dem Liber figurarum des Joachim von Fiore, die als bildliche Veranschaulichung des Trinitätsproblems zu lesen ist. Diese Miniatur zeigt die Überlagerung bzw. Verflechtung von drei Kreislinien, die sich nur auf einer kleinen Fläche ganz im Zentrum überschneiden. Ein solcher Versuch der symbolischen Erhellung des Gedankens von der Trinität setzt die selbstbewusste Prämisse voraus, wonach sich die in sich selbst gebrochene Lehre von der Trinität mit den Mitteln der bildenden Kunst veranschaulichen lässt. Alfonso Varano liefert in der zwölften und letzten seiner Visioni sacre e morali eine diskursive Umschreibung der Trinität, welche die paradoxe Konstellation «Dreiheit in der Einheit» ebenfalls in eine sprachliche Form zu überführen beansprucht, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Claudia Jacobi mehr als nur eine bildliche Darstellung präsentieren kann, die sich als Illustration zu Varanos letzter Visione verstehen ließe (S. 60 ff.). Demgegenüber begnügt sich Dante im entsprechenden Kontext mit grandios poetischen Variationen der Unsagbarkeitstopik, d. h. er lässt einem ebenso zentralen wie unauslotbaren Lehrsatz der christlichen Theologie seinen «caractère énigmatique» (S. 58), so dass dessen Überführung in ein Bildmedium wenig Sinn ergäbe. Peter Ihring Patrizia Grimaldi Pizzorno: Dopo la peste. Desiderio e Ragione nella Decima Giornata del Decameron. Firenze: Olschki 2021, 126 Seiten, € 20,00 (Biblioteca di Lettere Italiane. Studi e testi 80). Der Titel der hier anzuzeigenden Publikation ist zwar klangvoll, aber missverständlich: Ein Buch, das «Dopo la peste» heißt und das Decameron zum Gegenstand hat, scheint mit diesem Titel ausdrücken zu wollen, dass die Angehörigen der «Brigata» am Ende der Rahmenhandlung, als sie ihr selbstgewähltes Exil verlassen, um nach Florenz zurückzukehren, bei ihrerAnkunft dort DOI 10.24053/ Ital-2022-0040 Kurzrezensionen 163