eJournals Italienisch 45/90

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2023-0032
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2024
4590 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss, Paderborn: Brill Schöningh Verlag 2022, 302 Seiten, 28 Abb., 4 Karten, € 29,90

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Jürgen Charnitzky
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1 Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell‐ schaft 3. Aufl. 1986, S.-277. 2 Rolf Wörsdörfer, Krisenherd Adria 1915-1955. Konstruktion und Artikulation des Natio‐ nalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum, Paderborn: Brill Schöningh Verlag 2004. Buchbesprechungen und Kurzrezensionen Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss, Paderborn: Brill Schöningh Verlag 2022, 302 Seiten, 28 Abb., 4 Karten, € 29,90 Jürgen Charnitzky Der Krieg in Oberitalien ist als „wohl der sinnloseste des ganzen Weltkriegs“ bezeichnet worden. Es erscheine unbegreiflich, so Rudolf Lill in seiner Ge‐ schichte Italiens in der Neuzeit, „daß Italien und Österreich, die einander soviel verdankten, wegen einiger Provinzen Hunderttausende in Kampf und Tod schickten.“ 1 Obwohl ein Nebenschauplatz des Ersten Weltkriegs, fielen den Kriegshandlungen an der Südwestfront der Donaumonarchie in dreieinhalb Jahren rund 650.000 Italiener und 974.000 für Österreich-Ungarn kämpfende Soldaten zum Opfer. Die zentralen Kampfhandlungen zwischen Adriaküste und Schweizer Grenze mit ihren blutigen Stellungs- und Abnutzungsschlachten von der voralpinen Karstlandschaft bis ins Trentino und Hochgebirge der Dolomiten fanden entlang des Flusses Isonzo (slowenisch Soča) statt, wo allein 400.000 italienische Soldaten an erlittenen Verwundungen und kriegsbedingten Erkrankungen starben. Rolf Wörsdörfer, Privatdozent an der TU Darmstadt und Autor einer umfassenden Studie über den Krisenherd Adria im Zeitraum 1915-1955 2 , nimmt in seiner jüngsten Monographie die zwölf Isonzoschlachten zwischen Juni 1915 und Oktober 1917 zum Anlass, das Kriegsgeschehen auf diesem „verheerendsten Nebenschauplatz in der gesamten Kriegsgeschichte“ (S. 35) mit seinen vielfältigen Auswirkungen auf die kämpfenden Streitkräfte, auf Strategie und Taktik der militärischen Befehlshaber, auf Politik, Wirtschaft DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 und Zivilgesellschaft in beiden Ländern sowie nicht zuletzt auf die geschundene Natur darzustellen. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs ist ein in der internationalen Ge‐ schichtswissenschaft vieldiskutiertes Thema, und die Kampfhandlungen an den jeweiligen Fronten sind von den nationalen Historiographien der beteiligten Länder aus unterschiedlichen Blickwinkeln intensiv erforscht worden. Dies gilt auch für die Kämpfe in Oberitalien, über die vor allem von deutsch-öster‐ reichischer, italienischer und slowenischer Seite zahlreiche Untersuchungen und Erfahrungsberichte vorliegen. Wörsdörfer bewegt sich daher auf einem zu guten Teilen intensiv beackerten Gelände. Was seine Arbeit auszeichnet ist der breitflächige und systematische Ansatz sowie die kritische und verglei‐ chende Auswertung eines in seiner Dichte und Vielfalt beispiellosen Quellen‐ materials an Aufzeichnungen, Briefen, Tagebüchern und Erinnerungsschriften „deutschösterreichischer, reichsdeutscher, italienischer, slowenischer, tschechi‐ scher, deutschböhmischer, kroatischer, ungarischer und Schweizer Provenienz.“ Auf der Grundlage dieser „Ego-Dokumente“ (S. 13) gelingt es Wörsdörfer über die rein militärgeschichtliche Schilderung des faktischen Kriegsgeschehens hinaus, ein eindrucksvolles und facettenreiches Bild von den Empfindungen, Erfahrungen und wechselseitigen Perzeptionen der Kriegsteilnehmer und Zi‐ vilpersonen beider Kriegsparteien zu zeichnen, deren persönliche Erlebnisse und subjektive Wahrnehmungen ihren Niederschlag auch in der europäischen Belletristik gefunden haben. Ein ausführliches Vorwort (S. 7-22) erläutert Entstehungsgeschichte, Ziel‐ setzung, Aufbau und Methodik der Untersuchung, die sich vornimmt, „die unterschiedlichen Deutungen des Kriegsgeschehens an die historischen Ereig‐ nisse zurückzubinden.“ Diese sollen „mit Orten, Strukturen, Fakten, Bildern, Personen, Worten und Handlungen zusammengebracht und damit kontextua‐ lisiert werden.“ (S. 9). Die Darstellung selbst ist in sechs Kapitel gegliedert. Das erste befasst sich mit der innenpolitischen Lage in Österreich-Ungarn und Italien am Vorabend des Krieges und verfolgt den Weg beider Staaten in den bewaffneten Konflikt. Äußerst aufschlussreich ist der mit der Kapitelüber‐ schrift „Graugrün“ vs. „Feldgrau“ angestrengte Vergleich der Kräfteverhältnisse und Zusammensetzung beider Streitkräfte, die im Falle Österreich-Ungarns besonders kompliziert ausfiel. So kämpften im Vielvölkerheer der Donaumon‐ archie neben Deutschösterreichern und Magyaren auch Tschechen, Slowaken, Rumänen, Polen, Ruthenen (Ukrainer), Slowenen, Kroaten, Bosniaken und selbst „österreichische Italiener“ aus dem Trentino, dem Küstenland und aus Dalmatien - eine multiethnische Gemengelage, die mit ihrem babylonischen Sprachwirrwarr Armeeführung, Kommando- und Verwaltungsstrukturen vor DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 194 Jürgen Charnitzky besondere Herausforderungen stellte. Wörsdörfer, der auch über slowenische Sprachkenntnisse verfügt, untersucht sowohl die zum Teil von Stereotypen geprägten Beziehungen der ethnischen Gruppen zueinander als auch ihre Haltung zum Krieg sowie ihre Stellung und Funktion im Heer. Verglichen mit der Multiethnizität der österreichisch-ungarischen Truppenverbände, die allein schon den von der slowenischen Zeithistorikerin Nataša Nemec verwendeten, von Wörsdörfer übernommenen Begriff der „Völkerschlacht“ rechtfertigt, er‐ schien das königliche Heer Italiens auf den ersten Blick homogener, doch wirkte hier, wie Wörsdörfer zeigen kann, „eine spezifisch italienische Ausprägung der sozialen Frage mit all ihren aktuellen Implikationen tief in die Streitkräfte und insbesondere in die Infanterieregimenter“ hinein (S. 37). Zu berücksichtigen sei außerdem, „dass Italien europaweit zu den Ländern mit der stärksten und aktivsten Antikriegsopposition“ zählte und seit Beginn des Libyenkriegs 1911 in etlichen Regionen „Streiks und Demonstrationen gegen den Kolonialkrieg, die Monarchie und den Militarismus“ stattgefunden hatten (S. 37). Die Masse der italienischen Soldaten stellten Landarbeiter und Tagelöhner, zu denen über 300.000 nach Italien zurückgekehrte Arbeitsmigranten und Auswanderer kamen. Nur einen geringen Prozentsatz machten dagegen die knapp 3.000 italienischen Freiwilligen aus der Donaumonarchie aus. Die Tatsache, dass diese von Italien angegriffen worden war, also einen Verteidigungskrieg führte, und dass der umkämpfte Raum besonders von den in angrenzenden Gebieten lebenden Deutschösterreichern, Slowenen und Kroaten als zu verteidigende Heimat empfunden wurde, sorgte bei den auf österreichisch-ungarischer Seite kämpfenden k. u. k. Truppen zudem für eine stärkere Motivationslage als bei den italienischen Soldaten, von denen die meisten aus vom Kampfgebiet weit entfernten Regionen kamen, den Waffengang als „unausweichliches Übel, einem Unwetter oder Erdbeben ähnlich“ empfanden und die keine Vorstellung davon besaßen, wo die Städte Trient und Triest überhaupt lagen, deren „Erlösung“ im Sinne des Irredentismus als Kriegsziel ausgegeben war (S.-45). Das zweite, „Aufmarsch am Karst“ betitelte Kapitel, setzt ein mit einem ver‐ gleichenden Porträt der beiden Oberbefehlshaber der gegnerischen Streitkräfte an der Isonzo-Front, Luigi Cadorna auf italienischer und Svetozar Boroević von Bojna auf österreichisch-ungarischer Seite. Strategie und Führungsquali‐ täten Cadornas sind in den zeitgenössischen Quellen und in der Literatur heftig kritisiert worden. Die militärische Laufbahn des erst im Juli 1914 zum Chef des italienischen Generalstabs berufenen generalissimo war, wie Wörs‐ dörfer hervorhebt, „eine reine Schreibtischkarriere ohne operative Erfahrung“ (S. 72). Gramsci bezeichnete ihn als „Bürokraten“, der die Realität verleugnete, DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss 195 3 Gramsci hielt Cadorna allerdings für einen besseren Politiker als Sidney Sonnino. An‐ ders als der italienische Außenminister und die Regierung in Rom, die bis zur Niederlage von Caporetto den Nachbarstaat nur deutlich schwächen, aber nicht auflösen wollten, zielte Cadorna nach Gramscis Einschätzung, auf die sich auch Wörsdörfer beruft (S. 86), von Anfang an darauf ab, das Nationalitätengemisch des österreich-ungarischen Heeres als Sprengsatz zu nutzen, um die Donaumonarchie zu zerschlagen. Vgl. Antonio Gramsci, Quaderni del carcere I, a cura di Valentino Gerratana, Quaderno 2 (1929-1933), Torino: Einaudi 1975, S.-260 f. 4 In seiner Beurteilung der Führungsqualitäten Cadornas, die auch zu den von Wörs‐ dörfer angeführten Belegen passt, spricht Sergio Spagnolo wiederholt davon, Cadorna habe seine Kommandogewalt, ohne Rücksicht auf seine Berater zu nehmen, „wie ein Diktator“ ausgeübt und mit seinen Befehlen ein regelrechtes „Klima von Angst und Schrecken“ verbreitet. Vgl. Adolfo Baiocchi, Uno dei tanti, riedizione a cura di Fabrizio Corso, Mitja Juren et al., Basaldella di Campoformido (UD): Comitato Pro Chiesa Di Plave 2016, S.-10 f. und 13. wenn sie nicht mit seinen strategischen Hypothesen übereinstimmte. 3 Sein Führungsstil galt als schroff und diktatorisch, ohne Einfühlungsvermögen für die kämpfenden Truppen. 4 Nicht zuletzt aufgrund seiner Fehlentscheidungen endete die 12. Isonzo-Offensive des italienischen Heeres im Oktober 1917 in der katastrophalen Niederlage von Caporetto, die zur Entlassung Cadornas und zu seiner Ablösung durch General Armando Diaz führte. Cadornas Ge‐ genspieler, der weniger bekannte, aus dem ungarischen Kroatien stammende „Austro-Serbe“ Boroević, galt dagegen als „größter Stratege des Defensivkriegs“, den Österreich-Ungarns Generalstabschef Conrad von Hötzendorf zu den vier besten Armeechefs der Monarchie zählte. Doch auch der „Löwe vom Isonzo“, der wie Cadorna die vordersten Frontabschnitte nie aufgesucht hatte, blieb, wie Wörsdörfer zeigen kann, von Kritik nicht verschont, da die relative Stabilität der österreich-ungarischen Stellungen an der Südwestfront bis zum Oktober 1917 nur mit einem „hohen Blutzoll“ von Offizieren, Unteroffizieren und Mann‐ schaften seiner Isonzoarmeen erreicht wurde, denen Boroević ohne Rücksicht auf Verluste höchsten Einsatz abverlangte (S. 78). Der restliche Teil des zweiten Kapitels widmet sich den Kriegslandschaften im Karst, im Hügelland und im Hochgebirge der karnischen und julischen Alpen, Naturgegebenheiten, die den Ausbau von Stellungen und Unterkünften, die Heranschaffung von Kriegsgerät und die Kampfhandlungen unmittelbar beeinflussten. Weitere Abschnitte be‐ schreiben den soldatischen Alltag in den Schützengräben, Freizeit und Versor‐ gung der Truppen, Bestattung gefallener Soldaten und Begräbnisstätten sowie die religiöse Betreuung durch Militärseelsorger und Feldrabbiner. Interessant ist ein Vergleich über die Rolle der Religionen in den Streitkräften Italiens und der Donaumonarchie. Das im Verlauf der Einigungsbewegung gegen die katholischen Habsburger und gegen den Kirchenstaat entstandene Königreich DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 196 Jürgen Charnitzky 5 Marco Mondini, Il capo. La grande guerra del generale Luigi Cadorna, Bologna: Il Mulino 2019 (Deutsche Ausgabe: Der Feldherr. Luigi Cadorna im „Großen Krieg“ 1915-1918, Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2022); ders., La guerra italiana: partire, raccontare, tornare 1914-1918, Bologna: Il Mulino 2014. Italien war eher durch „die Werte der Säkularisation und des Laizismus“ geprägt, doch war es schon im Verlauf des Libyenkriegs, wie Wörsdörfer unter Berufung auf neuere Studien des italienischen Militärhistorikers Marco Mondini 5 feststellt, zu einer „schleichenden ‚Rekatholisierung‘ des zuvor streng laizistischen Kgl. Heeres gekommen“ (S. 108). Auf der anderen Seite entsprach dem Völkergemisch im österreich-ungarischen Heer zwar auch eine „Pluralität der Religionen und Konfessionen“, doch hebt Wörsdörfer hervor, dass dessen ungeachtet Kaiserhaus, Offizierskorps, Unteroffiziere und Mannschaften aufs engste mit der katholischen Kirche verbunden waren, der zwischen 75 und 80-Prozent aller Angehörigen der k.-u.-k. Streitkräfte angehörten (S.-109). Mit der Überschrift „Industrieller Krieg um Görz“ eröffnet das dritte Kapitel den ereignisgeschichtlichen Teil des Buches, der auch die beiden folgenden Kapitel „Schulterstöße und Durchbruch“ und „Vom Isonzo zum Piave“ umfasst und ganz den Kampfhandlungen entlang der Isonzofront von der ersten italieni‐ schen Offensive am 23. Juni 1915 bis zum Kriegsende mit all ihren Auswirkungen auf Mensch, Tier und Natur gewidmet ist. Die sechs Offensiven, mit denen das italienische Heer im August 1916 nach verlustreichen Kämpfen die strategisch wichtige Stadt Görz im österreichischen Küstenland (seit 1919 Gorizia in Italien) eroberte, offenbarten bereits die ganzen Schrecken des totalen Krieges mit seinen von einer auf Hochtouren laufenden Rüstungsindustrie produzierten Vernichtungswaffen. Neben der Bedeutung von Maschinengewehren für die Kriegführung unterstreicht Wörsdörfer die herausragende Rolle der Artillerie, die mit schweren Mörsern, Feldhaubitzen, Granat- und Minenwerfern, auf italienischer Seite auch mit Schiffsgeschützen, die von der Isonzomündung aus abgefeuert wurden, ein anonymes Töten über größere Distanzen ermöglichte. Mit ihrer verheerenden Feuerkraft schossen diese großkalibrigen Waffen nicht nur feindliche Stellungen vor einem Infanterieangriff sturmreif, sondern sorgten auch für ein Massensterben von Soldaten und die Verwüstung ganzer Land‐ striche. Über die zahllosen Opfer der Angriffe mit Giftgas, das sich bis in die letzten Winkel der Unterstände und der als Unterkünfte in den Fels gesprengten Kavernen ausbreitete und das auch für den Tod zahlreicher Nutztiere verant‐ wortlich war, fehlen bis heute verlässliche Zahlen. Mit der 10. Isonzo-Offensive kamen ab Mai 1917 als neue Waffen die gefürchteten Flammenwerfer hinzu. Im Sommer des gleichen Jahres wurden vom Befehlshaber der 2. Armee der italienischen Streitkräfte General Luigi Capello nach deutschem und österrei‐ DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss 197 6 „La grande guerra“, so auch die italienische Bezeichnung des Krieges. Zu seiner Deutung aus italienischer Sicht vgl. Bruna Gherner, La storia della grande guerra, Milano: Vallardi 2020; Mario Isnenghi, Giorgio Rochat: La grande guerra 1914-1918, Bologna: Il Mulino 4. Aufl. 2014; Antonio Gibelli, La grande guerra degli italiani 1915-1918, Milano: Biblioteca Universale Rizzoli 2. Aufl. 2014. Große Popularität in Italien erreichte Mario Monicellis Film „La grande guerra“ von 1959 mit Vittorio Gassmann und Alberto Sordi in den Hauptrollen, der ein facettenreiches Bild des Krieges mit all seinen tragischen, zuweilen auch berührend tragikomischen Zügen zeichnet. chischem Vorbild Sturmtruppen für den Nahkampf mit vor der Frontlinie operierenden Einzelkämpfern aufgestellt, die sogenannten „Arditi“, die nach dem Krieg die Kerngruppen der faschistischen Squadre d’azione bilden sollten. Alle Maßnahmen halfen nicht, die verheerende Niederlage des italienischen Heeres in der zwölften Isonzoschlacht nach dem mit Gasattacken forcierten Durchbruch der deutsch-österreichisch-ungarischen Streitkräfte bei Caporetto (deutsch Karfreit, slowenisch Kobarid) am 24. Oktober 1917 abzuwenden. Über 10.000 gefallene, 30.000 verwundete, 300.000 in Gefangenschaft geratene Soldaten, ebenso viele Versprengte und 66.000 Deserteure waren das desaströse Ergebnis für die italienische Armee, die bei ihrem Rückzug bis hinter den Piave „ein apokalyptisches Szenario“ (S. 185) hinterließ. Die Streitkräfte der Mittel‐ mächte dagegen, darunter ein württembergisches Gebirgsbataillon, in dem der spätere Generalfeldmarschall Rommel als Oberleutnant diente, beklagten bei der als Operation „Waffentreue“ bezeichneten Offensive „nur“ 5.000 Tote, besetzten ganz Friaul und Teile Venetiens, im Ganzen ein der Fläche von Slowenien ent‐ sprechendes Gebiet von 20.000 Quadratkilometern, und erbeuteten zahlreiches wertvolles Kriegsmaterial. Das Trauma von „Caporetto“ wirkte lange nach. Noch heute wird der Ortsname in Italien für jedwede demütigende Niederlage verwendet. Erst ein Jahr später wendete sich das Blatt in der Schlacht bei Vittorio Veneto mit dem das Ende der Donaumonarchie besiegelnden Sieg der italienischen Armee am 4. November 1918 über die inzwischen von Meutereien ungarischer und slawischer Truppenteile, Desertionen und Versorgungsschwie‐ rigkeiten geschwächten Streitkräfte Österreich-Ungarns. Die Vorgänge zwischen den mit „Caporetto“ und „Vittorio Veneto“ bezeich‐ neten Eckdaten in der Geschichte des „Großen Krieges“ 6 bilden einen zentralen Abschnitt in Wörsdörfers Darstellung und sind ausführlich und anschaulich beschrieben (S. 165-212). Bei der verwirrenden Vielzahl der das ganze Buch durchziehenden, minuziös aufgelisteten Kampfplätze mit slowenischen Orts-, Fluss- und Bergnamen, die nur Einheimischen vertraut sein dürften, droht zuweilen allerdings die Übersicht verloren zu gehen. Die im Buch abgedruckten vier Kartenausschnitte ermöglichen zwar eine erste topographische Orientie‐ rung, doch sind längst nicht alle der im Text erwähnten Örtlichkeiten dort DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 198 Jürgen Charnitzky verzeichnet. Wörsdörfer bietet aber nicht nur eine detaillierte Beschreibung der Kampfhandlungen, sondern bezieht nahezu alle relevanten Aspekte des Kriegsgeschehens mit ein: Kriegspropaganda, Nachschub und Transportwege, Kriegsneurosen wie der shell shock, Choleraepidemie, ausgelöst durch den Mangel an sauberem Wasser, Versorgung von Kranken und Verwundeten, Ge‐ horsamsverweigerungen, Aufstände, Desertionen, Plünderungen, Requirierung von Kriegsgerät und Lebensmitteln, Militärjustiz und innenpolitische Krisen an der jeweiligen Heimatfront werden auf der Grundlage des Quellenmaterials und der maßgeblichen Sekundärliteratur aus allen erdenklichen Blickwinkeln beleuchtet und komparativ dargestellt. Das sechste Kapitel, „Nachleben einer Front“, untersucht abschließend die Nachwirkungen des Krieges zwischen Alpen und Adria in der Erinnerungs‐ kultur der beteiligten Länder. Schon 1919 beabsichtigte der italienische Gene‐ ralstab, die gesamte Kriegslandschaft am Isonzo „in eine sogenannte Zona sacra (‘heiliges Gebietʼ) zu verwandeln“ (S. 216), ein Vorhaben, das sich jedoch nicht einfach umsetzen ließ, galt es doch „zwischen 2.600 und 2.900 Begräbnisstätten von unterschiedlicher Größe“ an den ehemaligen Frontlinien neu zu organi‐ sieren, wobei es bei der Umbettung von Gefallenen, wie Wörsdörfer berichtet, zu Exhumierungen „mit einer ethnisch-nationalen Entmischung der Toten“ kam (S. 218). In Italien hat besonders das faschistische Regime den Totenkult um die gefallenen Soldaten und die Glorifizierung des Siegs von Vittorio Veneto mit Denkmälern, Nekropolen, Soldatenfriedhöfen, Ausstellungen und Museen vorangetrieben. Als größtes Kriegerehrenmal wurde in den dreißiger Jahren westlich des Monte Sei Busi die monumentale Gedenkstätte von Redipuglia errichtet, die für 100.000 gefallene Soldaten und, wie Wörsdörfer anmerkt, „eine (! ) Krankenschwester“ zur letzten Ruhestätte wurde (S. 219f.). In Österreich, wo das Österreichische Schwarze Kreuz schon seit 1919 mit „Pilgerfahrten zu den Heldengräbern“ den „Schlachtfeldtourismus“ einleitete, entstand nach der Errichtung der ständestaatlichen, austro-faschistischen Diktatur unter Engel‐ bert Dollfuß, der als Kommandant einer Maschinengewehrabteilung am Isonzo gekämpft hatte, das Heldendenkmal am Äußeren Burgtor in Wien, während unter dem NS-Regime in Deutschland die bis 1917 erzielten Erfolge des österrei‐ chisch-ungarischen Vielvölkerheers in einen „von ‚Truppen der verschiedensten deutschen Stämme‘ errungenen Sieg umgelogen wurden“ (S. 221-225). Zu den Nachwirkungen der Kämpfe an der Isonzofront zählten auch die auf Seiten beider Kriegsgegner verbreiteten stereotypen und pejorativen Bezeichnungen für den ehemaligen Kriegsgegner, von denen einige wie „Itaker“ (Italiener) oder „crucchi“ (Österreicher oder Deutsche) lange Zeit auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Gebrauch waren. DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss 199 Wörsdörfers quellengesättigte Darstellung ist eine verdienstvolle, die bisher vorliegenden Studien zum „Großen Krieg“ bereichernde Arbeit, der man auch ein italienisches und slowenisches Lesepublikum wünscht. DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 200 Jürgen Charnitzky