eJournals Italienisch 44/88

Italienisch
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2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0040
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2022
4488 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Patrizia Grimaldi Pizzorno: Dopo la peste. Desiderio e Ragione nella Decima Giornata del Decameron. Firenze: Olschki 2021, 126 Seiten, € 20,00 (Biblioteca di Lettere Italiane. Studi e testi 80)

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Peter Ihring
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Commedia eine herausragende Position als Leitstern der italienischen Literatur reklamiert, nachdem bis dahin Petrarca diese Position eingenommen hatte. Zwar gibt sich der Dichter aus dem Settecento mit seiner Deutung von Dantes Werk, die vor allem auf dessen katholische Prägung fokussiert ist, als Präromantiker zu erkennen und arbeitet insofern späteren Adaptationen vor. Im Hinblick auf die Komplexität des mittelalterlichen Vorbilds kommt er aber, wie Claudia Jacobi zeigen kann, über eine verkürzende «lecture unilaterale» (S. 54) nicht hinaus. Das zeigt sich insbesondere da, wo es um die konkrete Veranschaulichung des theologischen Lehrsatzes von der Trinität geht. Und hier erweist sich wieder, wie sinnvoll und ergiebig Frau Jacobis intermedialer Ansatz ist. Die Autorin präsentiert eine Miniatur aus dem Liber figurarum des Joachim von Fiore, die als bildliche Veranschaulichung des Trinitätsproblems zu lesen ist. Diese Miniatur zeigt die Überlagerung bzw. Verflechtung von drei Kreislinien, die sich nur auf einer kleinen Fläche ganz im Zentrum überschneiden. Ein solcher Versuch der symbolischen Erhellung des Gedankens von der Trinität setzt die selbstbewusste Prämisse voraus, wonach sich die in sich selbst gebrochene Lehre von der Trinität mit den Mitteln der bildenden Kunst veranschaulichen lässt. Alfonso Varano liefert in der zwölften und letzten seiner Visioni sacre e morali eine diskursive Umschreibung der Trinität, welche die paradoxe Konstellation «Dreiheit in der Einheit» ebenfalls in eine sprachliche Form zu überführen beansprucht, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Claudia Jacobi mehr als nur eine bildliche Darstellung präsentieren kann, die sich als Illustration zu Varanos letzter Visione verstehen ließe (S. 60 ff.). Demgegenüber begnügt sich Dante im entsprechenden Kontext mit grandios poetischen Variationen der Unsagbarkeitstopik, d. h. er lässt einem ebenso zentralen wie unauslotbaren Lehrsatz der christlichen Theologie seinen «caractère énigmatique» (S. 58), so dass dessen Überführung in ein Bildmedium wenig Sinn ergäbe. Peter Ihring Patrizia Grimaldi Pizzorno: Dopo la peste. Desiderio e Ragione nella Decima Giornata del Decameron. Firenze: Olschki 2021, 126 Seiten, € 20,00 (Biblioteca di Lettere Italiane. Studi e testi 80). Der Titel der hier anzuzeigenden Publikation ist zwar klangvoll, aber missverständlich: Ein Buch, das «Dopo la peste» heißt und das Decameron zum Gegenstand hat, scheint mit diesem Titel ausdrücken zu wollen, dass die Angehörigen der «Brigata» am Ende der Rahmenhandlung, als sie ihr selbstgewähltes Exil verlassen, um nach Florenz zurückzukehren, bei ihrerAnkunft dort DOI 10.24053/ Ital-2022-0040 Kurzrezensionen 163 eine Stadt vorfinden, in der die Pest keine Rolle mehr spielt. Boccaccio liefert jedoch in seiner Erzählung keine wirklich konkrete Information darüber, was sich während der Abwesenheit der zehn jungen Leute in Florenz ereignet, noch spricht er davon, was ihnen nach ihrer Heimkehr widerfährt; vielmehr beschränkt er sich auf den Hinweis, dass die drei Männer ihre Freundinnen bis zur Kirche Santa Maria Novella bringen, um danach «a ‘ loro altri piaceri attesero, e esse, quando tempo lor parve, se ne tornarono alle lor case». Damit endet der Erzählerbericht. Zwar wird dieser Schluss normalerweise in dem Sinn verstanden, dass in der Stadt nun wieder eine Art ruhiger Normalität eingekehrt sei. Aber einer solchen Lesart lässt sich mit Blick auf die inhaltliche Gesamtheit der «Cornice» das Folgende entgegenhalten: Das Projekt der zehn Florentiner besteht darin, dass sie mit ihren kunstvollen Erzählungen und darüber hinaus mit ihrem gesitteten Verhalten während des Exils zeichenhaft und damit zivilisatorisch produktiv auf die zur selben Zeit in ihrer Stadt herrschende, durch die Pest bedingte Anarchie reagieren. Ihre eigene Praxis human gepflegter Geselligkeit soll vor dem Hintergrund der gleichzeitig grassierenden Seuche und der sich daraus ergebenden allgemeinen Sittenlosigkeit ein Beispiel dafür sein, dass sich zivile Standards auch in einer solch katastrophalen Ausnahmesituation aufrechterhalten lassen. Dieses Projekt erhält jedoch seine ganze Dignität erst dadurch, dass die Helden, die ja gerade nicht als Flüchtlinge zu verstehen sind, ihr Exil frohen Mutes und aus freien Stücken verlassen können, ohne zu wissen, was sie an ihrem Ziel erwartet. Denn das sittlich hochanspruchsvolle Spiel, welches das ihnen allen gemeinsame Kultursubstrat performativ zur Geltung bringt, haben sie ja am Ende des zehnten Erzähltags zu Ende gespielt, so dass eine Weiterführung keinen Sinn mehr hätte und den symmetrischen Aufbau des Ganzen nur zerstören würde. Im fiktionalen Sinnsystem des literarischen Kunstwerks Decameron ist die Frage, was den zehn jungen Leuten nach ihrer Heimkehr bevorsteht, nicht nur irrelevant, sondern sie wird auch dem Kunstwillen des Werks nicht gerecht. Es gibt nicht wenige literaturwissenschaftliche Beiträge zum Decameron, die sich auf einzelne Erzähltage beschränken, und ein solches Verfahren ist auch insofern berechtigt, als diese Erzähltage ja in der Regel von einem jeweils spezifischen vorgegebenen Rahmenthema bestimmt sind. Das gilt natürlich auch für den zehnten Erzähltag, und es gilt sogar in ganz besonderer Weise für ihn: Patrizia Grimaldi Pizzorno ist zweifellos beizupflichten, wenn sie hinsichtlich des strukturellen Gefüges der Rahmenerzählung auf die «eccezionalità dell ‘ ultima giornata rispetto alle precedenti» (S. 42) hinweist. Denn während die an den Tagen davor dargebotenen Novellen nur solche menschlichen Eigenschaften bzw. Fertigkeiten thematisieren, die zur Rettung aus Notlagen oder zur Durchsetzung egoistischer (meist sexueller) Interessen befähigen, präsentiert die letzte «Giornata» die humane Tugend der Großzügigkeit bzw. des Altruismus: Kurzrezensionen 164 «si ragiona di chi liberalmente o vero magnificamente alcuna cosa operasse», wie es am Beginn der Vorrede zum letzten Erzähltag heißt. Die besondere Leistung von Patrizia Grimaldi besteht nun darin, dass sie die mit einer solchen Themenstellung einhergehende erbauliche Wendung des Decameron hin zu einer «speranza del bonum comune» (S. 40) sehr überzeugend und detailliert auf Boccaccios Vertrautheit mit den Schriften eines Aristoteles und Seneca, aber auch eines Thomas von Aquin zurückführt. Bei ihr wird derAutor der Novellensammlung wirklich als poeta doctus erkennbar. Im Untertitel des Buches ist von einer begrifflichen Dualität die Rede, von «Desiderio» einerseits und «Ragione» andererseits. Die Autorin macht nun diese Dualität für die Interpretation der einzelnen Novellen in dem Sinne fruchtbar, dass sie ausgehend von den beiden Begriffen den Blick auf ein für die «Decima Giornata» konstitutives Handlungsmuster richtet: Die Protagonisten dieser Novellen seien nämlich am Beginn des jeweiligen Plots ausnahmslos von einem fragwürdigen «Desiderio» getrieben; dieses «Desiderio» werde jedoch im späteren Handlungsverlauf von ihnen selbst als Verirrung erkannt, so dass sie sich schließlich davon lösen könnten, indem sie ihr Handeln an den Prinzipien der «Ragione» ausrichten. Das geschieht in jedem einzelnen Fall aufgrund der Intervention von besonnenen Ratgeberfiguren, welche mäßigend auf ihre übermütigen Schützlinge einwirken. In dieser Weise wird deren Fehlverhalten vor dem Hintergrund der im Leitthema des zehnten Tages aufgerufenen altruistischen «Magnanimità» zunächst als solches erkennbar gemacht und am Ende überwunden. Dabei geht es in X, 1 und in X, 3 um übertriebene Ehrsucht, in X, 2 um Geiz und Engstirnigkeit, in X, 4 - 7 um unbedachten Selbstverlust an eine deplazierte «passione erotica» und in X, 8 um die Bindung an ein falsch verstandenes Ideal von Männerfreundschaft. Die Novelle X, 9 fügt sich demgegenüber nicht in das von Patrizia Grimaldi entworfene Deutungsschema ein, denn Torello, die Zentralfigur der Erzählung, steht keineswegs im Banne eines ungebührlichen Begehrens: Als er in der Umgegend seiner Heimatstadt Pavia auf eine Gruppe von Reisenden aus dem Orient stößt, erkennt er diese an ihrem vornehmen Gebaren sofort als Edelleute und nimmt sie dementsprechend großzügig bei sich auf. Erst viele Jahre später, als er selbst auf einem Kreuzzug in Gefangenschaft gerät und dem edlen Saladin in die Hände fällt, dem Herrn über die gesamte arabische Welt, erkennt dieser in seinem Häftling jenen höflichen Patrizier wieder, der ihn vor langer Zeit in Pavia so gastfreundlich bewirtet hatte. Nun erweist sich Saladin seinerseits als überaus großzügig und macht es schließlich sogar möglich, dass Torello, der einen wichtigen Termin in seiner Heimatstadt wahrzunehmen hat, mit Hilfe eines Schwarzkünstlers auf einem fliegenden Teppich innerhalb kürzester Zeit dorthin zurückkehren kann. Kurzrezensionen 165 Der zehnte Erzähltag geht - wie alle anderen Erzähltage auch - mit einer von dem schelmisch-sarkastischen Dioneo, «estensione paradossale e iperbolica dell ’ autore» (S. 8), dargebotenen Novelle zu Ende: mit der Geschichte von Griselda. In den Abschnitten über diese Erzählung werden die Grenzen des philosophiegeschichtlichen Ansatzes von Patrizia Grimaldi am deutlichsten sichtbar. Die Autorin von Dopo la peste erkennt in der «crudeltà» (S. 111) des Marchese Gualtieri di Sanluzzo das alles beherrschende Thema der Novelle. Konsequenterweise kann Griselda für sie nicht mehr sein als eine «donna priva di autonomia e autodeterminazione» (S. 112). Es ist ihr zwar bekannt, dass es sich bei dieser rätselhaften Figur, die das Lesepublikum des Decameron seit Petrarca verstörend herausfordert, um einen «personaggio» handelt, «che la critica continua a dissezionare, analizzare e discutere da molteplici punti di vista» (S. 113). Aber sie lässt sich dadurch nicht erschüttern, sondern bleibt ihrer Fixierung auf das Thema der «crudeltà» treu. Damit ignoriert sie auch die überaus komplexe Rezeptionsgeschichte dieser Erzählung, die unter dem Namen der Heldin in ganz Europa bekannt wurde, während derjenige des Ehemanns, der das angebliche Hauptthema der «crudeltà» verkörpert, nur sehr wenigen geläufig blieb. Es kommt hinzu, dass die prominente Position von X, 10 am Schluss des Novellenreigens nicht wirklich erklärbar ist, wenn - wie von Patrizia Grimaldi suggeriert - Dioneos sarkastische Kommentierung des Ganzen tatsächlich von solchem Gewicht wäre, dass sie den erbaulichen Duktus des zuvor Erzählten in sein zynisches Gegenteil verkehren könnte: «Chi avrebbe, altri che Griselda, potuto col viso non solamente asciutto ma lieto sofferir le rigide e mai più non udite prove da Gualtier fatte? Al quale non sarebbe forse stato male investito d ’ essersi abbattuto a una che quando, fuor di casa, l ’ avesse in camiscia cacciata, s ’ avesse sì a un altro fatto scuotere il pilliccione che riuscito fosse una bella roba» (S. 113). Unabhängig von diesem Kommentar, mit dem Dioneo offenbar seiner bisherigen Rolle im Kreis der Erzählerfiguren Tribut zollen will, lässt sich Griselda leicht als exemplarische Idealheldin für den vorgegebenen Leitgedanken der «Magnanimità» deuten. Dioneo hätte sich also in dieser Phase der Rahmenerzählung, wo die Rückkehr nach Florenz und damit zum ‘ Ernst des Lebens ’ unmittelbar bevorsteht, doch einmal an die Spielregeln gehalten und ein heiligmäßiges Beispiel dafür geliefert, was im Hinblick auf die genannte Tugend menschenmöglich ist. Erst durch eine solche Deutung vermag auch das in der Forschung oft besprochene Korrespondenzverhältnis, das die Griselda-Geschichte mit der Eingangsnovelle des Decameron verbindet, einen strukturanalytischen Sinn zu gewinnen: Die Reihe der Erzählungen, die mit dem in I, 1 geschilderten unversöhnten Tod des schlimmsten Sünders begonnen hatte, braucht an ihrem Ende einen ebenbürtigen Kurzrezensionen 166 Kontrapunkt. Insofern liefert Dioneo mit seiner letzten Novelle den einzig passenden Schlussstein, der die symmetrische Architektur von Boccaccios Sammlung angemessen vollenden kann. Peter Ihring Eva-Tabea Meineke: Rivieras de l ’ irréel. Surrealismen in Italien und Frankreich. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2019, 334 Seiten, € 48,00 Bereits die im Alltag geläufige Verwendung des Begriffs ‘ surreal ’ zeugt davon, dass der Surrealismus wohl eine der bekanntesten Strömungen der Avantgarde ist. Dies ist nicht zuletzt der Strahlkraft ihres Anführers, André Breton, zu verdanken. Mindestens den AvantgardeforscherInnen dürfte bekannt sein, dass der Begriff seinen Ursprung bei Apollinaire hat. Auf die berechnende und narzisstische Art Bretons, die Strömung zu definieren und bestimmte Autoren auszuschließen, sich aber dennoch bekannter Ideen zu bedienten und deren Urheber durch Ausgrenzung zu verschleiern, hat bereits 1984 Marie-Louise Lentengre in ihrer Monographie Apollinaire: Le nouveau lyrisme aufmerksam gemacht, in der sie die Beobachtung macht, dass Breton Apollinaires Einfluss auf die Strömung nach dessen Tod strategisch minimalisiert. Das Ergebnis dieser Strategien ist der Eindruck, es handle sich bei dem Surrealismus um eine fest umrissene Strömung - ein Eindruck, der durch die Forschung, welche sich hauptsächlich auf Breton konzentriert, leider immer wieder perpetuiert wird. Es ist daher mehr als begrüßenswert, dass mit Eva-Tabea Meinekes Habilitationsschrift Rivieras de l ’ irréel. Surrealismen in Italien und Frankreich ein Weg eingeschlagen wird, der zeigt, dass der Surrealismus sich nicht nur poetologisch durchaus offener gestaltet hat als oft angenommen, sondern auch nationale Grenzen überschreitet. Das dezidierte Ziel derArbeit ist es, durch eine ausführliche Textarbeit und derAnalyse surrealistischer Bilder zu einem differenzierteren Surrealismusbegriff zu gelangen, und somit die grundsätzliche Frage zu beantworten, ob sich auch bei der italienischen Literatur der Zeit von einem Surrealismus sprechen lässt. Daraus ergibt sich die grundlegende Zweiteilung der Arbeit: Der Blick richtet sich in einem ersten Teil zunächst intern nach Frankreich. Ausgangspunkt bildet die literatursoziologische Feststellung, dass Breton sich besser vermarkten konnte (und wohl auch wollte) als seine literarischen Mitspieler. Die Interpretationen seines Werkes Nadja (1928) und die vergleichende Analyse mit Louis Aragons Le Paysan de Paris (1926) machen deutlich, dass sich dies auch in den Werken selbst abzeichnet, da Breton eher systematischer, Aragon DOI 10.24053/ Ital-2022-0041 Kurzrezensionen 167