eJournals Italienisch 45/89

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2023-0017
61
2023
4589 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Fabio Marri: La Lingua del covid. Italiano pubblico e privato sotto attacco virale. Limena: libreriauniversitaria 2023, 304 Seiten, € 24,90

61
2023
Maria Lieber
Christoph Oliver Mayer
ita45890180
180 DOI 10.24053/ Ital-2023-0017 Buchbesprechungen und Kurzrezensionen Fabio Marri: La Lingua del covid. Italiano pubblico e privato sotto attacco virale. Limena: libreriauniversitaria 2023, 304 Seiten, €-24,90 Wer kennt noch all die Wörter, die in Pandemie-Zeiten aus dem Boden gestampft wurden und mit denen wir von einem auf den anderen Tag unser Leben umorganisieren mussten? Lockdown , Social Distancing , Kontaktsperre , Mundschutz , Homeschooling , Herdenimmunität , Triage , Tröpfcheninfektion , AHA-Regel, G1-G2-G3-Regel, Aerosol, Alltagsmaske, Antikörpertest, Alphavariante stellen dabei nur die ersten des 400 Wörter umfassenden und seit Mitte März 2020 zusammengestellten Glossars des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache dar (https: / / www.dwds.de/ themenglossar/ Corona). An Coronaparty, Coronaradweg , Covidiot , Faustgruß oder freitesten als umgangssprachliche Termini mag sich auch der ein oder andere noch erinnern, spezifischere Ausdrücke allerdings haben wir schon lange wieder aus unserem Gedächtnis gestrichen oder gerne verdrängt. Dabei haben wir doch zumeist nur den Blick auf unsere eigene Kultur lenken können, auf die sprachliche Umgebung, in der wir uns während der Corona-Zeit aufgehalten haben. Aus diesem Grund ist es umso erhellender, im Nachgang, mit Abstand und in kritischer Distanz nunmehr sich doch anzuschauen, wie andere, in diesem Falle die Italienerinnen und Italiener, sprachlich mit der Herausforderung der Pandemie umgegangen sind. So verlockend es wäre, es ist hier nicht der Ort, dem Vergleich der beeindruckend zahlreichen fast zeitgleich erschienenen einschlägigen Arbeiten hochkarätiger italienischer Sprachwissenschaftler: innen zu Entstehung, Entwicklung und Wandel der linguistischen Reflexion um das Corona-Virus nachzugehen: Cortelazzo 2020, 2021, Sgroi 2020, Pietrini 2020, 2021 und Marri 2023 beobachten allesamt die ‘COVID-Sprache’ zwar in statu nascendi und quasi im Live-Streaming, «in Echtzeit», wie Volkmer/ Werner 2020 schreiben. 1 jedoch behandeln sie einen jeweils anderen Zeitabschnitt des Geschehens und können in der Zusammenschau einen sehr guten Gesamteinblick geben. Das wiederum zuletzt erschienene Werk von Fabio Marri, das die anderen genannten Studien mit aufnimmt, beeindruckt schon deshalb, weil es auf 301 Seiten den Leser mitnimmt auf eine sprachwissenschaftliche Reise durch die Geschichte rund um COVID, die nicht nur die drei Jahre der Pandemie von 2020 bis 2022 umfasst, sondern einen großen Bogen schlägt von der Antike über das 18. Jahrhundert (Muratori, Vallisnieri) bis hin zu den Verwerfungen im Alltagsleben der Italienerinnen und Italiener. In seiner Begründung für das Verfassen des Buches geht Marri von strukturellen und pragmatischen Motiven aus, die in den drei Jahren des Auftauchens 1 Volkmer/ Werner 2020, S. 12. 181 Buchbesprechungen und Kurzrezensionen der Pandemie zu einem Mikrowandel in der Sprache geführt haben. Seit dem ersten Auftauchen in Wuhan Ende 2019 und dem ersten Todesfall in Italien am 21.2.2020 führte er dazu erste eigene Erhebungen durch, die er in Lingua Nostra (von 12/ 2020 bis 6/ 2022) publizierte. Als «l’anno più caldo, per la furia degli eventi e il loro rispecchiamento linguistico», bezeichnet er das Jahr 2020 (S. 8), in dem die neuen Termini mit großer Wucht durch die anlaufenden Impfkampagnen und die öffentlichen Debatten um das Virus gebildet und verbreitet wurden. Seine Untersuchung verfolgt drei Ziele und visiert dabei drei Bereiche an: a) lexikalische Innovationen (Fremdwörter, Neuschöpfungen, Ableitungen, Zusammensetzungen) b) normative Eingriffe von Seiten der «antilingua burocratica», d. h. der politischen Obrigkeiten, die vor allem in Bezug auf Sportereignisse analysiert werden c) die ‘emotive’ Propaganda oder Überzeugungsarbeit innerhalb der öffentlichen Kommunikation, wie sie paradigmatisch der von Gottvertrauen zeugende Slogan ‘andrà tutto bene’ verkörpert. Nach dem weltweiten Schock des Jahres 2020 (Tooze 2020) 2 war das Jahr 2021, so Marri, gekennzeichnet durch Möglichkeiten der Intervention und der Entwicklung von Präventionsmaßnahmen gegen das Virus, während das Jahr 2022 durch eine Rückkehr zur Normalität geprägt war: «Il 2022 ha consacrato un graduale ritorno alla normalità, contrassegnato dalla scomparsa dei notiziari epidemologici dalle prime pagine di giornali e dalla presenza di virostar nel dibattito televisivo» (S. 9). Daher stellt sich grundsätzlich die Frage, ob es hier also viel (sprachwissenschaftlichen) Lärm um nichts zu konstatieren gilt. Marri lemmatisiert für den untersuchten Zeitraum ca. 950-1000 Wörter. Das sind doppelt so viele wie das DWDS-Themenglossar zur COVID-19-Pandemie, das allerdings eine andere Absicht verfolgt hat und gleichsam bleibende Veränderungen anvisiert hat. Marris Interesse besteht in einer historischen wie zeitgenössischen Verortung von Sprache, die mit den Termini ‘epidemia’ und ‘pandemia’ beginnt. Dabei greift er auf sein großes interdisziplinäres Wissen zurück und bleibt längst kein «armchair epidemiologist» (OED, 15.7.2020), sondern bespricht kompetent und mit der ihm als in die Krise wie wir alle involviertem Bürger möglichen Distanz in einem nächsten Schritt den Namen des Coronavirus, ‘COVID’. Linguistisch präzise setzt er sich anschließend mit 2 Am 1. Mai 2020 sagte der Historiker Adam Tooze im Zusammenhang mit der COVID- 19-Pandemie in einem Interview mit der Zeitung Le Monde : «Noch nie hat die Welt einen so gewaltigen Schock erlebt, in einer solchen Größenordnung und in einem Ausmaß, das von Tag zu Tag vor unseren Augen bedrohlicher wird». 182 den Suffixen logo und logico auseinander, wie sie in ‘immunologo’, ‘virologo’, ‘infettivologo’, ‘pandemiologo’ aufscheinen. Interessant, wie Marri darauf verweist, dass Technizismen oft mit erstaunlicher Eleganz daherkommen, etwa ersichtlich an Wörtern wie ‘untore’ (dt. einer, der die Pest verbreitet), ‘esponenzialità’, ‘tsunami’ oder ‘epicentro’, während andererseits wenig überraschend Anglizismen (‘spillover’, ‘zoonotico’, ‘cluster’, ‘booster’) florieren, was Marri als «Virus anglicum» bezeichnet. Zugleich sieht er auch einige französischspanische Neologismen wie ‘triage’, ‘plateau’ oder ‘movida’ aufscheinen, während die Gegenreaktion, also die Neuprägung von Italianismen für Fach- und Fremdwörter ebenso intensiv zu spüren war, denkt man etwa an ‘immunità di gregge’, ‘tampone’, ‘stubare’, ‘mucosale’ oder ‘vax’. Schließlich gilt es noch auf die frequenten Abkürzungen zu verweisen, wobei DPCM, RO, IATE, RSA nur einige der bekanntesten darstellen. In einem weiteren Schritt greift Marri Bereiche und Ereignisketten heraus, die er näher untersucht, so etwa den in Italien besonders intensiven Lockdown und die damit einhergehenden Kontaktsperren, die veränderte Arbeitswelt mit dem ‘smart working’. Die Nutzung von Farben für behördliche Gefahrenstufen (‘zona rossa’, ‘zona arancione’, ‘certificazione verde’) sowie die Regierungskommunikation mit keineswegs neuen, aber in der Krise hochfrequent genutzten Fachtermini wie ‘asintomatico’, ‘autodichiarazione’, ‘autocertificazione’, ‘disposizioni in materia di ordinanze contingibili e urgenti’ fallen besonders auf. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit musste schließlich Rückwirkung auch auf die Welt des Sports und den Breitensport im Speziellen haben. Sie brachte neue Kunstformen wie das gemeinsame Singen hervor oder Durchhalteslogans (‘andrà tutto bene’). Für Marri stellt das Virus gleichsam eine «parentesi» dar, einen gesellschaftlichen Einschnitt, der sich auch ganz eindrücklich linguistisch äußerte, dessen langfristigen Auswirkungen aber vermutlich gering einzuschätzen sind - «ora che sta andando (quasi) tutto bene, e la voglia di dimenticare accomuna le sofferenze del recente passato» (S. 278). Jedoch kann anhand der Covid-Sprache sehr gut nachgezeichnet werden, wie schnell sprachliche Veränderungen durch unvorhergesehene Ereignisse geschehen. Und das Corona-Beispiel kann durchaus exemplarisch für Strukturen Pate stehen, die in unserer heutigen Gesellschaft linguistisch auch zu erwarten sind und sehr genau die Techno- und Bürokratie beschreiben - Fachtermini, die umgewidmet werden, Entlehnungen mit einer starken Tendenz zum Anglizismus etc. Fazit: Marri legt einen sehr umfangreichen und detaillierten Überblick mit vielen persönlichen, zum Teil auch polemischen Bemerkungen gegen die Verantwortlichen in Politik und Medizin vor, die sich für ihn auch sprachlich ent- Buchbesprechungen und Kurzrezensionen 183 larven bzw. deren Unsicherheit sich natürlich auch in der Neuprägung und zum Teil wenig präzisen oder wenig sensibel gewählten Sprache bemerkbar macht. Maria Lieber / Christoph Oliver Mayer Bibliographische Angaben Cortelazzo 2020-2021 = Cortelazzo, Michele: «Le parole della neopolitica», in: https: / / www.treccani.it/ magazine/ lingua_italiana/ autori/ Cortelazzo_Michele. html [indice al 31.12.2022]. Pietrini 2020 = Pietrini, Daniela: «Parole nel turbine vasto (10 contributi dal 26 marzo al 12 ottobre 2020; appendice 23.4.2021», in: http: / / www.treccani.it/ magazine/ lingua_italiana/ articoli/ parole/ parole_nel_turbine_1.html; https: / / www.treccani.it/ magazine/ lingua_italiana/ articoli/ scritto_e_parlato/ vero_virus.html. Pietrini 2021 = Pietrini, Daniela: La lingua infetta. L’italiano della pandemia . Roma: Treccani 2021. Sgroi 2020 = Sgroi, Salvatore Claudio: Dal Coronavirus al Covid 19. Storia di un lessico virale , Alessandria: Edizioni dell’Orso 2020 (pubblicazione a stampa di interventi da Lo SciacquaLingua. Noterelle sulla lingua italiana, in: https: / / faustoraso.blogspot.com). Volkmer/ Werner 2020 = Volkmer, Miachel/ Werner, Karin (Hrsg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft , Bielefeld: transcript 2020. Buchbesprechungen und Kurzrezensionen