Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2023-0015
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2023
4589
Fesenmeier Föcking Krefeld OttMoritz Rauchhaus: Hagiographie für Notare. Über urbane Lektüren von Heiligenlegenden im Spätmittelalter, 2 Bände, Marburg: Büchner 2021. 452 und 454 Seiten, je Band € 38,00 (Print), € 30,00 (ePDF)
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2023
Andrea Baldan
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172 DOI 10.24053/ Ital-2023-0015 In Abwandlung von Ossip Mandelstams Schwärmerei ließe sich sagen: ‘Großartig ist der paläographische Hunger der heutigen Italiener, ihr unersättlicher, akribischer Appetit auf Philologie, ihr authentisches Verlangen nach dem ursprünglichen Reim - il disio ! ’ Die neuerdings vorgelegte Edition und Interpretation von Nino Mastruzzo und Roberta Cella liefert dafür ein mustergültiges Beispiel. Rafael Arnold Moritz Rauchhaus: Hagiographie für Notare. Über urbane Lektüren von Heiligenlegenden im Spätmittelalter, 2 Bände, Marburg: Büchner 2021. 452 und 454 Seiten, je Band € 38,00 (Print), € 30,00 (ePDF) Moritz Rauchhaus’ Dissertation Hagiographie für Notare. Über urbane Lektüren von Heiligenlegenden im Spätmittelalter widmet sich den literarischen Praktiken des hagiographischen Schreibens und den Lesegewohnheiten der sozialen Gruppe der Notare im Italien des 14. Jahrhunderts und fokussiert sich auf die Analyse einer ursprünglich in Verona zirkulierenden Handschrift, in der eine Sammlung exemplarischer beziehungsweise hagiographischer Legenden überliefert ist. Das Werk ist in zwei Bände unterteilt. Der erste Band befasst sich mit einer Studie zur Gattung der Heiligenlegenden, dem Marienstoff und der Hs. Florenz, Biblioteca Riccardiana 1661. Der zweite Band bietet eine Edition und eine deutsche Übersetzung der in der genannten Handschrift erhaltenen Legendenkompilation. Das erste Kapitel enthält eine ausführliche Beschreibung des Kodex und stellt Hypothesen zur Herstellung der Handschrift auf. Obwohl Rauchhaus einräumt, dass es nicht möglich ist, die Besitzgeschichte dieser Kompilation zu rekonstruieren, stellt der Verfasser vier Fakten fest: Die Texte sind in der veronesischen Vernakularsprache verfasst, es handelt sich um Prosalegenden (mit Ausnahme des ersten Textes, des in terza rima verfassten Pianto della vergine Maria ), die Handschrift wurde zwischen 1342 und 1371 zusammengestellt, und ihr erster Besitzer war der Notar Filippo dei Vari. Das zweite Kapitel bietet einen kurzen, jedoch umfassenden historischen Überblick zum italienischen und veronesischen Notariatsmilieu im 14. Jahrhundert, der nicht nur für Studierende, sondern auch für Expert*innen von großem Nutzen sein kann. Lobenswert ist die Behandlung der Notariatsschicht, der sozialen Gruppe, die am meisten mit der volkssprachlichen Textualität vertraut war, sowohl aus einer allgemeinen Perspektive als auch am Beispiel eines bestimmten Notars, des Pratesers Lapo Mazzei, und seiner Beziehung zur Schrift. Buchbesprechungen und Kurzrezensionen 173 Die verschiedenen Theorien zur Gattung der Legende im Mittelalter werden im dritten Kapitel behandelt, in dem sowohl Fragen zur Form (insbesondere zur Einhaltung des formalen Prinzips der brevitas ), zum Inhalt und zur Rezeption der Legende durch das mittelalterliche Publikum als auch zu ihrer Funktion als religiös-didaktische Erzählung diskutiert werden. Auf der Grundlage seiner Analyse stellt der Verfasser die Hypothese auf, dass das Genre der Legende durch die Fokussierung der Erzählung auf eine Heiligenfigur, ihr Leben und ihre Mirakel zum Zweck des Kultes gekennzeichnet ist, ohne dass feste Voraussetzungen oder formale Regeln eingehalten werden müssen, also ohne, dass die Länge des Textes, die Abfassung in Prosa oder Versen und die Wahl von Latein oder Vernakularsprache die Gattung bestimmen. Im vierten Kapitel werden die erarbeiteten theoretischen Grundlagen anhand verschiedener Texte, die dem Marienkult gewidmet sind, disputiert. Die Fokussierung auf den Marienstoff erklärt sich auch durch dessen Relevanz in der von Rauchhaus untersuchten Legendensammlung. Der Verfasser geht aus liturgischer Perspektive auch auf das Verhältnis dieser Marienlegenden und -predigten zum spätmittelalterlichen Marienkult ein und versucht, die verschiedenen liturgischen Funktionen der Texte einzuordnen. Er analysiert auch, wie sich im 14. Jahrhundert die hagiographische Erzählung zu Maria durch den Einfluss eines städtischen Laienpublikums auf die Schreibpraxis und damit auch auf den Marienkult verändert hat. Anhand von drei verschiedenen Beispielen - eines davon ist in der untersuchten Legendensammlung überliefert - gelingt es Rauchhaus, die Veränderungen in der hagiographischen Schreibpraxis zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert und die Unterschiede zur früheren Hagiographie aufzuzeigen. Im fünften Kapitel folgt eine Zusammenfassung des Inhalts der Handschrift mit einer präzisen Diskussion der Gattungszuordnung der einzelnen Texte. Für alle Texte werden ausführliche Informationen nicht nur zum Inhalt, sondern auch zu Tradition, Stil und möglichen intertextuellen Beziehungen zu anderen Werken gegeben. Die Kapitel sieben und neun, durchsetzt mit nützlichen Zwischenfaziten, sind einer detaillierten Untersuchung der Leggenda di Vergogna und der Leggenda di Rosana gewidmet, die aufgrund der Abwesenheit einer Erzählung vom Leben einer heiligen Figur eine Sonderstellung in der Kompilation einnehmen. Neben einer Analyse, die den religiös-dogmatischen Wert dieser Texte berücksichtigt und ihre Übereinstimmung mit der christlichen Lehre untersucht, legt Rauchhaus auch eine Abhandlung der formalen und inhaltlichen Merkmale vor, die beide Erzählungen dem Genre der Legende näherbringen. Durch ein close reading der beiden Legenden versucht der Verfasser, sie sowohl aus einer narratologischen als auch aus einer lexikologischen Perspektive zu analysieren, um ihre Buchbesprechungen und Kurzrezensionen 174 Gattungszuordnung zwischen ‘Legende’ und ‘Novelle’ zu bestimmen. Darüber hinaus zeigt Rauchhaus am Beispiel dieser Texte die Entwicklung von Motiven und Themen, die für den Marienstoff typisch sind, in neuen narrativen Rahmen, die durch den Einfluss eines Laienpublikums und nichtklerikaler Autoren verändert wurden. Schließlich befasst sich Rauchhaus mit der Rolle und Bedeutung der Scham, eines Sammelbegriffs für verschiedene Gefühle und Gemütszustände, die einen grundlegenden Wert in dem städtischen sozialen Kontext darstellt, aus dem die Sammlung der untersuchten Legenden stammt. Nach Ansicht des Verfassers stellt dieses Gefühl einen Interpretationsschlüssel nicht nur für die Lektüre der einzelnen Texte und ihres Vokabulars dar, da die Scham die in ihnen dargestellten Situationen motiviert, sondern auch für das Aufspüren der Beziehung zwischen den hagiographischen Legenden und ihren Rezipient*innen, deren Interesse in der Beobachtung und dem Verständnis sozialer Verhaltensweisen im städtischen Kontext des Italiens des 14. Jahrhunderts lag. Der zweite Band der Dissertation beginnt mit einer philologischen Einleitung zur Handschrift und den Editionsprinzipien der Ausgabe. Auffallend ist, dass das erste Kapitel des ersten Bandes abgesehen von einigen Absätzen wiederholt wird. Hierdurch wird das Verständnis des Abschnittes im Vergleich zu anderen Kapiteln erschwert. Wünschenswert wäre an dieser Stelle eine Textkritik, die auf die Sprache der Kompilation eingeht und erklärt, warum es sich um ein veronesisches volgare handelt, was zwar richtig ist, aber weder diskutiert noch begründet wird. Zu beachten ist, dass es sich hierbei um keine kritische Ausgabe handelt. Der Verfasser fügt Änderungen in den Text ein, die mit der besseren Lesbarkeit begründet werden, wie z. B. «teco» statt ‘techo’, um eine modernere sprachliche facies wiederzugeben. In anderen Fällen werden solche Änderungen nicht vorgenommen, weil sie Veroneser Ausdrücken entsprechen - was lobenswert ist -, wie z. B. «mare» statt ‘madre’. In wieder anderen Fällen werden latinisierende Schreibweisen wie «sancto» anstelle von ‘santo’ beibehalten. Die restitutio textis entspricht in der Tat nicht immer den vorgegebenen Editionsprinzipien. Dies führt zu Textstellen, in denen Lesarten wie «assay» (S. 112), «uhomo» (S. 118) 1 oder «usscìe» (S. 230) beibehalten werden, obwohl sie nach den von Rauchhaus gewählten Editionsrichtlinien geändert werden sollten, insbesondere wenn andere graphische Konventionen wie Mehrfachkonsonanten, z. B. ‘danpno’ oder ‘singnore’, vermieden werden. Eine Diskussion über mög- 1 In diesem Fall könnte es sich um einen Transkriptionsfehler handeln, weil die Lesart in anderen Textstellen in der Form «huomo» erscheint und weil andere Lesarten, wie z. B. «Paradiso Dancto» (S. 244) statt ‘Paradiso Sancto’, aufgrund eines Tippfehlers irrtümlich zu sein scheinen und nicht, weil es sich um bereits in der Handschrift überlieferte Fehler handelt. Buchbesprechungen und Kurzrezensionen 175 DOI 10.24053/ Ital-2023-0016 liche überlieferte Fehler, die wahrscheinlich emendiert, aber nicht in einen kritischen Apparat aufgenommen worden sind, wäre eine sinnvolle Ergänzung gewesen. Außerdem hat Rauchhaus nützliche Paratexte in den Text eingefügt, wie die Angabe der Folia, aber leider nicht die Nummerierung der Verse des Pianto und der Paragraphen der Prosatexte, die für die Lesenden eine große Hilfe hätten sein können. Sehr lobenswert ist jedoch die von Rauchhaus bereitgestellte deutsche Übersetzung, die schwer verständliche Texte - ihre Schwierigkeit hängt nicht nur von der Archaizität der Sprache ab, sondern auch von der Tatsache, dass sie in der veronesischen Vernakularsprache geschrieben sind - einem deutschen Publikum zugänglich macht. Dies bietet ein sehr nützliches Mittel, um den Inhalt dieser Legenden zu erforschen. Darüber hinaus ist die Qualität der Übersetzung hervorzuheben, die in den wenigsten Fällen von der wortwörtlichen Struktur des Textes abweicht, um den Sinn ins Deutsche zu übertragen. Dies gilt sowohl für die Übersetzung von Gedichten als auch von Prosatexten. Anzuerkennen ist auch, dass Rauchhaus auf eine archaisierende oder komplizierte Sprache verzichtet, ohne dabei jedoch Genauigkeit in der Übersetzung einzubüßen. Nicht zuletzt handelt es sich um eine sehr vergnügliche Übersetzung, die dem Publikum einen hervorragenden Einstieg in dieses mittelalterliche Manuskript bietet. Andrea Baldan Giuseppe Antonio Camerino: I nterrogare i testi. Da Dante a Leopardi. Roma: Edizioni di Storia e Letteratura 2022, pp. 233 + xvi, € 28,00 I primi capitoli sono dedicati a Dante e sono particolarmente suggestivi e innovativi. Nel primo il motivo centrale e pur variegato dell’acqua, dal poeta collegato col tema dell’ingegno, racchiude una articolata invenzione di significati, a cominciare dal nesso molto originale creato dal poeta tra i lemmi acqua e ingegno , tramite una catena di richiami: dai casi mitologici, legati all’elemento equoreo (si pensi al mito di Dafne), alla ripresa della metafora dell’acqua anche e soprattutto su un piano biblico-cristiano; nesso che collega in varie fasi il tema della fede e l’incondizionata vocazione alla poesia da parte dell’autore. Una costruzione inventiva preparata già nel paradiso terrestre ( Pg . XXVIII, 121-126) allorché l’ acqua , che alimenta l’ ingegno , è tenuta nettamente distinta dall’acqua come elemento naturale, che sgorga per «voler di Dio» da una sorgente perenne. Nel capitolo secondo («[ … ] di tratti pennelli avean sembiante» ( Pg. XXIX, 75) . Dante e il linguaggio delle percezioni ) l’ analisi testuale rivela come il poeta perseveri nel costruire proprio nei canti finali del Purgatorio uno specifico linguaggio retorico delle percezioni sensibili, mai statiche, bensì in movimento e Buchbesprechungen und Kurzrezensionen
