Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2023-0004
61
2023
4589
Fesenmeier Föcking Krefeld Ott«Un goloso vi sarebbe stato male»
61
2023
Roberta Colbertaldo
L’articolo elabora il concetto di ‘utopie comiche’ attraverso lo studio delle tecniche compositive di Ortensio Lando e Anton Francesco Doni, poligrafi attivi nell’ambiente delle stamperie veneziane a metà del sedicesimo secolo. In primo luogo, viene delineato il concetto di ‘utopie comiche’ sullo sfondo delle caratteristiche della cuccagna e del mondo alla rovescia e viene descritta la tecnica ‘combinatoria’ dei due autori. In seguito, vengono analizzati due testi che per motivi diversi si possono accostare al genere dell’utopia. Si tratta, in particolare, del Commentario delle più notabili & mostruose cose d’Italia & altri luoghi, di lingua Aramea in Italiana tradotto, con un breve Catalogo dell’inventori delle cose che si mangiano & delle bevande ch’oggidi s’usano di Ortensio Lando e il ‘Mondo savio e pazzo’, capitolo memorabile dei Mondi di Anton Francesco Doni. Entrambi i testi rielaborano il modello di Tommaso Moro facendo emergere contraddizioni e paradossi che il modello sembra celare. Particolare attenzione viene rivolta al potenziale comico del motivo alimentare nella caratterizzazione di una società ideale, sia in relazione alla produzione e approvvigionamento del cibo che al suo consumo.
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29 DOI 10.24053/ Ital-2023-0004 ROBERTA COLBERTALDO «Un goloso vi sarebbe stato male» Überfluss und Mäßigung in den ‘komischen Utopien’ von Ortensio Lando und Anton Francesco Doni 1 1 ʻKomische Utopien’ In den literarischen Utopien der Frühen Neuzeit wird die Idealvorstellung einer friedlichen Gesellschaft hauptsächlich als Folge der gerechten Regierung sowie des guten politischen und sozialen Systems gedacht, das seinen Ausdruck auch in einer entsprechenden Stadtarchitektur findet. 2 Was die materiellen Bedürfnisse betrifft, so soll das Ziel nicht deren tatsächliche restlose Erfüllung sein: Vielmehr führen bewusster Verzicht und Entsagung zur wahren Befriedigung. 3 Anders verhalten sich die ‘komischen Utopien’, die Marcella Farioli in Gestalt des Schlaraffenlandes und der verkehrten Welt identifiziert hat. Im ersten Fall bilden der natürliche Überfluss an Nahrungsmitteln, die Verfügbarkeit von zubereiteten Speisen und gefertigter Kleidung, die sexuelle Freiheit und der Überfluss des Geldes den Kern der Beschreibung. Von der besonderen Architektur, die in der literarischen Utopie ein symbolischer und konstitutiver Teil des Aufbaus der idealen Stadt ist, bleibt im Schlaraffenland lediglich die Eigenschaft einzelner aus Süßigkeiten bestehender Häuser. Die literarische Form der verkehrten 1 Die Recherche für diesen Aufsatz sowie seine erste Präsentation sind im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Venedig zwischen November 2019 und April 2020 entstanden. Dafür sei an dieser Stelle dem Deutschen Studienzentrum für die finanzielle Förderung und insbesondere der damaligen Direktorin PD Dr. Marita Liebermann für den Austausch und die stete Unterstützung, die sie trotz der lokalen und globalen Krise in dieser Zeit fortwährend gewährleistet hat, herzlich gedankt. Die Ausarbeitung des Aufsatzes erfolgte im Rahmen des Projekts ‘Fette Welten. Utopische und anti-utopische Diskurse über Essen und Körper in der Vormoderne (Frankreich, Italien)’, geleitet von Prof. in Dr. Christine Ott am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe- Universität Frankfurt und gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - 431101838. Ich möchte ferner Nikolaus Gatter für das sorgfältige Lektorat und die sprachliche Beratung und einem*r anonymen Gutachter*in von Italienisch für seine*ihre umsichtige Lektüre und seine*ihre konstruktiven Vorschläge danken. 2 Vgl. Scalvini 2008, S. 123. 3 Als Überblick zum Thema des Essens und der Tischsitten in den utopischen Texten vgl. Pracca 2011. 30 Welt bezieht sich ihrerseits auf eine bestimmte, etablierte Gesellschaftsstruktur und auf entsprechende Hierarchien, die sie durch Inversion widerspiegelt und somit verspottet. 4 ‘Komische Utopien’ finden auch in der frühen Neuzeit ihren Weg: Sie parodieren die politische und gesellschaftliche Utopie sowie die medizinisch-humoralpathologischen Traktate, entspringen aber auch der Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Gesellschaft und der polemischen Absicht der Autoren. Es gelingt ihnen zum einen, durch Verweise auf aus dem Alltag bekannte Objekte und Strukturen Satire zu erzeugen und auf eine Krise des Wissens zu verweisen, andererseits eröffnen sie einen Raum für literarische Experimente, die neue Bilder und Assoziationen schaffen. Dies trifft insbesondere auf Autoren - die sogenannten poligrafi - zu, die insofern ein antiklassizistisches Programm verfolgen, als sie in unterschiedlicher Art und Weise «epistemologische Rahmen in Frage [stellen], ohne dass der Entwurf eines alternativen Rahmens für notwendig befunden wird». 5 Obwohl ihre Werke im 16. Jahrhundert zur Zeit des florierenden venezianischen Buchdrucks besonders verbreitet waren, entstand daraus kein homogenes Textkorpus. Topoi , Figuren und Strukturen der utopischen Literatur wie die Reisen zu unbekannten Ländern, die dialogische Gestaltung oder das Streben nach einer besseren Welt werden fragmentiert und umgedeutet. Klassische, mittelalterliche und humanistische Vorbilder werden dabei mit raffinierten rhetorischen Mitteln wieder aufgewertet. Grundelement dieser Werke sind in mehreren Fällen die spielerischen Züge. Insbesondere die Paratexte wie Einleitungen und Rahmenerzählungen geben Hinweise auf den ludischen Charakter der Werke. Außerdem wird eine besondere makrostrukturelle Figur, diejenige der accumulatio , als ordnungsstiftende Struktur eingeführt; diese erzeugt in mehreren Werken den Anschein einer vollkommenen und erschöpfenden Darstellung des betrachteten Objekts, wobei die Spannung zwischen ernsthafter Wissbegierde auf einer Seite und varietas und Vielfältigkeit auf der anderen Seite deutlich ist. Die Kombination dieser Elemente - spielerisches Schreiben und Widersprüche, die paratextuell hervorgehoben werden, sowie umfassende Aufzählungen - charakterisiert einen Großteil dieser Texte. Ein gutes Beispiel dafür ist Anton Francesco Donis Libraria , die sich als Verzeichnis der bis dahin existierenden Bücher präsentiert. Dieses wird «den Nicht-Lesenden» gewidmet. 6 Handelt es sich dabei um eine rein ironische Widmung, oder konfrontiert 4 Vgl. dazu Farioli 2008, S. 41-46. Obwohl Farioli sich auf die griechische Tradition bezieht, erweisen sich ihre Überlegungen zur Abgrenzung der klassischen und der komischen Utopie auch für die Analyse der humanistischen Wiederentdeckung der Klassiker im 16. Jahrhundert als anwendbar. 5 Vgl. Friede 2012/ 2013, S. 20. 6 Vgl. Procaccioli 1994, S. 19. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 31 uns der Erzähler dadurch mit der Besonderheit und der Neuigkeit der bibliographischen Auflistung, die definitionsgemäß auf Inhalte nicht eingeht? Die imaginären Städte und Welten, die sich in den Werken der poligrafi vermehren und pluralisieren, bieten also keine einheitliche politische oder soziale Alternative zur bestehenden Realität an. Trotzdem zeichnen sie in den beiden hier ausgewählten Beispielen von Ortensio Lando (1510-1558) und Anton Francesco Doni (1513-1574) zum einen ein polemisches Gegengewicht zur damaligen Gesellschaft, und zum anderen eine ideale Welt, die innerhalb einer ‘irrsinnigen’ Gesellschaft durch die Überschneidung zweier in gewisser Weise ihrerseits irrsinniger Perspektiven entsteht. Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Motive des alimentären Überflusses und der Mäßigung zu untersuchen, die sich in solchen Texten ausmachen und im weitesten Sinne der ‘komischen Utopie’ zuordnen lassen. Wo finden sie ihren Platz? Inwieweit dienen sie der Herausbildung von alternativen Idealen? Verraten sie in irgendeiner Weise die Positionen einer communis opinio über einen anständigen Lebensmittelkonsum und den angemessenen Wunsch nach Überfluss? Und was haben sie damit zu tun? Kontern sie diese provokativ? Entspricht das Brechen der diätetischen und sozialen Norm dem Brechen einer literarischen Norm? Terence Cave hat in seiner wichtigen Studie The Cornucopian Text ein ähnliches literarisches Verfahren bei französischen Autoren der Frühen Neuzeit untersucht. Er geht von der Vermutung aus, dass die copia , d.h. die Abschrift sowie die Fülle, insgesamt als metaphorische Darstellung dieser Texte begriffen werden kann: «the resistance of alien fragments within a new formal context tends to disrupt the movement of the text towards a stable meaning , and thus draws attention to the mode of operation rather than to the product of the writing system. As a corollary, this same phenomenon blocks the possibility of full thematic closure. The major French Renaissance texts are characteristically reflexive, dialogic, and open-ended. Written in the shadow of an impossible ideal, they proliferate in order to question themselves and to lay bare their own mechanisms. Thus they inevitably represent copia , or the cornucopia, as a centrifugal movement, a constantly renewed erasure of their origins.» 7 Durch das Multiplizieren der Bedeutungen wird der Versuch erschwert, dem Text eine klar definierte Aussage zuzuweisen, die der Unabgeschlossenheit dieser Texte nicht gerecht würde. Das Verfahren - «the mode of operation» - ist besonders schwer zu fassen, weil die Darstellung der Vielfältigkeit, der Varietät und der Fülle Bestandteil dieser idealen Welten ist. Lando und Doni, die sich in den venezianischen Druckereien betätigen, und für die eine «besondere Posi- 7 Cave 1979, S. 182 (meine Kursivierung in den ersten Zeilen). Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 32 tionierung an der Grenze zwischen hoher Literatur und Konsumliteratur» 8 charakteristisch ist, rekurrieren auf bildreiche Darstellungen von Essgewohnheiten und exzessiver Gier sowie der Verteilung der Lebensmittel und besonderer Zubereitungen, um sich von den Normen des rinascimentalen Klassizismus abzuheben. An welchen Stellen, mit welchen Effekten und spezifischen Funktionen solche Motive Verwendung finden, wird in den folgenden Seiten am Beispiel von zwei bedeutenden Werken aufgezeigt. 2 Venezianische ʻPlagiatskunst’ im 16.-Jahrhundert Obwohl die ideale Welt bei den poligrafi keine politische Struktur enthält, darf sie nicht nur als spielerische Darstellung von Wunsch und Fantasie verstanden werden. Das Interesse dieser Autoren an Morus’ Utopia ist ein deutliches Zeichen für deren Rezeption vor dem Hintergrund der Gesellschaftskritik im Umfeld der venezianischen Kultur. Doni und Lando sind nicht nur aufgrund ihres bereits erwähnten gemeinsamen Arbeitsumfelds bei den venezianischen Verlagen und aufgrund ihrer ähnlichen ‘kombinatorischen’ Arbeitsweise - eine echte ‘Plagiatskunst’, wie Paolo Cherchi sie in seinem Buch Polimatia di riuso. Mezzo secolo di plagio (1539 - 1589) erläutert 9 - nebeneinander zu betrachten. Den beiden Autoren ist bekanntlich die erste italienische Übersetzung von Morus’ Text zu verdanken. 1548 wurde sie von Lando angefertigt und von Doni verlegt. Die Geschichte ist bekannt: Anfangs vermutete man hinter dem Pseudonym des Übersetzers den Herausgeber Anton Francesco Doni, bis eine Erklärung von Francesco Sansovino aus dem Jahr 1561 entdeckt wurde, die verriet, dass es sich um Lando handelte. 10 Die Familienähnlichkeit ihrer Texte mit dem der Gattung 8 Spila 2004, S. 197: «particolare natura di frontiera tra letteratura alta e letteratura di consumo». Sofern nicht anders angegeben, wurden die Übersetzungen von der Verfasserin vorgenommen. 9 Paolo Cherchi fände die Unterscheidung zwischen plagio und riscrittura nur bedingt nützlich in der Analyse der literarischen Phänomene der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Vgl. insb. Cherchi 1998, S. 16-20: «il plagio tipico del secondo Cinquecento si manifesta come pseudo erudizione, in forma di nuclei di citazioni di aneddoti storici e di testimonianze letterarie copiate da testi umanistici. […] il plagio da pseudo erudito diventò una vera moda, e ciò lo trasformò in un fenomeno culturale senza precedenti, in una moda che può essere apprezzata nel suo valore culturale se si ricorda che in alcune fasi, specialmente in quelle iniziali, s’intrecciò, paradossalmente, a un piano di svecchiamento letterario.» 10 Vgl. Procaccioli 1994, S. 23-24. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 33 ihren Namen gebenden Text ist bereits erkannt und analysiert worden. 11 Darauf wird in der folgenden Erörterung noch näher einzugehen sein. Das Umfeld, in dem diese Werke entstehen, ist relevant. 12 In den diversen Texten dieser Autoren finden sich intertextuelle Verweise, die im Kontext des blühenden venezianischen Buchmarktes nachvollzogen werden können. Auch die zahlreichen Werke von Doni und Lando stehen im engen Verhältnis zu diesem kulturellen Umfeld, in dem sie rezipiert werden konnten, bevor sie gemeinsam mit den Werken Aretinos von der Inquisition auf den Index gesetzt wurden. Die Anwendung von rekurrierenden Motiven und rhetorischen Strukturen basiert auf der Parodie des etablierten literarischen Verfahrens der humanistischen Kultur, klassische Quellen nachzuahmen und umzuschreiben. Die reichliche Produktion dieser Autoren, die durch ihre Übersetzungen und Neuausgaben 11 Vgl. z. B. zu Doni Sapegno 2008, S. 194: «d’une part dans le trinôme ius-libertas-æqualitas se produit un profond déséquilibre en faveur du troisième terme, grâce à l’accueil des conceptions communistes paléochrétiennes de More et le rejet de toute richesse, tandis que de l’autre, l’hostilité explicite à l’égard du droit comporte l’effacement presque complet du premier terme, ce qui c’est d’ailleurs parfaitement en accord avec une éducation antilivresque, dans laquelle la culture écrite se juxtapose à la valeur de l’expérience cognitive. Ce fil, qui est celui de la critique de l’élitisme de la culture humaniste ainsi que des mécanismes circonscrits du pouvoir politique, court déjà dans le discours de Doni et remonte jusqu’à Campanella par des voies détournées. Dans l’écriture utopique se mêlent ainsi certaines interprétations du radicalisme paulinien et la tradition de la pensée politique républicaine. On est donc loin de l’atmosphère de l’inconditionnelle confiance humaniste dans le savoir qui imprégnait encore le livre de More.» Dagegen werden von Nelson 2006 und Figorilli 2021 die Ähnlichkeiten unterstrichen. Als der vorliegende Aufsatz sich bereits in der Begutachtungsphase befand, wurde der Artikel von Maria Cristina Figorilli (2021) veröffentlicht, der sich mit der Rezeption von Morus’ Utopia in den beiden hier behandelten Werken von Doni und Lando beschäftigt. Während sich Figorillis Analyse auf die Überschneidung zwischen der Rezeption von Morus’ Text und derjenigen von Erasmus’ Werk konzentriert, geht es in meinem Beitrag um die Schreib- und Umschreibweisen, die sich aus den literarischen Kompositionstechniken von Doni und Lando und aus ihrer Herangehensweise an das Thema der Lebensmittelversorgung in der literarischen Konstitution ihrer idealen Städte ergeben. 12 Ausgehend vom Referenzwerk Grendlers (1969), der den Akzent auf die politischen Aspekte gesetzt hat, haben sich in den letzten Jahrzehnten Wissenschaftler in Italien sowie in Deutschland mit diesem Themenkomplex beschäftigt: vgl. insb. Cherchi 1980 und 1998, Procaccioli 1994, Rivoletti 2003, Figorilli 2008 und 2018, Genovese 2009 und 2012, Fantappié 2016. Die textkritischen Editionen der Werke Donis belegen überdies ein deutliches Forschungsinteresse an einer anders und neu justierten Lesart dieser Texte. Sowohl die Werke von Doni - I mondi e gli inferni (1994) hrsg. von Patrizia Pellizzari, Le novelle in zwei Bänden hrsg. jeweils von Patrizia Pellizzari (2002) und Elena Pierazzo (2003), I marmi (2017) hrsg. von Giovanna Rizzarelli - als auch diejenigen von Lando - ich beschränke mich hier auf Commentario (1994) hrsg. von Guido und Paola Salvatori und Paradossi, cioè sentenze fuori del comun parere (2000) hrsg. von Antonio Corsaro - sind neu veröffentlicht worden. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 34 durch Kompilation unterschiedlicher Texte nahezu exponentiell anwuchs, folgt aus dieser besonderen Art zu schreiben, die nicht zuletzt dadurch bedingt war, dass die Autoren mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ihren Lebensunterhalt sichern mussten. In kürzester Zeit konnten sie somit viel mehr produzieren als bei Neuschöpfungen. Auch ihre Mitarbeit in den Verlagen, wie insbesondere bei Giolito und Marcolini nachweisbar, trug dazu bei. Beide Autoren, die demnach zugleich Übersetzer und Herausgeber sind, sammeln klassische, biblische und humanistische Zitate, verwischen jedoch zumeist konsequent deren Spuren. So hat etwa Lando ganze Passagen aus der Officina von Jean Tixier de Ravisy stillschweigend in Texte wie seine Sette libri di cathaloghi oder aus Petrarcas De remediis utriusque fortunae in seine Paradossi übernommen, was von der Forschung mittlerweile detailliert nachgewiesen worden ist. 13 Die poligrafi verwenden auch das Bild der Utopie, um eine verkehrte Welt darzustellen, in der die gesellschaftliche Norm suspendiert wird. Die Pluralisierung der Umschreibungen, die daraus entsteht, ist konstitutiv für ihre Poetik. Deutlicher Bezugspunkt sind zum Beispiel I Mondi von Doni (1552), die, wie schon durch den Plural im Titel angedeutet, mehr als nur eine alternative Welt anbieten. Während für Thomas Morus die andere Welt einem politischen Ideal entspricht, das Itlodeo auf der abgelegenen Insel entdeckt, oszilliert bei den ‘Venezianern’ die Trennlinie zwischen Parodie und Wunschwelt. Durch die venezianischen Druckereien fand die neueste verlegerische Produktion ihren Weg nach Europa, wo sie wiederum durch die Reformation wahrgenommen wurde. Die Heterogenität des kulturellen, literarischen und religiösen Feldes der venezianischen Republik in dieser Zeit ermöglichte es, dass Autoren mit unterschiedlichen klassischen Vorbildern experimentieren konnten. Die Texte, die dabei entstanden, definieren sich letztendlich über ihren ‘Antiklassizismus’. Ihre wohl prägendste Schreibweise ist das Paradoxon. Dieser Tropus kann als eine eigene Schreibweise verstanden werden, weil er nicht nur an einzelnen Stellen verwendet, sondern auch als Hauptmerkmal einiger Texte etabliert wird, um den Kontrast und die Spannung zwischen zwei Positionen zuzuspitzen. Dabei ist die Feststellung wichtig, dass die beiden in den Paradoxa dargestellten Positionen teilweise austauschbar sind. Darauf rekurrieren explizit Landos Paradossi, cioè sentenze fuori del comun parere (1543), denen 1545 die Confutatione del libro de paradossi gefolgt sind. Um zu veranschaulichen, inwiefern die Lebensmittel ihre materiellen Eigenschaften verlieren und ganz im Gegenteil aus einer ‘unstofflichen’ Wortschöpfung ‘entstehen’ können, eignet sich ein Kapitel dieses Textes besonders gut. Es handelt sich um das Paradosso 13 Vgl. zu den beiden Beispielen Cherchi 1980 und Cherchi 1998, S. 99. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 35 XXIV , das zeigen soll, dass esser miglior la vita parca della splendida e sontuosa («es sei das frugale Leben besser als das üppige»). In den ersten Zeilen dieses Kapitels wird in Frage gestellt, ob es notwendig ist, die Argumente zur Verteidigung einer so offensichtlichen Wahrheit zu erläutern. Die Tatsache, dass ein frugales Leben besser ist, sollte nicht als Paradoxon betrachtet werden: «Crederò facilmente che questo parer mio non sia però da molti reputato paradosso, e parerebbemi ad ogni modo strano che persona veruna ch’avesse punto di sentimento dubitasse mai che la vita frugale non fusse assai miglior della copiosa e abbondante.» 14 Zunächst werden verschiedene Beispiele von Menschen oder Völkern in der Antike aufgeführt, die durch Enthaltsamkeit und einfache Ernährung Gesundheit und Erfolg erzielten. Anschließend führt der Erzähler Gegenbeispiele auf, in denen «nostra insaziabil gola» 15 («unsere unersättliche Völlerei», inklusive der des Erzählers) vorherrscht. Diese werden durch rhetorische Fragen formuliert, die die Völlerei dezidiert kritisieren; sie zielen eindeutig darauf ab, Argumente zur Verteidigung eines frugalen Lebensstils zu liefern. Die Folgen der Völlerei sind «rutti, […] stordimenti, […] vertigini, […] gira capo». 16 Was jedoch auffällt, ist eine Stelle, die dem römischen Kaiser Geta gewidmet ist, an der der Überfluss ausführlicher dargestellt wird: Dabei werden die Gerichte zu Wörtern, die einer Taxonomie ohne gastronomische Logik unterworfen sind. Denn es handelt sich - wie der Autor selbst betont - um eine enzyklopädische, alphabetische Ordnung: «che dirò di te Geta imperatore, il qual facevi che le vivande seguitassero l’ordine dell’alfabeto, dandoti una volta anseri, anatre, apri [Wildschweine, aus dem lat. aper ], e l’altra pescie, porcello, perdici, perna, e quando correva il luogo della F ti si apprestavano diligentemente fichi, fagiani, farcimini, et così di mano in mano scorrevasi per tutto l’alfabeto ordinatamente.» 17 Diese alphabetische Reihenfolge der Lebensmittel, die auf eine weitere lange Liste und somit auch auf eine große Menge hinweist, dient an dieser Stelle keiner sinnlichen Veranschaulichung der Materialität, erst recht nicht, weil sie die Gerichte als reine, sachlich-nüchterne Enzyklopädie-Lemmata betrachtet. Die Anspielung auf die Lektüre des Buchs ersetzt gewissermaßen den Vorgang des Verzehrens durch denjenigen des Lesens. Die Ironie des Verfahrens besteht nicht allein im Zwiespalt zwischen dem behaupteten Gemeinplatz ( esser miglior la vita parca della splendida e sontuosa ), nach dem das üppige Leben zu bevorzugen sei ‒ der gleich im ersten Satz geleugnet wird, obwohl die Völlerei jeden 14 Lando 2000, S. 219. 15 Ibid., S. 221. 16 Ibid., S. 220. 17 Ibid., S. 221. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 36 («nostra insaziabile ingordigia») zu treffen scheint -, und den angeführten Argumenten, die dagegensprechen. Der Absatz über Geta thematisiert außerdem durch Aufzählung die prächtigen Bankette des Kaisers, die sich aber wiederum in der Gelehrsamkeit der Enzyklopädie zu erschöpfen scheinen. Das zwei Jahre später anonym (aber ebenfalls von Lando) veröffentlichte Buch Confutatione del libro de paradossi greift die Thesen der Paradoxa Kapitel für Kapitel auf, um ihre Ungültigkeit zu beweisen. An entsprechender Stelle wird das frugale Leben folgerichtig kritisiert, aber der Schwerpunkt verlagert sich vom Privatleben auf die Großzügigkeit und Gastfreundschaft, die ein üppiges Leben mit sich bringen sollte, und doch positiv konnotiert ist: «ma ben vi dirò, che sempre mi piacque di veder non so che di splendore ne gli huomini grandi, & hebbi sempre in odio il veder alcune brutte usanze alle tavole, de chi vuol esser detto illustre». 18 Beide Texte scheinen für sich genommen überzeugende Argumente zu den jeweiligen Pointen zu liefern, aber die widersprüchlichen Aussagen werden nicht in demselben Text aufgegriffen. Auf diese Weise wird das Paradoxon in seiner Gesamtheit widerlegt, ohne eine Eloge auf das ausschweifende Leben zu propagieren und ohne die Argumente des ersten Textes zu widerrufen. Antonio Corsaro, der Paradossi herausgegeben hat, schlägt eine überzeugende religiöse Interpretation vor: Er bezeichnet das Buch als eine «ossatura ludica come esito referenziale del rovesciamento e della ‘liberazione’ del messaggio evangelico in cerca della nuova verità del cristiano.» 19 Das christologische Paradoxon schlechthin ist, dass Armut besser ist als Reichtum. Die Suche des Christen nach dieser neuen Wahrheit sei daher eine Folge der reformatorischen Lehre. Die Frage nach der Funktion der rhetorischen Mittel, mit denen diese Positionen zum Ausdruck gebracht werden, bleibt jedoch offen. Allein die Tatsache, dass der Band zwei Jahre nach seinem Erscheinen widerlegt wird, dann aber die Reflexion ausweitet, statt sie zu dementieren, ist ein Zeichen für die Bedeutung solcher Instrumente, die zumindest den Eindruck erwecken wollen, Positionen performativ zu relativieren. Zu welchem Zweck werden intertextuelle Verweise eingeführt und wie werden sie zugunsten der These von Lando gelenkt? Warum ist seine These, von der er überzeugt zu sein scheint, nicht eindeutig formuliert? In Landos und Donis Texten wird das Spiel nicht nur als Zitierkunst und auf der Ebene von paradoxalen Paaren, sondern auch durch weitere spezifische Verfahren wie die Technik des multiplen Einrahmens fortgeführt. Sie wird ad absurdum geführt, weil Dialoge, Paradoxa und Kommentare 18 Lando 1563, S. 21r. 19 Lando 2000, S. 24. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 37 mehrere, teils widersprüchliche Perspektiven einführen und zu keiner Frage eine alleingültige und dezidierte Antwort anbieten. In diesem Sinne sind auch die beiden Texte zu verstehen, die ich im Folgenden betrachte, und die aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Diskurse zu Überfluss und Mäßigung im Rahmen der komischen Utopien anspielen. Zunächst möchte ich auf ein Werk von Ortensio Lando eingehen, in dem kulinarische Besonderheiten Italiens im Vordergrund stehen. Weitere Motive wie die Reise, die Entdeckung eines fremden Landes und der Überfluss an Speisen tragen zu seinem utopischen Charakter bei. Giampaolo Zucchini hat diesen Text einerseits als eine Umsetzung des populären Themas des Schlaraffenlandes interpretiert. 20 Andererseits haben Simonetta Adorni Braccesi und Simone Ragagli festgestellt, dass Lando den «espediente di svolgere delle critiche attraverso lo sguardo di un viaggiatore» 21 aus Utopia übernimmt. Anschließend werde ich auf Donis ‘Mondo savio e pazzo’ eingehen, der trotz seiner Eigentümlichkeiten oft im Kanon italienischer Utopien des 16. Jahrhunderts erwähnt wird, 22 hinsichtlich der alimentären Versorgung der Bewohner jedoch bisher nicht näher untersucht wurde. 3 Ortensio Landos Commentario delle più notabili & mostruose cose d’Italia & altri luoghi, di lingua Aramea in Italiana tradotto, con un breve Catalogo dell’inventori delle cose che si mangiano & delle bevande ch’oggidi s’usano Aus der umfangreichen literarischen Produktion von Ortensio Lando wird ein spezieller Text, der Commentario delle più notabili & mostruose cose d’Italia & altri luoghi, di lingua Aramea in Italiana tradotto , oft nur am Rande erwähnt. Aufgrund der Unbestimmtheit seiner Gattung, des pseudo-wissenschaftlichen Ansatzes und seiner Entstehung durch Plagiatsverfahren aus dem humanistischen Repertoire ist er nicht leicht einzuordnen. Seine Nähe zu den literarischen Utopien der Zeit - und namentlich zur italienischen Rezeption von Morus’ Utopia - ist dennoch erkannt worden. Von Maria Cristina Figorilli wird das Werk als eine «sorta di utopia rovesciata» 23 , von Giampaolo Zucchini als «rovesciamento dell’utopia» 24 bezeichnet. Darüber hinaus haben sich die Unter- 20 Vgl. Zucchini 1989. 21 Adorni Braccesi/ Ragagli 2004. 22 Vgl. Bolzoni 1993, S. 69-73. 23 Figorilli 2018, S. 230. 24 Zucchini 1989, S. 155. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 38 suchungen der letzten Jahrzehnte insbesondere auf Landos Quellen und Umschreibungsstrategien fokussiert. 25 Landos Commentario wurde erstmals 1548 veröffentlicht, im selben Jahr, in dem seine bereits erwähnte Übersetzung von Morus’ Utopia erschien. 26 Der Name des Autors wird durch das Pseudonym «Messer Anonymo di Utopia» ersetzt. Die Verweise auf den utopischen Charakter des Textes sind demnach vielschichtig. Beim Commentario geht es um die Erzählung eines ‘aramäischen’ Jungen, der sich vorstellt, durch Italien zu reisen: Er soll gehört haben, dass Italien «la più bella parte, la più ricca e la più civile che ritrovar si possi» 27 sei. Im Incipit wird das eigentümliche Boot beschrieben, mit dem der Protagonist seine Fahrt antritt, «che dall’isola di Utopia carca di carote veniva» 28 , mit Karotten beladen. Diese bilden eine Metapher für die Lügen, die aus Utopia stammen. Sprichwörtlich heißt nach dem Vocabolario degli Accademici della Crusca ‘cacciare, ficcare carote’ so viel wie ‘jemanden Dinge glauben zu lassen, die nicht wahr sind’. 29 Auf dem Boot begegnet der Junge einem gewissen Tetigio, «ottimo maestro di piantar carote» 30 , der seine «guida nel viaggio d’Italia», 31 wird. Sein Führer ist vor allem in der Kunst, Lügen zu erzählen, ein Meister. Diese Charakterisierung ist das erste Zeichen von Landos Ironie: Es entsteht ein Widerspruch zwischen der wertvollen Fracht, die man aus Utopia erwartet, und den Lügen, die aus diesem fiktiven Land kommen. 32 Angesichts der ironischen Beschreibung, mit der Tetigio vorgestellt wird - «ossequente più che il vento, e obediente più che la lepre alla campagna» («folgsamer als der Wind, und gehorsamer als der Hase auf dem Feld» ) 33 -, erweist sich dieser Reisebegleiter als nicht vertrauenswürdig. Zuerst lässt sich der Protagonist von den regionalen kulinarischen Traditionen Italiens von einem «oste […] amico, anzi schiavo della gola» («Gastwirt […] Freund, vielmehr Sklave des Appetits») 34 erzählen, dann bricht er selbst dorthin auf. Der Junge durchreist Italien von Süden nach Norden und dann, mit einem 25 Vgl. dazu Cherchi 1980. 26 Anspielungen an Morus’ Utopia findet man aber bereits in früheren Werken Landos, weil er bereits in früheren Jahren mit dem humanistischen Traktat in Berührung kam. 27 Lando 1994, S. 3. 28 Ivi. 29 Vgl. Zucchini 1989, S. 156. 30 Lando 1994, S. 3. 31 Ivi. 32 Zucchini stellt die interessante, aber nicht weiter belegte Hypothese auf, dass Lando dabei auf Doni anspielen wolle, der für sich die Autorschaft der Übersetzung von Morus’ Utopia beansprucht hatte. Vgl. Zucchini 1989, S. 156. 33 Lando 1994, S. 3-4. 34 Lando 1994, S. 8. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 39 Vorrat an italienischen Spezialitäten, andere Länder. Im Commentario werden anschließend die einzelnen Städte wie in einem touristischen Reiseführer abgehandelt. Sowohl die lokalpolitisch-historischen Begebenheiten und die architektonischen Sehenswürdigkeiten als auch die Sitten und Gebräuche auf dem Gebiet der Geschlechterbeziehungen und der Ernährung werden mit zahlreichen Bezügen auf klassische Mythen und die antike Geschichte mitgeteilt. Dies deutet bereits auf den zweiten Teil des Buchs voraus, Catalogo dell’inventori delle cose che si mangiano & delle bevande ch’oggidì s’usano , der sich mit dem Thema in der Form eines Heuretesbzw. Heurematakatalogs ausführlich beschäftigt. 35 Abgesehen von dieser inhaltlichen Verknüpfung können aber Commentario und Catalogo auch unabhängig voneinander gelesen und betrachtet werden. Sie beginnen jeweils mit einer eigenen Einleitung, die einen erzählerischen Rahmen bildet und auf die Fiktionalität der Texte hinweist. In der Einleitung zum Catalogo bezieht sich der Erzähler auf den klassischen Mythos vom Goldenen Zeitalter, der auf Ovids Metamorphosen zurückgeht. 36 Damals hätten sich die Menschen mit Eicheln begnügt. Das Motiv wird auch im Purgatorio der Göttlichen Komödie aufgenommen: «Lo secol primo quant’oro fu bello, fé savorose con fame le ghiande» ( Pg XXII, V. 148-49). Durch eine rationale Interpretation unterstreicht Dante, dass es der Hunger war, der die Eicheln schmackhaft machte, und nicht die ursprüngliche Bescheidenheit der Menschen, wie sie von Ovid dargestellt wird («contenti […] cibis nullo cogente creatis»). 37 Gelobt und gepriesen wird 35 Zu der Gattung der Erfinderkataloge und zu ihrem Zusammenhang mit der Frage der «invented traditions» innerhalb des italienischen frühneuhochzeitlichen Klassizismus, mit Bezug auf Plinius’ Katalog im 7. Buch der Naturalis Historia und Polydorus Vergilius’ De inventoribus rerum (1499), vgl. Wolkenhauer 2020. 36 Met. I 89-106: «Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, / sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. […]/ Ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis / saucia vomeribus per se dabat omnia tellus, / contentique cibis nullo cogente creatis / arbuteos fetus montanaque fraga legebant / cornaque et in duris haerentia mora rubetis / et, quae deciderant patula Iovis arbore, glandes.» 37 Die beiden Aspekte werden dagegen in dem satirischen Pseudo-Traktat Giulio Cesare Croces L’eccellenza e Trionfo del Porco , erhalten in einem Druck von 1599, hervorgehoben: «Vedesi che il favoloso Giove ha cura particolare del Porco, poi che sempre l’ha pasciutto e tuttavia pasce de’ suoi confetti, idest di quei nobil frutti che solevano mangiar le genti nella felicissima Età dell’Oro, quando non si facevano tanti disordini di mangiare né tante superfluità, ma ghiande, pomi e castagne erano i suoi delicati pasti e l’acque di purissimi fonti le sue cantine. E tanto più erano in prezzo le ghiande a quei tempi quanto che erano prodotte dall’albero consacrato a Giove delle cui frondi già si coronavano gli Imperatori di Roma […]. Sono state le ghiande anticamente in grandissimo prezzo e in Hispagna si solevano mettere in tavola in cambio di frutte, e forsi ne mangiariano anchora adesso se gli stomachi non fussero tanti svogliati, ma il mondo è venuto troppo delicato e molle. Pur, in questi calamitosi tempi, credo che in molti luochi le ghiande sariano state tanti confetti, perché la fame è quella che condisce tutte le vivande […] Secondo Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 40 in diesem Sinne auch bei Lando die Göttin Ceres, die den Weizen erschuf und zur Verfügung stellte. Erst dadurch hätten die Menschen angefangen, sich von Brot zu ernähren. In dieser Passage ist die Ironie unverkennbar: Das Lob der alten mythischen Zeiten wird von der Gewohnheit, sich von mageren Eicheln zu ernähren, relativiert, während die Erfindung von «formento» («Weizen») durch Ceres und von «fermento» («Hefe») durch Carmilia «i corpi più robusti» machte. Darüber hinaus unterstreicht der Erzähler in der Einleitung die Nützlichkeit seines Werks sowie seine Mühe, ein solches zu verfassen: «il mio Catalogo […] l’ho descritto di mano in mano con quell’ordine, che anco presso de vari scrittori mi è accaduto di ritrovarle. Non ho tessuto il presente Catalogo dalli scritti di un sol autore, ma forse di cinquecento […]. Ora perché l’opera fusse non sol curiosa, ma anche insieme utile, non mi son contentato di dir semplicemente gli inventori delle cose, ché vi ho voluto aggiungere l’utilità della cosa ritrovata, non diffusamente, ma sono ito ristretto quanto più ho potuto, e dal pesce, col favor celeste, incominciarò questa mia non inutile fatica.» 38 Interessant ist die fiktive Erklärung des Autors, sich aus 500 Quellen bedient zu haben. Dabei wird mit dem Verb ritrovare auf die multiplen Ebenen der Fiktion hingewiesen. Die «cosa ritrovata» bezieht sich auf die Gerichte, die von den «inventori» stammen. Gleichzeitig stieß der Autor beinahe zufällig auf sie: «è accaduto di ritrovarle […] dalli scritti […] di cinquecento». Er habe die Beweise der Erfindungen ausfindig gemacht. Paolo Cherchi hat in diesem Zusammenhang nachgewiesen, dass der Großteil der Lebensmittel, die erwähnt werden, aus Officina von Jean Tixier de Ravisy stammt, während Lando die Zuordnung zu den Erfindern und einige Details über die Zubereitung der Speisen hinzufügt. 39 Der Erzähler gibt unterschiedliche Quellen an und verschleiert dadurch das tatsächliche Vorbild: Die Feststellung der eigentlichen Quelle vervollständigt unsere Kenntnis des Textes, ändert aber nicht die Funktion der Aufzählung und der multiplen Verweise. Catalogo ist nicht die Zusammenführung unterschiedlicher Informationen aus einer breit angelegten Recherche, will aber diesen gestus vorführen. Während der Nutzen des Enzyklopädischen als humanistisches Vorbild parodistisch infrage gestellt wird, dient die varietas der Termini weiterhin den che scrive Cornelio Alessandro, gli humoni di Chio, assediati, vissero un gran tempo di ghiande. La ghianda, in conclusione, fa la carne soda, distesa, rilecente e pesante, però se ’l nostro Signor Porchetto mangia di questo cibo, si vede ch’ei non si discosta dal vivere humano ma che segue quelli ordini primi che gli diede la Natura, ché gli altri, o per balordaggine o perché non son degni di sì nobil cibo, mangiano herbe amarissime e asprissime radici come bestie prive di tutte le ragioni e senza alcuna sorte d’intelletto» (Croce 2006, S. 51-53). 38 Lando 1994, S. 102. 39 Vgl. Cherchi 1980, S. 212-213. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 41 «programmatische[n] Dynamisierungen geistiger Autoritätsverhältnisse», 40 weil irreführende Quellenangaben gemacht werden. Als «Erfinder» werden Personen bezeichnet, die entweder die Nahrungsmittel - Fisch, Geflügel, Fleisch, Hülsenfrüchte, Gemüsesorten oder Obst - als erste ‘entdeckt’ haben sollen, oder diejenigen, die als erste die Idee hatten, sie überhaupt oder nach einer bestimmten Art der Zubereitung zu essen. Ein Beispiel: «Filone Dalmatino fu il primo che ponesse e mangiasse il pesce in gelatina, mescolandovi per dentro delle frondi dell’alloro e per tal invenzione ricco divenne.» 41 Mit minimalen syntaktischen Varianten werden die zahlreichen inventori mit entsprechenden Beschreibungen aneinandergereiht. Während die Katalogisierung von Nahrungsmitteln und Gerichten einer strikten Ordnung folgt, sind die Bezeichnungen der Erfinder und Entdecker, der Anwendungen und der Zubereitungen besonders auffällig und einfallsreich. Das alltägliche Thema der Kulinarik wird einerseits durch die Auflistung, die Wiederholung und die Abweichung zum Zweck von Landos literarischem Programm einer geistreichen Intertextualität entfaltet. Auf der anderen Seite sehen wir uns bei der Lektüre ständig mit der Frage konfrontiert, ob das Thema an sich durch seine Nutzung als ironisches Mittel auf eine Degradierung der humanistischen Literatur anspielt oder den Kontrast zwischen dieser fiktiven kulinarischen Tradition und der Esskultur der Zeit adäquat darstellt. 42 Die Suche nach den Ursprüngen des Lebensmittels erweist sich schnell als zweckdienlicher Vorwand, um die einfallreichsten Argumentationen einzuführen und die Essgewohnheiten mit moralistischen und medizinischen Aspekten des Lebens in Verbindung zu setzen. Während in der Einleitung des Commentario die Unglaubwürdigkeit programmatisch erscheint und die Ironie dazu einlädt, den gesamten Text als Fiktion anzusehen, findet man im Catalogo eine weitere Art von Ironie, die aus einer Übertreibung der Fiktion entsteht. Folgender Eintrag ist ein Beispiel dafür: «Melibea da Manerbio fu l’inventrice de’ casoncelli, delle offelle e delli salviati. Fu costei donna di grande ardire, ed è chiara cosa che con le proprie mani ammazzò un orso di grandezza mostruosa.» 43 In diesem Bild signalisiert nicht nur der riesige Bär die Ironie, sondern auch die Zusammensetzung von divergierenden, uneinheitlichen Elementen. Sie reichen von der Erfindung bestimmter Produkte bis zur Bewunderung der fiktiven Erfinderin, was die Schlussfolgerung ad absurdum führt. Ähnlich verhält es sich in anderen Fällen, in denen moralische 40 Liebermann 2019, S. 33-51, insb. S. 33. 41 Lando 1994, S. 114. 42 Auf den Commentario bezieht sich zum Beispiel der Historiker der Esskultur Massimo Montanari in der Präsentation seines Buchs Bologna, l’Italia in tavola, vgl. https: / / www.mulino.it/ isbn/ 9788815291165 (Zugriff am 14.11.2023). 43 Lando 1994, S. 126. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 42 Aspekte eine Rolle spielen. Dementsprechend werden einige der genannten Personen nach ihrem allgemeinen Verhalten verurteilt, das nicht mit der vermeintlichen Erfindung verbunden ist. «Il confettar persica e pignuoli [Pfirsiche und Pinienkerne] è l’invenzione di Curio Tripaldino, uomo di ladronecci infame e di sporchissima lussuria. Il primo che mangiasse frittelle di sambuco e di ramarino fu Giannotto da Gorgonzola, che fu poi impeso per tradiglione [Verrat] con duoi figlioli a canto.» 44 Warum werden Laster und Fehler überhaupt im Catalogo angeprangert? Dass Curio ein diebischer und unzüchtiger Mensch und Giannotti ein Verräter seien, scheint vollkommen willkürlich mit den «Erfindungen» in Zusammenhang zu stehen, während mit den Nachnamen «Tripaldino» und «di Gorgonzola» eine enge Verbindung zu den kulinarischen Besonderheiten anklingt. Die Einträge mit einer medizinischen Empfehlung sind ebenso unglaubhaft und spielerisch, postulieren aber einen erkennbaren Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheitszustand: «Il primo che mangiasse testugini [Schildkröten] fu Archelao da Smirna; giova questo cibo molto alli tisici, lienosi [bei erkrankter Milz] e a quelli che patono il mal caduco; e bisogna mangiarne assai, o niente.» 45 Ähnlich konstituiert sich der Eintrag, in dem es nicht um das Verzehren, sondern um die bloße Annäherung von Frauen an Kürbisse geht: «Il primo che mangiasse zucche fu Marullo Egizio […]. Crisippo medico le dannava, generano però buono umore e giovano alle febri coleriche per il parere di Avicenna. Avvertisce Columella che donne non vadino dove le sono piantate, ispezialmente se l’hanno il flusso mestruale.» 46 Es wird deutlich, dass die Zusammenstellung von Lebensmitteln, Erfindern und Anwendungen ein Feld für potenziell unendliche Kombinatorik eröffnet. Zucchini hat Landos Commentario und Catalogo mit Joseph Halls Mundus alter et ipse - erste dystopische Erzählung und Vorgänger der Gulliver’s Travels - verglichen und die Schlaraffenland-Elemente in Landos Text hervorgehoben. Er löst die Komplexität des Textes mit der Bemerkung auf, es handle sich nicht um die Schilderung einer cuccagna im eigentlichen Sinne, sondern der Text setze 44 Lando 1994, S. 136. 45 Lando 1994, S. 110. 46 Lando 1994, S. 140-141. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 43 lediglich eine Kenntnis des populären Motivs voraus. 47 Um den bedeutendsten Unterschied zum Schlaraffenland zu unterstreichen, bezeichnet Zucchini diesen Text als «cuccagna alta», als ein «gebildetes Schlaraffenland»: «la fortuna gastronomica del ricco contrapposta alla silenziosa e solamente intuibile fame del povero». 48 Neben dem kulinarischen Bezug und der Reise in ein fremdes Land findet Zucchini die Beschreibung der kulinarischen Spezialitäten im Commentario bemerkenswert, da sie den Bräuchen der Höfe entsprechen. Allein aus diesen Merkmalen zu schlussfolgern, dass ein direkter Bezug zu den sozialen Umständen vorliege, ginge allerdings zu weit. Die Verflechtung realer und fiktiver Bezüge macht es unmöglich, die höfischen Bankette ohne weitere Quellen oder Kenntnisse zu rekonstruieren. Die Beschreibungen dieses Überflusses dienen sowohl im Commentario als auch im Catalogo der Aufzählung und der variatio , teilweise auch der Gesellschaftskritik, die aber erst durch diese literarischen Mittel zum Ausdruck kommt. Während in den traditionellen Darstellungen des Schlaraffenlands, die Hans Velten als sich selbst dekonstruierende «Lügengeschichten» 49 bezeichnet hat, klar wird, dass nur ein Narr wie Boccaccios Calandrino ( Decameron , VIII, 3) sich auf die Reise machen kann, um ein Land des Überflusses zu erreichen, wird hier vermittels der Auflistung zahlreicher Lebensmittel eine inkonsistente Welt durch eine kunstvolle Kombinatorik von Geschichten dargestellt, die sich mit dem zeitgenössischen Humanismus auseinandersetzt. Die oben dargestellten Beziehungen dieser Texte zu den bekannten politischen Utopien des 16. Jahrhunderts bilden ein Netz von literarischen Referenzen, das in vielerlei Hinsicht das Produktionsmuster der poligrafi wiedergibt. Das alimentäre Motiv hat dabei die Besonderheit, durch den direkten materiellen Bezug die Ironie unverwechselbar kenntlich zu machen. Diese Verweise deuten das literarische Material ‘aus zweiter Hand’ um, das in den Text einfließt; die hochliterarisierte Form des Heurematakatalogs wird dadurch funktionalisiert, um die vermeintliche Antike als solche zu enthüllen. 47 Vgl. Zucchini 1989, S. 157-158: «Come in un gioco del Mitelli in cui sono illustrate le specialità gastronomiche di alcune città d’Italia, il Lando non ci presenta tanto un Paese di Cuccagna - che in realtà nei due testi non è affatto descritto -, ma ci lascia supporne e immaginarne l’esistenza, premettendoci di leggere in controluce le pagine così da intravederlo in filigrana.» 48 Zucchini 1989, S. 158. 49 Velten 2013, S. 263. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 44 4 Anton Francesco Donis ‘Mondo savio e pazzo’ Größere Aufmerksamkeit in der Forschung hat der sogenannte ‘Mondo savio e pazzo’ gefunden, 50 der in einem Dialog zwischen Savio (dem Weisen) und Pazzo (dem Narren) in Anton Francesco Donis I mondi (1552) beschrieben wird. Wie Christian Rivoletti gezeigt hat, 51 entsprechen strukturelle und semantische Eigenschaften dieser Welt dem naheliegenden Modell von Morus’ Utopia , das Doni wenige Jahre zuvor von Lando ins Italienische hatte übertragen lassen. Savio erzählt von einer Welt, die er im Traum besucht hat, während Pazzo Erklärungen hinzufügt, Verständnisfragen stellt und bestimmte Eigenschaften der ‘neuen Welt’ hinterfragt, die ihm widersinnig erscheinen. Trotz der Kürze von Pazzos Reden ist die dialogische Form das grundlegende Merkmal des Textes; seine einfachen und naiven Eingriffe geben Savio die Möglichkeit, seine Darstellung zu entwickeln. Die Teilnahme der beiden Dialogfiguren an der imaginativen Konstitution dieser Welt wird im Titel wiedergegeben, der in den unterschiedlichen Fassungen zwischen ‘Mondo savio’ und ‘Mondo pazzo’ oszilliert. Außerdem wird ausdrücklich erklärt, dass die beiden Redner die Konzeption der ‘neuen Welt’ als die eigene interpretieren: «il Pazzo e il Savio Accademici […] veggono un nuovo mondo, il quale da un di loro è detto pazzo e da un altro savio mondo.» 52 Im Hintergrund steht der humanistische Begriff der Torheit, der mit Erasmus’ Moriae Encomium (1511) eingeführt wurde. Dabei ist der hergestellte Sinneffekt insofern relevant, als die Kritik der sozialen Strukturen einerseits offensichtlich ist, andererseits in eine fiktive Welt führt, die unterschiedliche Interpretationen zulässt . Außerdem ist in Donis Mondo zu beobachten, dass die beiden Positionen in der Gesellschaft als relativ bzw. austauschbar zueinander dargestellt werden. 53 Durch die Fabel des Regens in dem den Dialog einleitenden 50 Die wichtigste Monografie zu diesem Abschnitt aus Donis Werk stellt Rivoletti 2003 dar. Zuvor war Donis ‘Mondo savio e pazzo’ bereits von Grendler 1969 und Procaccioli 1994 untersucht worden. Während Rivoletti durch die literarische Analyse die Ähnlichkeit mit Morus’ Utopia herausarbeitet, heben Grendler und Procaccioli vor allem die Unterschiede zum politischen Programm des Thomas Morus hervor. Neuere Studien zur Donis Text im Rahmen der italienischen Utopien der Renaissance sind Sberlati 2008 und Donato 2019. 51 Vgl. Rivoletti 2003, S. 19-47. 52 Doni 1994, S. 162. 53 Vgl. Rivoletti 2003, S. 24: «Troppo spesso, sembra avvertirci il racconto, gli uomini considerano giusto ciò che è semplicemente ritenuto tale dalla moltitudine, respingendo senza indugio e con ogni forza ciò che invece non si inserisce nell’orizzonte di normalità al quale tutti sono abituati. Tramite la finzione dell’improvviso rovesciamento della situazione causato dalla pioggia, la novella costruisce […] un gioco di punti di vista che, al termine, si frappone inevitabilmente tra quell’evocato concetto di normalità e la posizione di chi osserva.» «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 45 Apolog und die dadurch entstehende Charakterisierung der beiden Dialogfiguren, ihrer Autorität und ihrer Rollen in der Gesellschaft wird der darauffolgende Text nicht nur in einem zweideutigen Rahmen verortet, sondern stellt die gesellschaftlichen Gesetze in ihrer Gesamtheit infrage. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. Weil die Beschreibung der ‘neuen Welt’ aus diesem Dialog zwischen Savio und Pazzo entsteht, muss sie dementsprechend von einem idealen Modell differenziert werden. Ausgeführt wird dieser grundlegende Aspekt von Paul F. Grendler in einem Kapitel seiner Studie Critics of the Italian World [1530-1560]. Anton Francesco Doni, Nicolò Franco & Ortensio Lando (1969), mit der die Erforschung des Verhältnisses dieser Autoren zu ihrem kulturellen Umfeld vor einigen Jahrzehnten einsetzte. 54 Um die Differenz von ‘Mondo savio e pazzo’ zu den literarischen Utopien zu verdeutlichen, unterstreicht Grendler, dass es der ‘neuen Welt’ an einem Entwurf für Regierung und Verteidigung und an Erziehungsprogrammen fehlt. 55 Dagegen vergleicht Carlo Ginzburg in Der Käse und die Würmer (1976/ 2020) Donis Utopie als ‘städtische Utopie’ mit der bäuerlichen Utopie des volkstümlichen Texts Un capitolo, qual narra tutto l’essere d’un mondo nuovo, trovato nel Mar oceano . In letzterer ist die ‘neue Welt’ durchaus ein Schlaraffenland, das Versorgung und Verfügbarkeit von materiellen Gütern im Übermaß aufweist. Dennoch findet der Historiker Ähnlichkeiten zwischen den beiden Texten. Dies wird etwa im «Bild von Unschuld und ursprünglicher Reinheit verdeutlicht, wie es von den ersten Berichten über den amerikanischen Kontinent umrissen wurde», 56 denen Doni die Vorstellung der «Weiber- und Gütergemeinschaft» entnommen habe. 57 Die einzige deutschsprachige Monographie zu Doni stammt von Anna Comi, die darin sein «Weltbild» untersucht. Sie definiert seine Dialogform als «dialektische Gegenüberstellung von antithetischen Erscheinungen, die vergeblich nach einer Synthese suchen». 58 In der Utopie der Mondi versucht sie (S. 166-199) aber trotzdem eine kohärente These zu finden, vorwiegend anhand der Begrifflichkeit «Norm-Kritik-Schema». Sie postuliert dabei einen «realistischen Bezug zur Wirklichkeit» 59 und erkennt mit Gisèle Abou-Sleiman eine «Ähnlichkeit zwischen Savios utopischer Stadt und dem Status der Armen 54 Vgl. Grendler 1969, insb. die Seiten 162-177. 55 Vgl. Grendler 1969, S. 174. 56 Ginzburg 1976/ 2020, S. 130. 57 Ginzburg 1976/ 2020, S. 131. 58 Comi 1998, S. 143. 59 Comi 1998, S. 185. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 46 dieser Welt» 60 . Diese Schlussfolgerung geht jedoch viel zu weit und wird der literarischen Strategie Donis nicht gerecht, die insbesondere durch Plagiat und Pluralität gekennzeichnet ist. Meine Analyse des Textes hebt einige Passagen des Dialogs hervor, die den Bezug zur Darstellung einer gegenwärtigen Welt, in der die beiden Protagonisten leben, deutlich machen. Trotz mancher Überlappungen mit der Gesellschaft des Cinquecento ist hervorzuheben, dass die Gesellschaftskritik eher allgemeine Bezugspunkte trifft, und dass der Bezug sich als fiktional erweist. Gleichzeitig will ich der Frage nachgehen, welche Funktion die materiellen Aspekte und insbesondere die Lebensmittelversorgung, sowie die Koch- und Ernährungsgewohnheiten innerhalb der Darstellung dieser utopischen Gesellschaft erfüllen. Dabei werde ich die literarische Verarbeitung dieser Themen untersuchen, und den Gegensätzen zwischen dem Alltäglichen und dem Imaginären, zwischen communis opinio und Verbesserungsvorschlägen in Form eines fiktiven Dialogs genauere Beachtung schenken. Ein gutes Beispiel für einen expliziten Verweis auf die Welt der Protagonisten - und damit der realen zeitgenössischen Lebenswelt - sind die Stichworte, die im Dialog der Organisation des Ackerbaus gewidmet werden. Diese wird in der Beschreibung des imaginierten Landes an prominenter Stelle angesprochen, wenn Savio unmittelbar nach der Definition seines architektonischen Aufbaus dazu ausholt, die beste Verwendung der Ackerländer zu definieren: «SA. Servia che ciascun terreno fruttificava secondo la natura sua, perché dove facevano bene le viti, non vi si faceva piantare altro, dove il frumento, dove i fieni e dove la legna, non s’andava frammettendo altro se non una di queste cose. PA. Ora conosco perché le nostre possessioni non ci rendano più, che noi vogliamo fare fruttare una sorta di terra d’ogni cosa: biade, vini, olii, frutti, grani, legne e fieni. Onde non così tosto uno ha due campi di terra che gli vuole far fare di tutto, e il terreno non è buon per tante cose, la natura sua non lo comporta, però una ne fa bene e dieci male.» 61 Savio schildert die Verteilung des Anbaus auf unterschiedlichen Feldern, die sich je nach Beschaffenheit am besten für ein bestimmtes Produkt eignen. Eine ähnliche Verteilung der Zwecke und Aufgaben wird sich noch in anderen Lebensbereichen der beschriebenen Welt finden, zum Beispiel, wenn es um die Verantwortlichkeiten von beruflichen Gruppen geht, die sich am besten ausschließlich einer einzigen, streng regulierten Angelegenheit widmen sollen. Mit dem Exempel der Ackerfelder rekurriert die Verteilung zunächst auf einen 60 Comi 1998, S. 189. 61 Doni 1994, S. 163-164. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 47 ‘natürlichen’ Ursprung: In dieser Weise sind die Felder gewissermaßen ‘natürlicherweise’ am produktivsten, ihre Funktion am gewinnbringendsten und zweckmäßigsten erfüllt. Zunächst wird das Beispiel der Felder angeführt, deren Nutzung in der Natur liegt und damit gerechtfertigt ist. Dass dann die Übertragung dieser vermeintlichen Natürlichkeit auch auf andere Lebensbereiche stattfindet, lässt den Eindruck entstehen, auch in diesen (sozialen/ gesellschaftlichen/ politischen) Bereichen sei die Zuweisung ‘natürlich’ und damit legitim. 62 In diesem Austausch werden die ‘neue Welt’ und ‘unsere Welt’ benannt und beschrieben. Pazzo vervollständigt die Aussage von Savio, indem er den Vergleich mit der eigenen Welt aufzeichnet. Die Aufzählung, die er dabei einführt, bietet außerdem eine Parallele zur Lando’schen Aufzählung im kleinen Rahmen. Darauf komme ich unten noch einmal zurück. Während die Antwort von Pazzo den direkten Vergleich mit den Gebräuchen derjenigen ihrer gegenwärtigen Gesellschaft anstellt, bleibt der Verweis an einer weiteren Stelle, in der die Positionen der Kranken und der Mediziner diskutiert werden, implizit: «PA. […] Ma chi s’amalava? SA. Andava nella strada degli spedali, dove era curato, visitato da’ medici, e almanco la lunga sperienza e tanti medici che non avevano altro che fare e ponevano tutto il lor sapere in curare , faceva far bene ogni cosa». 63 Der Text hat bereits an einer früheren Stelle seine Kritik gegenüber den «medici ignoranti e avidi» («ignoranten und gierigen Ärzten») geäußert. 64 Der Verweis ist also vermutlich nicht nur im Rahmen dieser literarischen Utopie zu verstehen, in der jeder Bürger sich dem eigenen Beruf entsprechend nur einer bestimmten Aufgabe widmet, sondern bezieht sich auf das spezifische Verhalten bestimmter Gruppen in der kritisierten korrupten, realweltlichen Gesellschaft. In dieser Passage zur ‘neuen Welt’ werden nicht die Ausbildung oder die Methoden der Mediziner verurteilt, sondern es wird eine ethische Frage aufgeworfen, die freilich als Teil eines kohärenten Bildes einer allgemeinen strikten Verteilung der Aufgaben präsentiert wird: «non avevano altro che fare e ponevano tutto il lor sapere in curare» («sie hatten nichts anderes zu tun und steckten ihr ganzes Wissen in die Behandlungen»). Worauf sich die Kritik implizit bezieht, soll ex negativo herausgelesen werden: Die Ärzte, die Savio sonst kennt, beschäftigen sich durchaus mit anderen Dingen. In beiden Fällen wird das fiktive ideale Land als Widerspiegelung, als Verkehrung der gegenwärtigen Welt der Erzähler aufgeführt; es konstituiert sich als Ge- 62 Diese Beobachtung wird von Christian Rivoletti weitergeführt, indem er von der ikonografischen Gestaltung der Mondi ausgeht und das naturgegebene Modell in einem Modell der Perfektion entdeckt, dass der menschliche Körper als politische Metapher den sozialen Körper symbolisiert (vgl. Rivoletti 2003, S. 95-97). 63 Doni 1994, S. 165 (meine Kursivierung). 64 Doni 1994, S. 165n. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 48 gensatz. Das Gesamtbild, das sich als ideale Welt präsentiert und die Struktur von Morus’ Modell nachahmt, zeigt eine Pluralität von Bezugspunkten, die nur mithilfe von Donis Wortkunst verstanden werden können. Es geht nicht nur um die Kritik an singulären Aspekten, die durch vereinzelt gesetzte Inversionen deutlich gemacht werden könnte. Vielmehr entsteht Donis Utopie aus der Zusammensetzung von unterschiedlichen Elementen, die sich aus der Form des Dialogs ergeben. Paolo Procaccioli analysiert die Spannung zwischen der Makrostruktur und den einzelnen Teilen von Donis Texten der 1550er-Jahre und erkennt ihre Besonderheit darin, dass sie «gerade vom Kontrast zwischen den sehr starken Begründungen des Gesamtprojekts und der klaren Charakterisierung der dem Segment eigenen Inhalte (sei es ‘Welt’, ‘Hölle’ oder ‘Argumentation’) leben». 65 Denkt man wieder an die Bewirtschaftung der Felder, bezieht sich die Auflistung «biade, vini, olii, frutti, grani, legne e fieni» («Hafer, Weine, Öle, Früchte, Weizen, Holz und Heu») auf die varietas , auf die Vielfalt der Produkte, die in der Welt erzeugt werden können. Die Aufzählung spielt oszillierend auf die Vielfalt, aber auch auf das Bild einer großen Menge an Waren an, das über die Akkumulation erzeugt wird. Aus diesem gemischten Sortiment entsteht eine Kritik an der Gier der Menschen, die «zu viel (Unterschiedliches)» wollen: «il terreno non è buon per tante cose, la natura sua non lo comporta, però una ne fa bene e dieci male» («das Feld ist nicht gut für mehrere Dinge, seine Natur erlaubt es nicht, daher trägt es eine Sache gut und zehn Sachen schlecht»). Wie am impliziten Beispiel der Mediziner gezeigt wurde, baut die polemische Ebene mit einzelnen Zielobjekten auf der Konstruktion einer fiktiven Stadt auf, die bestimmte Grundregeln radikal verallgemeinert. Das Gesamtkonzept dieser idealen Stadt wird aber wiederum dadurch relativiert, dass der Erzähler ihre Fiktionalität betont. Die dargestellte Gesellschaft basiert nicht nur auf der Bedingung der Mäßigung und Enthaltung von höfischen Banketten und Völlereien, sondern auch auf der Gleichbehandlung aller Bürger sowie auf Abschaffung des Privateigentums: «ciascuno portava giù il frutto della sua fatica e pigliava ciò che gli faceva bisogno» 66 Die Mäßigung dient in der ‘neuen Welt’ der Befriedigung materieller Bedürfnisse, zu denen nicht nur die Ernährung zählt: Dort wird auf bestimmte soziale Strukturen komplett verzichtet, mit dem paradoxen Argument, dass die damit verbundenen Probleme nicht behoben werden könnten. Auf die monogame Ehe wird zum Beispiel verzichtet, um den Menschen Kuppelei, Zurückweisung, Streit, Intrigen, von den Frauen verursachten Schaden, Betrug wegen der Mitgift zu ersparen. Eine offene Gesellschaftskritik ist aber scheinbar nicht 65 Vgl. Procaccioli 1994, S. 14: «viv[ono] proprio del contrasto tra le fortissime ragioni del progetto complessivo e la netta caratterizzazione dei contenuti propri del segmento (fosse esso ‘mondo’, ‘inferno’ o ‘ragionamento’)». 66 Doni 1994, S. 166. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 49 vorzufinden, da die dargestellten Ehen hier eher der Kasuistik ähneln, die in Boccaccios Novellen auftritt: «Il vituperio non ci sarebbe, l’onore non sarebbe sfregiato, i parentadi non sarebbon vituperati, non sarebbono ammazzate le moglie, non uccisi i mariti, non accaderebbono alla giornata quistioni, le femine non sarebbon cagione di infiniti mali, sarebbeno spenti i tumulti delle nozze, le nascoste fraudi de’ maritazzi, le ruffianerie, le liti delle recuse, gli assassinamenti delle doti e le trappole degl’inganni degli scelerati.» 67 Jeder Person in diesem Land wird außerdem durch zwei oder drei Straßen mit «osterie» die gleiche Menge desselben Gerichts zur Verfügung gestellt: «PA. Del mangiare? SA. Eranvi due strade o tre d’osterie, e quello che cucinava l’una, cucinava l’altra, e davano tanto da mangiare all’uno quanto all’altro. Questi non avevan altra faccenda che dar da mangiare alle persone […]; ed erano compartite le bocche, perciò che toccava per osteria, verbi grazia, cinquanta, cento o dugento uomini, e come avevano dato da mangiare a tanti quanto gli toccavano, serravano la porta, talmente che tutti andavano di mano in mano insino all’ultima.» 68 Auch in diesem Fall basiert die Struktur des Bildes auf der strikten Verteilung der Aufgaben: Die Unterstreichung der Tatsache, dass «questi non avevan altra faccenda che dar da mangiare alle persone», dient der bereits genannten Verallgemeinerung der «natürlichen» Ordnung der Welt und wird mit der Mäßigung und der Sittsamkeit in Verbindung gebracht. Wie bereits erwähnt, stellt Pazzo auch bestimmte Fragen zu Aussagen, die sich aufgrund seiner Perspektive aus der communis opinio heraus als paradox erweisen. Wenn die Ernährung - ganz im Gegensatz zum Schlaraffenland - in einem proportionalen Verhältnis zur Arbeit steht, fragt Pazzo, wovon dort Faulenzer leben könnten? Die Antwort enthält ein neutestamentarisches Zitat: «PA. […] Ma chi non volesse lavorare, come andrebbe ella? SA. Chi fossi poltrone e gli ne fossi stato sopportato una, due e tre, s’ordinava che non mangiasse se non fatto il suo lavoro. PA. Chi non lavora non mangia adunque. SA. Domine, ita ; e tanto avea da mangiare l’uno come l’altro, come t’ho detto.» 69 67 Doni 1994, S. 168. 68 Doni 1994, S. 164. 69 Doni 1994, S. 168. Aus dem 2. Brief des Paulus an die Thessaloniker, 3, 10: «quoniam si quis non vult operari nec manducet». Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 50 Daraufhin reagiert Pazzo wiederum: «PA. Un goloso vi sarebbe stato male. SA. Che golosità volevi tu che gli venisse o apetito, se non aveva gustato altro che di sei o dieci sorte vivande, il più più. PA. È ben fatto, bene; e piacemi questo ordine d’avere spento quel vituperio de le ubriachezze, de’ vomiti, di quello stare a crapulare cinque e sei ore a tavola. Sì che la sta bene questa cosa. So che le composte, le zuccherate, le savorate, le zanzaverate non davano troppo disturbo alla voracità della gola nostra insaziabile. E la carestia non doveva dar loro molto fastidio.» 70 Ziel dieser fiktiven Welt wäre es, das Begehren unter Kontrolle zu halten, indem durch strenge Maßnahmen den Bürgern Mäßigung auferlegt wird. Die kontrastive Darstellung ermöglicht es aber an dieser Stelle durch die Stimme von Pazzo, die Laster der Welt («vituperio de le ubriachezze, de’ vomiti, di quello stare a crapulare cinque o sei ore a tavola») zu denunzieren. Comi beschreibt es folgendermaßen: «Es ist eine anspruchslose Verpflegung […], die Donis Idealstadt […] von den Gewohnheiten der Reichen dieser Welt deutlich abhebt: Trunkenheit und Erbrechen kennt man nicht; Gefräßigkeit und ausgedehnte Gelage sind ebenfalls unbekannt.» 71 Sie erkennt allerdings nicht, dass die Erwünschtheit dieses Ideals im Dialog selbst infrage gestellt wird. 72 Pazzos Einwand verweist denn auf die Besonderheit dieser Stadt: Schlemmer und Faulenzer («chi fossi poltrone») würden hier im Gegensatz zum Schlaraffenland ausgeschlossen bleiben. Da sie nur eine begrenzte Anzahl an Speisen kennen, könnten sie dieses Begehren gar nicht entwickeln. Dass die Hungersnöte die enthaltsamen Einwohner nicht sehr plagten, so wie der Überfluss die unersättliche Völlerei («voracità della gola nostra insaziabile») nicht stört, ist eine paradoxe Provokation, mit der Pazzo die Argumentation abschließt, indem er sich von dem Ausgangspunkt entfernt, wonach trotz der Tatsache, dass die Verteilung der Nahrungsmittel für alle gleich ist, diejenigen, die nicht arbeiten, nicht essen. Die Provokation besteht darin, nicht anzuerkennen, dass es sehr wohl einen Unterschied gibt zwischen dem Überfluss, der für die «golosi» nie genug ist und den Hungersnöten, die nur bis zu einem bestimmten Grad auszuhalten sind. Stünde ausreichend Essen für alle zur Verfügung («sei o dieci sorte vivande»), dann wäre es nicht notwendig, ihren Zustand als «carestia» zu bezeichnen. Wenn es im Gegenteil darum geht, dass die Bewohner*innen mit wenig zufrieden gestellt werden kön- 70 Soni 1994, S. 169. 71 Comi 1998, S. 181. 72 Vgl. Comi 1998, S. 181-182. «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo 51 nen, dann entsteht dieses Bild als radikales und kritisches Pendant der ‘realen Welt’. Darüber hinaus bezieht sich das Wort «nostra» in dem Syntagma «gola nostra insaziabile» wie bei Lando auch auf die Stellung des Sprechers und auf die Gemeinschaft, der er angehört. In diesem Fall ist es Pazzo und bezieht sich wahrscheinlich auf die ‘reale Welt’, zu der auch Savio gehört. Dabei stellt sich nicht die Frage, wessen Leben in dieser oder jener ‘Utopie’ dargestellt wird, sondern ob diese als Wunschvorstellungen oder als literarisch experimentelle Zuspitzungen zu interpretieren und zu beurteilen sind. Die von der Forschung hierzu vorgetragenen Antworten reichen von der spielerischen Fiktion bis zur radikalen theoretischen Auseinandersetzung. Um die hohe Literarizität dieses Texts zu veranschaulichen, möchte ich abschließend die beiden Dialogfiguren genauer in den Blick nehmen. Christian Rivoletti unterstreicht in seiner bereits erwähnten Studie Le metamorfosi dell’utopia die Funktion des Apologs, der die Erzählung von Savio einleitet. Der Apolog sei als grundlegender Bestandteil der Utopie Donis zu verstehen. Dabei geht es um das topische Motiv des Regens der Torheit. Die Weisen schützen sich vor diesem Regen mit dem Ziel, später die Welt der Narren zu regieren. Da sie sich jedoch in der Minderheit befinden, werden sie nach dem Regen von den Narren dazu gedrängt, sich ihrem Verhalten anzupassen. Durch diese Erzählung in der Einleitung von Mondo pazzo e savio wird die Gesamtstruktur des Dialogs bestimmt: «Così i savi entrarono nel numero dei matti contra a lor voglia. Io adunque, pensando di fare un mondo de’ savi e aver nome Savio, dubito di non diventar pazzo e fare il mondo de’ pazzi, ma io vi giuro, per fede mia, che, se voi savi che leggete non entrate ancor voi nel numero de’ pazzi, che noi saremo tanti pazzi che a vostro dispetto vi faremo entrare.» 73 Es wird hier ein Rahmen installiert, der auf den gesamten Dialog Auswirkung hat. Dies geschieht sowohl auf der Ebene der Doppeldeutigkeit und in gewisser Weise Austauschbarkeit der Rollen der beiden Sprecher als auch durch Hervorhebung der Unzuverlässigkeit Pazzos, seiner Worte und seiner Ansichten. Insbesondere signalisieren mehrere Stellen des Dialogs zur ‘Mondo savio e pazzo’, dass die Position des Pazzo an sich paradox ist, da sie nicht ernst genommen werden kann und seine Stimme die vermeintliche communis opinio repräsentiert. Aus texthistorischer Sicht fällt auf, dass eine Textstelle, in der die Glaubwürdigkeit der Sprecher offen thematisiert wird, in späteren autorisierten Drucken fehlt; die Varianten könnten auf eine besondere Relevanz dieser Konstellation hindeuten. Es handelt sich dabei um eine Äußerung über 73 Doni 1994, S. 161. Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» 52 «Un goloso vi sarebbe stato male» Roberta Colbertaldo die Beziehung zu Frauen: «PA. Quell’avere le donne in comune non mi piace. SA. Anzi, per esser cosa da pazzi, ti arebbe a piacere». 74 Der communis opinio , die Pazzo berechtigterweise vertritt, wird in diesem Fall nicht widersprochen, sondern sie wird umgekehrt dem Horizont des Pazzo entnommen. Insofern stellt sich die Frage, ob insgesamt die «cose da pazzi» in der ‘neuen Welt’ zu gelten haben und, wenn es so ist, weshalb ausgerechnet Pazzo seine Vorliebe für die Monogamie ins Gespräch bringt. Dies weist zurück auf die von Lando so stark geprägte Gattung der Paradossi , die in der verkehrten Welt von Doni eine gesellschaftliche Kritik ermöglicht, die aber nur durch die Doppeldeutigkeit des Dialogs und durch die Anspielungen auf heterogene literarische und religiöse Quellen zustande kommen kann. 5 Fazit Der Themenkomplex des Überflusses erweist sich als sehr prägend für die ‘komische Utopie’, und die venezianische literarische Produktion des 16. Jahrhunderts bietet in dieser Hinsicht ein fruchtbares Feld für die Erforschung der Besonderheit der hybriden Gattungen, die von den zu dieser Zeit aktiven Autoren, die als Exzentriker - «manieristi e irregolari» - oder poligrafi bezeichnet werden, gewählt wurden. Dabei sind ostentative intertextuelle Bezüge und Zuschreibungen an antike und humanistische Autoritäten grundlegende Merkmale, die das Hervortreten eigenständiger politischer oder ideologischer Thesen programmatisch auszuschließen scheinen. Diesem Zweck dienen auch eigenartige Zusammensetzungen und stillschweigende Plagiate. Paolo Cherchi hat vor einigen Jahren mustergültig bewiesen, dass dieses Verfahren den Wert des literarischen Produkts im Vergleich zu den Klassikern des Jahrhunderts nicht schmälert. 75 Das Verfahren wird demzufolge als Bestandteil der Poetik betrachtet und ist relevant, weil es eine fiktionale Realität schafft, die immer auf etwas anderes verweist, auf die Welt der Literatur und auf eine Außenwelt, die ebenso fiktional ist. Die Untersuchung der Motivik der alimentären Fülle innerhalb dieser Texte dient dazu, den Zusammenhang mit extratextuellen Aspekten im Zeichen der Komik zu verdeutlichen, weil diese per se als niedrig betrachtet werden. Auf der einen Seite handelt es sich um Motive der Fülle, die von einer vorgegebenen literarischen und gesellschaftlichen Norm abweichen und die literarischen Vorbilder zersplittern und umwandeln. Auf der anderen Seite findet der Überfluss in dieser literarischen Form eine spezifische Darstellung. 74 Doni 1994, S. 166. 75 Vgl. Cherchi 1998. 53 Roberta Colbertaldo «Un goloso vi sarebbe stato male» In Landos Text ist der Verweis auf den Überfluss entweder enzyklopädisch oder wird von der Akkumulation einzelner Elemente ausgelöst, die auf weitere Diskurse - moralischer, medizinischer und sozialer Art - der damaligen Gesellschaft anspielen. Die diesbezüglichen Anspielungen bilden jedoch kein umfassendes Gesellschaftsbild. Sie sind spielerisch aneinandergereiht und deuten auf unwahrscheinliche Zusammenhänge, die die Glaubwürdigkeit der Thesen nicht voraussetzen. Übliche Lebensmittel, nicht Gerichte, werden als völlig besondere menschliche Erfindungen betrachtet. So entsteht eine kulinarische Landkarte Italiens, die sich allzeit zwischen Realität und Fiktion bewegt. In Donis Text wird der Bezug zum Überfluss wiederum in einem kontrastiven Spiel der Dialogfiguren angesprochen: Savio plädiert für eine von Mäßigung charakterisierte Gesellschaft, in der die Gerechtigkeit dadurch gesichert wird, dass allen Einwohnern, die arbeiten, die gleichen Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Denjenigen, die nicht arbeiten, werden stattdessen jegliche Lebensmittel verweigert. Pazzo beobachtet diesbezüglich zurecht, dass «un goloso vi sarebbe stato male». In der Interpretation des Dialogs wird die Perspektive Pazzos nicht nur durch die einrahmende fabelhafte Erzählung «des Regens» zu der Beziehung zwischen Pazzi und Savi aufgewertet, sondern auch durch das Syntagma «gola nostra insaziabile» erweckten Verdacht, dass Pazzos Einwand keine belanglose Schlussfolgerung ist, sondern ein begründeter Hinweis auf die Realität, in der die beiden Protagonisten leben. Pazzos Provokation kann als eine Möglichkeit gelesen werden, die These des Weisen zu bekräftigen, aber auch - angesichts seines Status als Stimme der Wahrheit, der allgemeinen Meinung, die niemand ausspricht - als eine Möglichkeit, den Fokus auf etwas anderes als medietas oder Enthaltung zu lenken. Hierfür öffnet sich an dieser Stelle ein Raum, um die Esslust zu definieren und diese paradoxerweise abzuschaffen. In beiden Texten ist der Rahmen der Fiktion nicht nur intradiegetisch für einen Protagonisten, sondern auch für die Leser*innen nicht auflösbar. Die Gattung des Pseudo-Traktats, die sich sowohl mit dem utopischen Dialog als auch mit der fantastischen Erzählung überschneidet, ermöglicht es ihnen, ernsthafte Gesellschaftskritik und ironisches Spiel zusammenzufügen. Die angewandten raffinierten Wortkünste integrieren die Anspielungen auf materielle Elemente in die Textur ihrer komischen Utopien. Die Einbettung ‘niedrigerer’ Themen und insbesondere gastronomischer Bezüge erzeugt satirische Effekte, nicht so sehr aufgrund des Aufeinanderprallens unterschiedlicher extratextueller Ebenen, sondern durch multiple literarische Verfahren. 54 Abstract. L’articolo elabora il concetto di ‘utopie comiche’ attraverso lo studio delle tecniche compositive di Ortensio Lando e Anton Francesco Doni, poligrafi attivi nell’ambiente delle stamperie veneziane a metà del sedicesimo secolo. In primo luogo, viene delineato il concetto di ‘utopie comiche’ sullo sfondo delle caratteristiche della cuccagna e del mondo alla rovescia e viene descritta la tecnica ‘combinatoria’ dei due autori. In seguito, vengono analizzati due testi che per motivi diversi si possono accostare al genere dell’utopia. Si tratta, in particolare, del Commentario delle più notabili & mostruose cose d’Italia & altri luoghi, di lingua Aramea in Italiana tradotto, con un breve Catalogo dell’inventori delle cose che si mangiano & delle bevande ch’oggidi s’usano di Ortensio Lando e il ‘Mondo savio e pazzo’, capitolo memorabile dei Mondi di Anton Francesco Doni. Entrambi i testi rielaborano il modello di Tommaso Moro facendo emergere contraddizioni e paradossi che il modello sembra celare. Particolare attenzione viene rivolta al potenziale comico del motivo alimentare nella caratterizzazione di una società ideale, sia in relazione alla produzione e approvvigionamento del cibo che al suo consumo. Summary. The article explores the concept of ‘comic utopias’ through the study of the writing techniques of Ortensio Lando and Anton Francesco Doni, polygraphers active in the Venetian printing presses in the mid-16th century. Firstly, the concept of ‘comic utopias’ is outlined against the backdrop of the characteristics of cuccagna and the upside-down world, and the ‘combinatory’ technique of the two authors is described. In the following, two texts are analysed that, for different reasons, can be associated with the utopian genre. These are, in particular, the Commentario delle più notabili & mostruose cose d’Italia & altri luoghi, di lingua Aramea in Italiana tradotto, con un breve Catalogo dell’inventori delle cose che si mangiano & delle bevande ch’oggidi s’usano by Ortensio Lando and the memorable chapter entitled ‘Mondo savio e pazzo’ from Anton Francesco Doni’s Mondi . Both texts rework Thomas More’s model, bringing out contradictions and paradoxes that the model seems to conceal. Particular attention is paid to the comic potential of the food motif in the characterisation of an ideal society, both in relation to the production and procurement of food and its consumption. 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