Italienisch
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2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2022-0041
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttEva-Tabea Meineke: Rivieras de l’irréel. Surrealismen in Italien und Frankreich. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2019, 334 Seiten, € 48,00
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Katarina Rempe
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Kontrapunkt. Insofern liefert Dioneo mit seiner letzten Novelle den einzig passenden Schlussstein, der die symmetrische Architektur von Boccaccios Sammlung angemessen vollenden kann. Peter Ihring Eva-Tabea Meineke: Rivieras de l ’ irréel. Surrealismen in Italien und Frankreich. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2019, 334 Seiten, € 48,00 Bereits die im Alltag geläufige Verwendung des Begriffs ‘ surreal ’ zeugt davon, dass der Surrealismus wohl eine der bekanntesten Strömungen der Avantgarde ist. Dies ist nicht zuletzt der Strahlkraft ihres Anführers, André Breton, zu verdanken. Mindestens den AvantgardeforscherInnen dürfte bekannt sein, dass der Begriff seinen Ursprung bei Apollinaire hat. Auf die berechnende und narzisstische Art Bretons, die Strömung zu definieren und bestimmte Autoren auszuschließen, sich aber dennoch bekannter Ideen zu bedienten und deren Urheber durch Ausgrenzung zu verschleiern, hat bereits 1984 Marie-Louise Lentengre in ihrer Monographie Apollinaire: Le nouveau lyrisme aufmerksam gemacht, in der sie die Beobachtung macht, dass Breton Apollinaires Einfluss auf die Strömung nach dessen Tod strategisch minimalisiert. Das Ergebnis dieser Strategien ist der Eindruck, es handle sich bei dem Surrealismus um eine fest umrissene Strömung - ein Eindruck, der durch die Forschung, welche sich hauptsächlich auf Breton konzentriert, leider immer wieder perpetuiert wird. Es ist daher mehr als begrüßenswert, dass mit Eva-Tabea Meinekes Habilitationsschrift Rivieras de l ’ irréel. Surrealismen in Italien und Frankreich ein Weg eingeschlagen wird, der zeigt, dass der Surrealismus sich nicht nur poetologisch durchaus offener gestaltet hat als oft angenommen, sondern auch nationale Grenzen überschreitet. Das dezidierte Ziel derArbeit ist es, durch eine ausführliche Textarbeit und derAnalyse surrealistischer Bilder zu einem differenzierteren Surrealismusbegriff zu gelangen, und somit die grundsätzliche Frage zu beantworten, ob sich auch bei der italienischen Literatur der Zeit von einem Surrealismus sprechen lässt. Daraus ergibt sich die grundlegende Zweiteilung der Arbeit: Der Blick richtet sich in einem ersten Teil zunächst intern nach Frankreich. Ausgangspunkt bildet die literatursoziologische Feststellung, dass Breton sich besser vermarkten konnte (und wohl auch wollte) als seine literarischen Mitspieler. Die Interpretationen seines Werkes Nadja (1928) und die vergleichende Analyse mit Louis Aragons Le Paysan de Paris (1926) machen deutlich, dass sich dies auch in den Werken selbst abzeichnet, da Breton eher systematischer, Aragon DOI 10.24053/ Ital-2022-0041 Kurzrezensionen 167 deutlich diffuser, demokratischer und antikapitalistischer schreibe. An beiden Werken arbeitet Meineke die Parameter écriture automatique, image surréaliste, die Gestaltung der Zeit als Kontinuum und als non temps, das grenzüberschreitende Potential der Bilder, das Zusammenspiel von Traum und Realität sowie die Rolle der Religion heraus. Dabei zeigt sich besonders am stärker an der écriture automatique ausgerichteten Surrealismus Aragons, dass die Strömung heterogener und demokratischer war, als es zumeist scheint. Aragon zeigt sich weniger moralisierend und vor allem offener für die Einflüsse italienischer Avantgardisten wie der De Chirico-Brüder und des Futurismus. Damit ist eine Brücke zum zweiten Teil der Arbeit geschlagen, welcher sich wieder in Einzelinterpretatioenen der Tragedia dell ’ infanzia (1919) Alberto Savinios, Barnabò delle montagne (1933) Dino Buzzatis und Il mar delle blatte (1936/ 1939) Tommaso Landolfis widmet. Indem sie die Werke in Hinblick auf dieselben, im ersten Teil etablierten surrealistischen Parameter untersucht, möchte Meineke der Frage nach einem italienischen Surrealismus nachgehen. Die Entscheidung der Autorin, bei den französischen Autoren nicht chronologisch vorzugehen und damit die auf Breton fokussierte Rezeption in der Forschung abzubilden, ist zwar nachvollziehbar, führt jedoch leicht zu dem Eindruck, dass die Verfasserin entgegen ihrer Intention Breton und die auf ihn konzentrierte Surrealismusforschung dennoch als Maßstab nimmt. Schwierig ist auch, dass der französische Surrealismus durch die inhaltliche Anordnung als Primat nahegelegt wird, obwohl sich ja gerade am Beispiel Savinios - dessen Werk deutlich früher entstanden ist als die französischen - zu Recht zeigt, dass sich surrealistische Inhalte auch in Italien schon recht früh nachweisen lassen. Interessant wäre daher auch eine grundlegend systematische, stärker auf Motive und ästhetische Verfahrensweise orientierte Anordnung gewesen, welche die verschiedenen Beziehungen zwischen den Werken noch deutlicher hervorgehoben hätte. Schön an Meinekes Methode ist jedoch, dass noch immer zu wenig beachteten Schriftstellern, gerade den italienischen, viel Raum und Aufmerksamkeit gegeben wird und somit ein tieferer Einblick in die Ausprägung der Phänomene in Italien gewährleistet wird und der Gesamtzusammenhang der behandelten Werke erhalten bleibt. Auf diese Weise kann Meineke nicht nur die surrealistischen Motive herausarbeiten, sondern auch Widersprüche und Differenzen. Gerade in der Interpretation und sorgfältigen Lektüre der Werke liegt die Stärke der Arbeit. Meineke legt in ihren Interpretationen, die sich teilweise an Verfahren des Close Reading anschließen, eine große Sensibilität für Details an den Tag. Dabei berücksichtigt sie auch umfassend die Forschungsliteratur. Gerade der Umstand, dass Meineke nah an den Texten bleibt und diese in den Vordergrund rückt, ermöglicht eine (Wieder)Entdeckung bekannter und noch zu wenig rezipierter Texte in ihrer Beziehung zueinander. Kurzrezensionen 168 Meineke geht bei allen Autoren ähnlich vor, ohne sich einem rigiden Schema der Parameter jedoch methodisch zu unterwerfen. Sie arbeitet sich weniger an Begrifflichkeiten ab, sondern entdeckt die Texte neu, um daraus surrealistische Konzepte abzuleiten. Diese eher induktive Vorgehensweise hat zwar den Vorteil, dass eine zu starre Fokussierung auf den Bretonschen Surrealismusbegriff endlich aufgehoben wird, aber den Nachteil, dass damit der Begriff wieder an Schlagkraft und die surrealistischen Elemente an Schärfe verlieren und die Leserlenkung erschwert wird. Die Aufgabe eines starken Surrealismusbegriffs ist jedoch in jedem Fall zu bevorzugen, denn erst dadurch treten die vielschichtigen Beziehungen zu den anderen Strömungen Frankreichs und Italiens deutlich hervor. Die Verfasserin zeigt - leider vorranging in den sehr interessanten Fußnoten, die zu einem großen Teil durchaus eine Stellung im Haupttext verdient hätten - zahlreiche erkenntnisreiche Bezüge zum italienischen Futurismus und zur Romantik auf, welche das internationale Geflecht und die vielschichtigen Beziehungen der europäischen Avantgarden verdeutlichen. Gerade diese Schnittstellen machen das bearbeitete Thema so interessant und bieten Möglichkeiten zur Weiterarbeit an. Die Öffnung des Surrealismusbegriffs bringt es mit sich, dass die Arbeit nicht alle Forschungslücken füllen kann; viele interessante Aspekte, besonders die zahlreichen Bezüge zu Apollinaire, zu Marinetti, Baudelaire und Leopardi, kann die Autorin nur immer wieder anreißen. Der Wert der Arbeit liegt gerade darin, dass sich neue Fragen und Forschungsanreize ergeben, besonders in der Anbindung an weitere AvantgardistInnen samt ihrem literarischen und persönlichen Dialog miteinander. Interessant wäre im Anschluss an die Arbeit, die Bezüge und Beziehungen auch zu anderen Randfiguren des Surrealismus näher zu beleuchten - etwa über die image-Theorie von Pierre Reverdy. Für diese weiteren Forschungen wird die Arbeit von Eva-Tabea Meineke eine wichtige Grundlage bleiben. Zeigt die Arbeit überzeugend, dass man in Italien von einem Surrealismus sprechen kann? Kann dies gelingen, auch wenn der Autor diese Zuschreibung selbst nicht vornimmt oder, wie die Arbeit im Falle Savinios deutlich macht, diese ironisch hinnimmt? Nicht umsonst wählte Meineke im Titel den Plural «Surrealismen»: Die Verfasserin zeigt mithilfe eines offeneren Surrealismusbegriff durchaus überzeugende Beziehungen der Werke zueinander auf, ohne dabei jedoch die Differenzen zu verschweigen. Löst sich der Surrealismusbegriff dadurch auf ? Dies kann im Anschluss an Meinekes Arbeit und der herausgearbeiteten surrealistischen Parameter verneint werden - vielmehr tritt die Fruchtbarkeit eines pluralen Surrealismusbegriffs zutage. An der Arbeit zeigt sich, dass sich die Avantgarde trotz ihrer Ismen schwer in das Korsett von einheitlichen Strömungen zwingen lässt - und gerade aufgrund dieser Pluralität für die Kurzrezensionen 169 Literaturwissenschaft so interessant ist, die immer wieder versucht, die Phänomene literaturgeschichtlich zu bündeln und klar in Begriffe zu fassen. Der Vorteil von Manifesten ist, dass sie eine klare Leserlenkung und Analysemethode provozieren und vor allem Sicherheit vermitteln, indem theoretische Ausführungen der Autoren mit ihren poetischen Werken abgeglichen werden. Meineke hat sich eine anspruchsvollere Aufgabe gestellt, indem sie die literarischen Texte in den Vordergrund rückt. Insofern lässt sich die Frage, ob es nun wirklich einen italienischen Surrealismus gibt, auch mit Meinekes Arbeit nicht ‘ sicher ’ beantworten. Dies wäre jedoch auch nicht wünschenswert, da es den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Autoren und den nationalliterarischen Voraussetzungen nicht gerecht werden würde. Doch es ist ihr überaus gelungen, wie sie selbst in ihrem Fazit schreibt, bei den Autoren «die Möglichkeiten einer surrealistischen Lesart [. . .] auszuloten.» (S. 309). Katarina Rempe Kurzrezensionen 170
