Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2023-0003
61
2023
4589
Fesenmeier Föcking Krefeld OttÜbersetzung von Jonathan Bazzis: Lascio a voi la body positivity. Io voglio solo essere magro (2021)
61
2023
Claudia Jacobi
Andreina Donnarumma
ita45890021
21 DOI 10.24053/ Ital-2023-0003 CLAUDIA JACOBI UND ANDREINA DONNARUMMA Übersetzung von Jonathan Bazzis Lascio a voi la body positivity. Io voglio solo essere magro (2021) Jonathan Bazzi ist ein italienischer Erfolgsautor, der 2020 mit seinem Roman Febbre für den Premio Strega vorgeschlagen wurde. Lascio a voi la body positivity. Io voglio solo essere magro (2021) wurde am 20. August 2021 in der Zeitung Domani veröffentlicht und ebendort von der Leserschaft überaus kontrovers diskutiert. Bazzi präsentiert die ironische Distanzierung des autodiegetischen Erzählers von der sog. Body Positivity- Bewegung und seinen damit nicht zu vereinbarenden, ‘politisch inkorrekten’ persönlichen Wunsch nach einem ‘dünnen’ Körper. Dieses rational nicht kontrollierbare Körperideal steht für den Erzähler selbst im Gegensatz zu seinen identitätspolitischen Bemühungen um den Abbau von Vorurteilen sowie diskriminierenden Körperstereotypen. Angesichts der Abweichung seines persönlichen Ideals von den Erwartungen seiner Community stellt sich beim Erzähler ein durchaus unbehagliches Gefühl ein, dem der Text auch eine Stimme verleiht. Gleichzeitig erscheinen ihm die Verfechter der Body Positivity als moralisierender ‘Chor der Gerechten’, dessen Grundsatz der Toleranz für ‘alle’ Körperformen angesichts seines Wunsches nach körperlicher ‘Auszehrung’ an seine Grenzen stößt. 1 Der Text erscheint als stream of consciousness , der die assoziative Gedankenverkettung des Protagonisten dokumentiert. Dabei erinnert die elliptische Schreibweise immer wieder an die verkürzte Kommunikation in den sozialen Netzwerken, die im Text selbst durch die WhatsApp-Gespräche des Protagonisten inszeniert wird. 2 Die deutsche Übersetzung versucht durch sehr kurze, abgehackte Sätze einerseits und lange Ausschweifungen andererseits den Gedankenstrom des Protagonisten originalgetreu wiederzugeben. 1 Vgl. die ausführliche Analyse von Bazzis Gedankenstrom in: Claudia Jacobi: Narrative der Essstörung im zeitgenössischen Film und der Erzählliteratur der Romania . Berlin/ New York: de Gruyter 2024 (im Druck). 2 «scrivo ai miei amici su WhatsApp: ecco così questo è il corpo che voglio. Che voglio e non ho mai avuto, altra, diversa fisionomia la mia, normale, anzi tozza per i miei parametri. leri, allo specchio, al mio ragazzo: ho il fisico di un uomo degli anni Sessanta, Marcello Mastroianni, mio nonno da giovane». Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity. Io voglio solo essere magro. In: Domani (20.08.2021). https: / / www.editorialedomani.it/ idee/ cultura/ body-positivity-corpi-bellezza-immagine-nt6005li [letzter Zugriff: 10.09.2023]. 22 Ich überlasse euch die ‘Body Positivity’. Ich will nur dünn sein. Ich möchte dünn sein. Jetzt, sofort. Ich denke mir, ich habe lange genug darauf gewartet, während ich langsam eine Kaffee-Granita mit einem recyclebaren Löffel zu mir nehme, die heute mein Mittagessen ersetzen wird. Heute und für den ganzen Urlaub, heute und für den ganzen Sommer, nehme ich mir erneut vor, heute, morgen und für den Rest meines Lebens, die Schäden einzugrenzen und den Teufelskreis, dem ich zum Opfer gefallen bin, zu durchbrechen. In dem Interview, auf das ich gestern gestoßen bin, sagte der Guru der Langlebigkeit, dass er immer dann, wenn er Gefahr laufe zuzunehmen - er pendelt zwischen den USA und Italien, und gerade hier in Italien muss er sich in Acht nehmen - eine Mahlzeit durch einen gezuckerten Kaffee ersetze. Nur eine Mahlzeit weniger, erklärte er, sei das Einfachste, was man tun könne, um garantiert abzunehmen. Er empfahl allerdings, sich trotzdem mit an den Esstisch zu setzen und am sozialen Ritual teilzunehmen: Die Anderen essen und ihr trinkt Kaffee. Dein Wille geschehe, Genie der Selbstauszehrung: Ich verbrenne meinen Appetit als ehrerweisende Puja 3 deiner leuchtenden Gebote, die in der Lage sind, den Weg zu meiner gewünschten Körperform zu erhellen. Einzig und allein diese Form ist es, die mich nicht beschämt für die Materie, die ich bewohne, für den Platz, den ich einnehme. Seit mehr als einem Monat habe ich angefangen, die Kalorien, die ich zu mir nehme, zu zählen, alles mit der kleinen Küchenwaage auszuwiegen und dann mithilfe von Tabellen zu berechnen. Ich schreie meinen Freund an, wenn er darauf besteht, Öl zum Würzen oder Braten zu verwenden - mach das direkt in deinen Teller, ab morgen kocht jeder für sich. Das Gefühl der Kontaminierung und somit das Scheitern bei jedem Bissen Focaccia und jeder Gabel Spaghetti. Wir leben im Zeitalter der Body Positivity, im Zeitalter der sakrosankten Befreiung der Körper, im Zeitalter der Revision des ästhetisch-somatischen Kanons: Okay, wir sind gut so wie wir sind, alles okay, okay, wir sind, ihr seid: Ihr, ihr seid gut, so wie ihr seid; ob groß, klein, jung, alt, üppig, füllig oder erschlafft, alle perfekt, eine Armee wunderbarer riesiger Wesen, stolze Sammler unverbrauchter Kalorien. Aber ich, ich möchte dünn sein, ich möchte mir den Titel ‘Strich in der Landschaft’ oder ‘Schlank wie eine Gerte’ durch meinen schmalen Körperbau wirklich verdienen. Vorher vierundsiebzigeinhalb Kilo, jetzt neunundsechzig, aber das ist nicht genug: Fünfundsechzig sind das Ziel, und dann noch weniger: Vierundsechzig, dreiundsechzig, das Gewicht, mit dem ich noch prahlen konnte, als ich fünfund- 3 ‘Puja’, aus dem Sanskrit für dt. ‘Verehrung’, ‘Huldigung’, ‘Ehrerweisung’, ‘Anbetung’. Die ‘Puja’ wird im Buddhismus und Hinduismus im Idealfall täglich zur Huldigung von Gottheiten oder zu Ehren von Gästen und Ereignissen durchgeführt. Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity Claudia Jacobi und Andreina Donnarumma 23 zwanzig Jahre alt war und bei meinen Mitstreitern mit einer schnellen Verdauung und meinem stetigen Bewegungsdrang auffiel, ich übte mich in den energischsten Yoga-Varianten, dem knallharten Ashtanga, Madonnas Yoga, Sprünge, Verrenkungen, Akrobatik im Namen von Shiva und Patanjali. Ich habe es selbst praktiziert und auch im Fitnessstudio unterrichtet: Zwei, drei Unterrichtsstunden täglich, manchmal auch eine direkt nach der anderen. Vierundsechzig Kilo, das Ziel, und einmal erreicht, vielleicht auch etwas weniger. Sechzig Kilo auf einen Meter achtzig Höhe. Zu dünn, untergewichtig, ich höre schon die Kommentare von Freunden, Verwandten und Lesern - wenn ihr gestattet, hier entscheide ich. Ich möchte diese Taille und diese Hüften verändern, die denjenigen einer Südamerikanerin, einer Bauchtänzerin gleichen - der für Frauen typischen Fettverteilung - die Masse verringern und immer weniger Platz einnehmen. Eine Gerte, lasst mich wieder eine Gerte sein. Beben vor Freude, als mein Freund neulich seine Finger auf mein Becken legte und sagte: Man kann die Knochen schon leicht sehen. Wieder gertenschlank sein Ich steige auf das schwarze Glas der digitalen Waage, die ich letzten Monat extra auf Amazon bestellt habe, um die Schwankungen meines Gewichts zu überwachen und meine Anstrengungen zu bemessen, ich steige drei, vier Mal am Tag drauf, oder öfter: Einmal pro Stunde, um das Gewicht in den einzelnen Stunden vor und nach den Mahlzeiten, dem Stuhlgang und dem Sport, einem ausgiebigen Schwitzen, zu verstehen. Ich bete, halte den Atem an, warte auf das Ergebnis, die Prophezeiung, die methylenblauen Zahlen fällen das Urteil: Gerettet oder vernichtet, lebendig oder missglückt. Alle Körper sind in Ordnung, richtig, aber meiner muss dünn sein, leicht, strichförmig, ein Luftkörper, schwerelos. Ein geschmeidiger und elastischer, ein dehnbarer und schillernder Körper, der sich biegt, verflechtet, sich dehnt und sich selbst zusammenzieht, dieser Körper soll ein einziger winziger Punkt in der Welt werden, klitzeklein und kompakt. Es ist keine Entscheidung, sage ich mir und wiederhole: Jeder sollte das Bild, das er von sich selbst hat, respektieren, jeder sollte versuchen diesem Bild gerecht zu werden, oder ist das falsch, korrigiert mich, wenn ich falsch liege. Der Chor der Gerechten und der Experten antwortet: Aber es sind die äußeren Einflüsse, die diese Vorbilder festlegen, die Gesellschaft bringt uns dazu, uns selbst zu hassen, wenn wir uns von ihnen distanzieren, und wir sind trotzdem abhängig davon: Einer von hunderten, tausenden Köpfen des Monsters, das sich Stigmatisierung nennt. Und weiter: Vielleicht hast du ein Problem, warum denkst du nicht über eine Psychotherapie nach. Claudia Jacobi und Andreina Donnarumma Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity 24 Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity Claudia Jacobi und Andreina Donnarumma Schließlich: Manche Träume sind einfach nicht gut, ungesund. Einige Träume sollte man auslöschen. Ich sage dir, was du träumen sollst. Darauf antworte ich mir selbst, da das Gespräch ja rein innerlich ist, ein authentischer monologischer Wirbelsturm: Und wenn es so wäre? Ohne Konflikt gibt es keine Geschichten, ohne Konflikt verändert sich nichts, Stillstand. Und ich möchte mich bewegen und schaffen, erschaffen, vor allem meine Figur formen, meinen Avatar, das sichtbare Abbild meines inneren Ichs. Identität als Spielzeug, als herrliche Marionette. Tief in mir drin fühle ich mich dünn, rank und schlank, ein schmächtiger, ewig gleich bleibender kleiner Geist. Niemals Mann, niemals Erwachsener, ich bleibe in meiner kindlichen Form verankert. In einem Vorwachstumsstadium, noch nicht geschlechtsreif. Und es ist gerade hier, wo ich - der für gewöhnlich für Erzählwerke und vergangene Erfahrungen, für starke Positionen und Interviewtitel, für Bemühungen um eine neue Zeit der Befreiung von Vorurteilen und für eine neue Sensibilität in Identitätsfragen bekannt ist - gerade hier, erwische ich mich, wie ich denke: Wenn ich so werde, ist es aus, so dick, und ich werde dem ein für alle Mal ein Ende setzen. Übertreibung, natürlich, ich rede nur so daher, man nennt das: Liebe zur Emphase, plump bin ich von Natur aus und schon seit meiner Geburt, Arbeiterkind, Sohn von Leuten, die nicht mal die Schule abgeschlossen haben. Betonen wir nochmal, dass alle Körper gut sind, so wie sie sind. Alle außer meiner. Für welchen ich eine Verwandlung fordere, nach dem immer präsenten Vorbild der Anime-Hexen, mit denen ich aufgewachsen bin. So stehe ich vor dem Spiegel, hebe das T-Shirt an und vergleiche den Umfang meines Beckens mit dem meiner Schultern, ich empfinde Ekel für die undefinierte Birnenform meiner Silhouette, ich drücke das überschüssige Fleisch weg, straffe alles und sage: Genau so, so soll es aussehen. Ausleeren und halbieren. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um von der günstigeren Perspektive zu profitieren, dann drehe ich mich zur Seite und ziehe den Bauch ein. Wie lange dauert es wohl, bis das kleine Fettpolster unter dem Bauchnabel verschwindet? Ich träume von einem Biss, der es mir abnimmt, von einem guten Gott, der meinen Bauch auffrisst. Ich mache ein Ganzkörperfoto, schicke es meinen Freunden und schreibe: Wenn nur mein ganzer Körper so wäre wie meine Knöchel. Gleicher Durchmesser. Auch wenn ich die Welt der Fitness und ihre Anhänger hasse, habe ich mich im Fitnessstudio angemeldet: Jeden Morgen steige ich aufs Laufband und das erste Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass mein Herz zu platzen droht, die Hände auf den Flächen des Herzschlagzählers: Frequenz zweihundert, Aneurysmarisiko, aber da geht noch mehr. Ich widme mich gezielten Übungen, die meine Gliedmaßen zwingen, die überwältigende Kraft der Schwerkraft, mit Hilfe von Gewichten und neu er- 25 Claudia Jacobi und Andreina Donnarumma Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity fundenen Geräten, die ungerechtfertigterweise wohlwollende und spielerische Namen haben, zu ertragen - das Geld, das ich mit den Rechten an meinem Buch verdient habe, investiere ich in einen Personal Trainer namens Stefano, zu dem ich, ohne es auszusprechen, sage: Rette mich vor diesem Fluch der Vermehrung der Fettmasse, vor der Wassereinlagerung, vor dem Fast Food , dem ich zum Opfer falle, rette mich, oh, Retter in der Not. Couchtage Die Pandemie hat einen Trend verschärft, der sich bereits seit einigen Jahren abzeichnete: Wie viele Tage begannen und endeten seit Anfang 2020 mit dem Herumlungern auf der Couch, dem Essen, nur um die nötige Energie zum Aufstehen zu haben; absolut unbeweglich bleiben und dann wieder zurück ins Bett gehen. Es ist so, ich bin wie Quecksilber: Ich bin Mitte Juni geboren, unter dem Sternzeichen Zwilling, ob ihr nun an die antike Weisheitstradition, ein grenzenloses Durcheinander von Archetypen und Symbolen, die man volkssprachlich auch Astrologie nennt, glaubt oder nicht, Merkur ist mein Beschützer, der Gott der Jugend, der kontinuierlichen Bewegung, der Kobold des Tierkreises. Merkur ist der kleinste Planet im Sonnensystem. Gianmarco Tamberi, auch er ist Zwilling, springt unglaublich biegbar, wunderbar gewölbt und gewinnt die Olympiade, er gewinnt und ich schreibe meinen Freunden auf WhatsApp: Genau so, das ist der Körper, den ich will. Der Körper, den ich will und niemals hatte, mein Körper ist anders, ein anderer Körperbau, normal, nach meinen Maßstäben fast schon klobig. Gestern sagte ich zu meinem Spiegelbild, zu meinem Freund: Ich habe den Körper eines sechzigjährigen Mannes, Marcello Mastroianni, mein Opa, als er jung war. Es handelt sich keineswegs um eine einfache, allgemeine Ablehnung, einen Hass auf Fett: Ich will auch nicht muskulös sein, für mich gehören Dicke und Bodybuilder zur selben Kategorie. Das wiederhole ich jedes Mal, wenn ich die Möglichkeit dazu habe. Und zu dieser Kategorie gehöre ich nicht. Zum Beispiel unter den Homosexuellen, mit denen ich zu tun habe und denen ich in den sozialen Medien folge, ist die Hypertrophie, die durch das Heben schwerer Gewichte entsteht, gerade ‘in’: Sie schwellen durch Crossfit an, schließen sich stundenlang in diesen schweißtriefenden Schuppen ein, träumen davon, Stiere, Minotauren oder Abbilder Thors zu werden, um in den Dating-Apps besser dazustehen, und das nur, weil unsere Vorstellungswelt, was auch immer die Leute behaupten, in den 70er Jahren stecken geblieben ist und der visuellen Vergewaltigungskultur verbunden ist, die durch Online-Pornos verbreitet wird. Merkur, Peter Pan, vor allem eigentlich Tinker Bell, Glöckchen: Es gibt 26 viele Möglichkeiten, sich selbst zu definieren, und ich möchte den Körper eines ephebischen Jünglings haben, aber ich habe die falschen Gene. Die maurischen Vorfahren aus Sizilien - väterlicherseits - haben mir als Geschenk Schenkel und Hintern à la Karneval von Rio hinterlassen. Daher ist der einzige Ausweg, Hartnäckigkeit ohne Ausnahmen und Grauzonen, die eiserne Strenge, die die Übermacht des Appetits und vor allem das Verlangen hemmt, mein Gesicht in 300 Gramm Nudeln zu versenken, die auch noch in Öl, Soßen und veganem Käse getränkt sind (also immer noch Öl und geronnenes Pflanzenfett). Ideale festlegen Der Körper anderer Leute geht euch nichts an, niemals verurteilen, sagt man, habe ich gesagt, höre ich mich sagen: Und da liegt auch mein Fehler, meine Widersprüchlichkeit. Denn wenn ich Wünsche und Träume über das Aussehen, mein eigenes Aussehen, festlege, lege ich dann nicht selbst ein Ideal fest? Und mehr noch: Eine Vorgabe wie die Dinge sein sollten. Nein, beruhige ich mich, beruhige ich euch: Das gilt für mich, nur für mich. Ich bin es, der die fünfundsechzig Kilo erreichen will und stattdessen immer noch neunundsechzig Kilo wiegt; ich, der sein Spiegelbild betrachtet, die Pölsterchen auf Beckenhöhe, nach ihnen greift und sie immer fester zudrückt: Das muss weg, flüstere ich. Schneiden, Saugen, ein großer mechanischer Mund, der alles einsaugt. Genug mit den Kohlenhydraten, kündige ich den mir nahestehenden Personen an, ganz viel Gemüse, die Rettung erhebt sich uns gegenüber wie ein Wasserfall aus fliegendem Gemüse. Genau dreißig Gramm Nudeln verstreut in einem Topf voll Broccoli oder Zucchini oder gefrorenem Spinat, die in kochendem Wasser wiederbelebt und mit einem Hauch Zitrone serviert werden, solange bis die Kleidung nicht mehr spannt und zieht, solange bis das beginnende Explosionsgefühl der überquellenden Hosen nachlässt - ja, ich bestehe darauf, immer noch Kleidergröße S zu tragen, in die Kleidung meines Freundes reinzupassen, der fast zehn Jahre jünger ist als ich. Vor der Abreise in den Urlaub, der letzte Zusammenbruch in der unterirdischen Umkleidekabine der Galleria Vittorio Emanuele , das An- und Ausziehen der auserwählten Badekleidung für die Strandqual: Nachdem ich mich von der Größe S verabschiedet habe, rutscht auch M nicht gut, sodass ich verärgert und bereit, mit meinen Fäusten den Spiegel zu zerschlagen, der Schande nachgebe: Ich nehme L, die einzige Größe, die die schreckliche Anhäufung in der Körpermitte nicht zusammenpresst. Die Pobacken sind das Problem, bestätige ich: Sie nehmen Platz weg. Mein Freund Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity Claudia Jacobi und Andreina Donnarumma 27 meinte in letzter Zeit öfters: Du solltest Twerken lernen, oder: die Kleidung von Kim Kardashian würde dir wirklich gut stehen. Sie sagen, wir leiden an einer körperdysmorphen Störung, zwängen uns in eine Ecke und blockieren unsere Sinnsuche, grenzen uns ein und identifizieren uns mit einem hübschen Etikett, einer pathologischen Definition, aber die Wahrheit ist, dass das die Geschichte Vieler ist, weil das Verlangen von Natur aus mehr will. Das Ende der Unzufriedenheit ist das Ende des Verlangens. Man sollte sich lieben, so wie man ist, sagt man heute, also sich zufriedengeben, die Schönheit entdecken, die bereits vor unseren Augen liegt, aber das Verlangen ist unbezwingbar, und wir sind die, die nicht aufhören mehr zu wollen, etwas Besseres zu wollen. Wir sind die, die sich nicht zufriedengeben, mit dem was sie haben, sondern danach streben, sich zu vollenden, zu wachsen, sich zu verdoppeln, zu entfernen, zu implantieren, zu färben, zu erneuern, zu erheben, zu formen, wir sind die neuen Körper zum Erneuern, in Gärung, nie zufrieden, wir Körper in ewiger Umwandlung, für sanfte oder quälende Träumereien, Mimesis, die Kopie eines bereits erblickten, erfundenen oder der Phantasterei entsprungenem attraktiven Modells. Wir, die Lächerlichen und Übertriebenen, die Kalorienarmen und operativ Erneuerten, wir Gummipuppen mit Schlauchbootlippen, wir Hungrigen mit Implantaten unter der Haut, wir Unfähigen, uns dem Strom der bedingungslosen Selbstliebe hinzugeben. Wir Hyperaktiven, Unnachgiebigen, Fixierten, Übergroßen und immer mehr Versteckten, wir, die sich darauf stürzen, zusammenzukommen und unsere Farben zu verändern. Wir, die bezweifeln, dass die guten Nachrichten uns retten werden, wir die sich wünschen, die verschiedenen Stile der Inkarnation zu respektieren, sich aber gleichzeitig wünschen, im Mittelpunkt unserer selbst zu stehen. Juni, Juli, der August ist da: Schwach, unfähig, alleine schaffe ich das nicht, oder das, was ich tue, ist einfach nicht genug. Die ersten Kilos purzelten nur so dahin, aber dann kamen die Einladungen zum Mittagessen bei meiner Mutter und meiner Oma und entsprechende Resteversorgung für die kommende Woche, eine Verschwendung einfach alles wegzuwerfen, ein Gedanke, der auch mir durch den Kopf geht, Unfähigkeit, mich im Tagesfluss zu beherrschen. Also gehe ich ins Netz und tippe in die Google-Suchleiste, die magische Quelle, mit der ich Dinge immer löse, gelöst habe, oder verschlimmert habe, in jedem Fall aber die Situation verändert habe. Ich tippe: Diätologe (? ), Mailand, Ernährungsberater. Und in den nächsten zwei Stunden schaue ich mir Profile von Fachleuten an, die es ablehnen, Diäten zu verschreiben, und stattdessen ein gesundes und ausgewogenes Verhältnis zum Essen versprechen oder erklären, interdisziplinäre Ansätze vorzuziehen: Claudia Jacobi und Andreina Donnarumma Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity 28 Wenn ein Patient auffällig ist, behauptet einer von ihnen, schicke ich ihn als erstes zum Psychologen. Ich stelle mir vor, wie ich die Praxis dieser aufgeklärten Lehrer des guten Essens betrete und sie mich auslachen, da ja bei mir gar kein echtes Übergewicht vorliegt. Also streiche ich das und fahre mit der Suche fort, immer weiter und weiter. Bis ich auf sie stoße, die ich zunächst für eine Slawin, eine Rumänin gehalten hätte, aber sie ist Griechin: Eine Ernährungsberaterin wie aus dem Bilderbuch, ein Show-Girl, an die sich die berühmte Beauty-Guru aus Venetien wandte, um abzunehmen. Erbarmungslos und hart, auf den ersten Blick erkennbar: Die ist böse. Tochter des Saturn, die Strenge der Athene. Ich verliere mich in ihren Instagram-Videos, eine Reihe von Inhalten mit einem ideologischen Bezugssystem, das in den 1990er Jahren hängengeblieben ist, genau das, wonach ich suche: Was man nicht zum Frühstück essen sollte, wenn man abnehmen will/ Fünf Fehler, an denen alle Diäten scheitern/ Fünf Dinge, die man im Urlaub nicht tun sollte - oft sieht man Leute, bei vierzig Grad unter dem Sonnenschirm sitzen, die genüsslich Chips, Cracker, gemischte gebratene Lebensmittel oder Sandwichs mit Aufschnitt verzehren, Blick in die Kamera, spöttischer Ton. Als mein Freund ihre ultradünnen Arme sieht, die hinter dem Schreibtisch zum Vorschein kommen, sagt er: Die ist ja magersüchtig. Ich speichere ihren Kontakt in meinen iPhone-Notizen, Website, E-Mail-Adresse. Im September, sobald die Sommerferien um sind, vereinbare ich einen Termin. Jonathan Bazzi: Lascio a voi la body positivity Claudia Jacobi und Andreina Donnarumma