eJournals Italienisch 45/90

Italienisch
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0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2023-0022
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2024
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Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte

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2024
Dacia Maraini
ita45900036
1 1948; deutschsprachige Erstveröffentlichung 1952 unter dem Titel Liebe und Zauberei. 2 Italienische Lyrikerin (1947-2022), auf Deutsch erschien Diese schönen Tage 2009. 3 Wortspiel: „Patrizia“ = Patrizierin, „Cavalli“ = Pferde; Plebea = Plebejerin, Somaro = Esel. Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte Dacia Maraini Ich lernte Elsa Morante über ein Buch kennen, das ich sehr geliebt habe: Menzogna e Sortilegio.  1 Der Roman faszinierte mich, als ich ein Teenager war und in Palermo lebte. Damals ging ich noch zur Schule, und ich erinnere mich, dass ich gleichzeitig zwei große Leidenschaften hegte, die für Vivaldis Sommer, den ich Tag und Nacht hörte, und die für die Geschichte des Waisenkindes Elisa und ihrer Liebe zu ihrem launischen und grausamen Cousin Edward. In meiner mädchenhaften Fantasie leisteten sich das Konzert und die Romanhandlung gegenseitig Gesellschaft, das eine war ein Kommentar zum anderen, und sie passten dank ihres gekonnt ausgeführten, anmutigen Stils sehr gut zusammen. Einige Jahre später ergab es sich, dass ich Elsa durch ihre Freundin Patrizia Cavalli 2 persönlich kennenlernte. Elsa war unheimlich ironisch und witzig, und ich erinnere mich an ihr Lachen, wenn sie Patrizia Cavallis Namen mit Plebea Somaro verballhornte. 3 Eigentlich liebte und schätzte sie Patrizias Gedichte, aber es gehörte zu Elsas Charakter zu scherzen und andere auf den Arm zu nehmen. Oft haben wir Ratespiele gemacht, bei denen wir andere Personen durch Lebensmittel oder Gegenstände charakterisierten. Wenn er eine Torte wäre, welche Torte wäre er dann? Wenn sie eine Frucht wäre, welche Frucht wäre sie dann? Und so ging es weiter. Ich erinnere mich, dass ich Elsa, als sie 1985 in dem Krankenhaus lag, wo sie später starb, an einem Vormittag besuchte. Kaum hatte sie mich erblickt, sagte sie: „Wollen wir ein paar Ratespiele machen? “ Sie gab mir dann einige sehr schwierige Rätsel auf, machte, nachdem ich viele falsche Antworten gegeben hatte, einen kindlichen Schmollmund und sagte: „Wie jetzt? Du errätst nicht mal unseren Freund Pier Paolo? “ DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 4 Dacia Maraini verbrachte einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Japan, wo ihr Vater, der Ethnologe Fosco Maraini, das Leben des Volks der Ainu erforschte. In der Zeit, als wir öfter miteinander zu tun hatten, war sie in Bill Morrow verliebt, einen sehr hübschen und sehr provokanten jungen Mann, der aus Verzweiflung Drogen nahm. Er war ein recht talentierter Maler, der aber nichts unternahm, um bekannt zu werden oder seine Bilder zu verkaufen. Mit Hilfe von Alberto Moravia organisierte Elsa für ihn eine Ausstellung in Rom. Doch Bill kehrte nach New York zurück und stürzte sich später unter dem Einfluss von Drogen aus dem Fenster. Elsa hat unter diesem Tod sehr gelitten. Sie zog sich in ihre Wohnung zurück und hat das Haus nicht mehr verlassen. Ein gemeinsamer Freund, Giuseppe Cupane, blieb bei ihr und kümmerte sich um sie. Er überzeugte sie, am Leben zu bleiben, denn sie hatte sterben wollen. Elsa war eine extrovertierte Person, die immer vor Energie sprühte und sich ihrer Talente und Fähigkeiten sehr bewusst war. Für sie gab es keine halben Sachen: Es ging immer um alles oder nichts. Und das war in der Ehe mit Alberto Moravia nicht gerade förderlich, denn er war ein nachdenklicher und rationaler Mensch, der eher zum versöhnlichen Gespräch als zum Streit neigte. Berühmt ist die Episode, als die beiden einmal die gerade veröffentlichte Gedichtsammlung eines Freundes zugeschickt bekamen. Elsa las sie in einem Atemzug durch und dekretierte dann, dass sie diese Gedichte nicht mochte. Als sie danach das Haus verließen, begegneten sie zufällig dem besagten Dichter und Elsa rief ihm von Weitem zu: „Dein Buch ist scheußlich! “ Alberto versuchte, sie zurückzuhalten. Er wollte seinen Freund nicht kränken, schon gar nicht mit einem Satz, der über die Straße gerufen wurde. Doch Elsa vertrat die Ansicht, man müsse immer die Wahrheit sagen, und so verhielt sie sich auch, selbst wenn sie einen hohen Preis dafür zahlte. Der Dichter war natürlich beleidigt und brach den Kontakt zu den beiden ab … Hinter dieser Fassade verbargen sich jedoch eine große Dramatik und Verletzlichkeit. Elsa ging mit gezücktem Schwert durchs Leben und mit der Bereitschaft, blutige Schlachten zu schlagen. Gleichzeitig konnte sie große Empathie empfinden und war stets bereit, ihrem Feind Verständnis und Liebe entgegenzubringen - ganz so, wie die großen okzitanischen Ritter, die sie verehrte: immer beseelt von einer aufrichtigen und kompromisslosen Hingabe. Die ehelichen Bande zwischen Elsa und Alberto waren zerrissen, doch sie wollte sich nicht scheiden lassen. Sie wusste genau, dass eine junge Frau, die vor nicht allzu langer Zeit aus Japan zurückgekehrt war, 4 sich in ihren Mann verliebt hatte und die beiden vorhatten, zusammenzuleben. Sie nahm diese Sache als etwas ganz Selbstverständliches hin. Und so trafen wir uns oft zu dritt oder im DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte 37 5 Maraini war in den 1960er und 1970er Jahren die Lebenspartnerin von Alberto Moravia und lebte eine Zeitlang mit ihm und Pasolini in einem Haus in Sabaudia bei Rom. gemeinsamen Freundeskreis. Ich glaube, Elsa sah in der Ehe ein geistiges Band und es gab für sie keinen Grund, dieses zu zerreißen. In der Tat habe ich diese emotionale Haltung immer als legitim angesehen und nie eine institutionelle Verbindung mit Alberto eingefordert. 5 Ich erinnere mich an mehrere Weihnachtsfeiern in der Via dell’Oca, bei denen Elsa für die Gäste einen großen Korb voller Geschenke vorbereitet hatte, aus dem sich jeder bedienen durfte. In diesem Korb befanden sich alle möglichen Dinge, die die Gastgeberin liebevoll eingepackt und mit Schleifen versehen hatte: Kleine und große Päckchen, Schachteln und Umschläge, die je nach Lust und Laune, entweder einen einfachen Schlüsselanhänger oder ein winziges, kostbares Radio, einen Seidenschal oder einen Schuhlöffel enthielten. Die Freunde suchten sich ein Geschenk aus, lösten den komplizierten Knoten des farbigen Bandes und rissen das Papier auf, während aller Augen auf die Überraschung gerichtet waren, die zum Vorschein kommen würde. Manchmal befand sich in einem Paket mit einer besonders auffälligen goldenen Schleife nur ein Brikett und alle brachen über das lange Gesicht des Pechvogels in lautes Lachen aus. Elsa strahlte. Sie liebte es, andere zu überraschen, sowohl im Guten als auch im Schlechten. In solchen Momenten hatte sie etwas Kindliches an sich, und ich empfand eine große Zärtlichkeit für sie, für ihre Leichtigkeit, den Freundeskreis zu unterhalten und zu verblüffen, und für ihre unmögliche Liebe. Bill war in Wirklichkeit homosexuell, und sie litt unter der Doppelbödigkeit dieses jungen Mannes, der so tat, als könne er sich die Wahl zwischen der einen und der anderen Möglichkeit stets offenhalten. Heute denke ich, dass das Geheimnis ihrer Zuneigung vielleicht daher rührte, dass Elsa für das Liebesideal der Minne schwärmte. Sie empfand eine nostalgische Sehnsucht nach den höfischen Tugenden, die einst die Welt der Ritter und Hofdamen erfüllten, als die Liebe nie körperlich war, sondern vergeistigt und transzendent. Der Ritter hatte sein irdisches Sexualleben, das aus alltäglichen Routinen und feststehenden Regeln bestand. Ungeachtet dessen galt seine Hingabe der allumfassenden und ewigen Liebe zu einer Frau, deren Körper er zwar nie nackt sehen würde, deren Seele er aber entkleiden konnte, ritterlich und mit Anstand. Es war jene Art von Beziehung, die Pier Paolo Pasolini zu den jungen Männern unterhielt, die ihn erotisch anzogen und die er hingebungsvoll liebte, während seiner Mutter, die ihn über die verschlungenen Pfade des Paradieses lenkte, die reine und heilige Liebe vorbehalten war, ganz so, wie Dante es mit Beatrice tat. DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 38 Dacia Maraini 6 Dario Bellezza (1944-1996), italienischer Schriftsteller, auf Deutsch erschienen 1985 Pasolinis Tod und Storia di Nino. 7 1974, deutsche Erstausgabe unter demselben Titel 1976. Dario Bellezza 6 hatte versucht, Elsas Zuneigung zu gewinnen, aber es war ihm nicht gelungen, und sie behandelte ihn mit einer kindlichen und mutwilligen Grausamkeit. Einmal stellte sich Dario schwer beleidigt mit einem Schild in der Hand, auf dem er sich als das lebende Vorbild für eine von Morantes Romanfiguren ausgab, vor die Haustür der Schriftstellerin und verlangte eine finanzielle Entschädigung. Überflüssig zu erwähnen, dass Elsa ihm den Wind aus den Segeln nahm, indem sie ihm ins Gesicht lachte. Ich war froh, dass Elsa mich wie eine Freundin behandelte. Als angehende Schriftstellerin, die den erzählerischen Fähigkeiten anderer Schriftsteller demü‐ tige Bewunderung entgegenbrachte, hörte ich Elsas Geschichten immer mit Begeisterung zu. Ich mochte es, wenn sie mir von Lucia erzählte, ihrem Mädchen für alles, das für sie mehr eine Schwester als eine Hausangestellte war. Lucia war wie eine ihrer Romanfiguren, sie war eines ihrer Geschöpfe, wie es auch die Katzen waren, die ihr Penthaus in Rom mit Leben erfüllten und mit denen sie sich den ganzen Tag beschäftigte: Coda, Mezzacoda, Sparto, Adratico. Diese Katzen benahmen sich in der Wohnung genauso wie die Geschöpfe, die aus ihrer Feder flossen und ihre Bücher bevölkerten: arglos, treuherzig, unberechenbar, grausam, betörend und durchgedreht. Wie alle großen Schriftsteller lebte Elsa in einer Parallelwelt, in ihrer eigenen schöpferischen Welt, die aus leidenschaftlichen Liebesgeschichten bestand, aus unvermuteten Demütigungen und Verklärungen, aus Wonne und Schrecken; und diesen Erlebniswelten gelang und gelingt es noch immer, bei den Leserinnen und Lesern starke Emotionen zu erwecken. Ich erinnere mich noch an die abfälligen Kritiken, als La Storia herauskam. 7 Ich verstand nicht, woher all diese Wut und Verachtung kamen. Vor allem die avantgardistische Literaturkritik wütete gegen die Autorin, nannte sie eine Schriftstellerin für Kleingeister, altmodisch, sentimental, vorhersehbar. Das ließ mich an Charles Dickens denken, als er seinen Roman Oliver Twist veröffent‐ lichte, der beim breiten Publikum einen Riesenerfolg hatte, den die Kritiker aber maßlos verrissen und als kitschige und pathetische Dienstmädchenliteratur abtaten. Heute dagegen wissen wir, dass der Roman ein Meisterwerk der Weltliteratur ist. Von der Verfilmung von La Storia, die als Serie im italienischen Fernsehen läuft, habe ich zwei Folgen gesehen, und ich bin sehr erfreut, dass sie sofort beim Publikum ankam. Die Regisseurin, Francesca Archibugi, hat eine großartige DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte 39 Arbeit geleistet und die Figur der Ida wird von der Schauspielerin Jasmine Trinca mit großer Intensität und Anmut gespielt - ganz im Sinne von Morante. Übersetzung ins Deutsche und Anmerkungen von Gudrun Jäger Die italienische Fassung des Textes erschien am 4.2.2024 im Corriere della sera. DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 40 Dacia Maraini