eJournals Italienisch 45/90

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.24053/Ital-2023-0034
101
2024
4590 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Anne-Kathrin Gitter: Der christliche Metacode im Spätrealismus. Die produktive Rezeption von Dante Alighieris Divina Commedia bei Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe und Ferdinand von Saar. Baden Baden: Rombach Wissenschaft 2023, 385 Seiten, € 79,00

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2024
Anne-Marie Lachmund
ita45900209
Anne-Kathrin Gitter: Der christliche Metacode im Spätrealismus. Die produktive Rezeption von Dante Alighieris Divina Commedia bei Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe und Ferdinand von Saar. Baden Baden: Rombach Wissenschaft 2023, 385 Seiten, € 79,00 Anne-Marie Lachmund Kaum ein Name durchwandert so stark die Literatur- und Mediengeschichte und überschreitet dabei munter Gattungsgrenzen und Referenzsysteme wie Dante Alighieri bzw. dessen berühmtestes Werk Divina Commedia, die Göttliche Komödie. Ein Mittelalterstoff, der sich beständig in die deutschsprachige Lite‐ ratur webt. Anne-Kathrin Gitter widmet sich in ihrer Dissertationsschrift an der Schnittstelle von Germanistik und Italianistik jener produktiven Rezeption Dantes und begibt sich auf die Spuren der intertextuellen Verweise im deut‐ schen Spätrealismus. Mit ihrer zeitlichen Eingrenzung und ihrem Fokus auf literaturhistorische und außerliterarische Zusammenhänge schließt die Arbeit nicht nur eine Forschungslücke, sondern stellt auch die besondere Qualität jener Dante-Diskurse im deutschsprachigen Raum von 1870-1900 heraus, der von Umbruchszeiten, Unsicherheiten und Säkularisierungstendenzen geprägt war. Einleitend stellt sie die Wirkmacht der auratischen persona Dante heraus, welche als Modell und Identifikationsfigur (S. 16) fungiert und Vorbildcharakter für viele Autor: innen - bis heute - hat. Somit stellt sich auch die breite Rezept‐ ionskraft heraus, da die Divina Commedia auch säkulär unter den Vorzeichen der Moderne gelesen werden kann (S.-14). Hierbei macht Gitter die Anschluss‐ fähigkeit ihrer Studie an bestehende Forschungsarbeiten transparent, stellt jedoch heraus, dass in diesen Dante häufig die Funktion eines „Bildungszitats“ zugestanden wird, ohne die fundierte und innovative Verarbeitung des Stoffes angemessen anzuerkennen (S.-25). DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 Der Aufbau der Arbeit ist dabei so klar wie stringent und einleuchtend: An einen theoretischen Teil, der den historischen Hintergrund und litera‐ risch-methodologische Aspekte der Rezeptionsforschung, Intertextualität und Raumtheorie umfasst, schließen sich Textanalysen kanonisierter, einschlägiger Autoren des deutschsprachigen Spätrealismus an, denen allesamt „inhaltliche und formale Transpositionen zu einer eindeutigen Dante-Reminiszenz“ (S. 24) gemein sind. Sie widmet sich demnach Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe und Ferdinand von Saar und betrachtet die Rolle des Prätextes sowohl aus gattungsspezifischer Perspektive als auch hinsichtlich der in den ausgewählten Texten getragenen Positionierung Dantes, was wiederum Rückschlüsse auf das deutsche Italienbild seinerzeit ermöglicht. Da literaturhistorische Einordnungen und zeitliche Eingrenzungen - hier im Fall des Spätrealismus - nicht immer eindeutig und trennscharf vollzogen werden können, nähert sich Gitter dem in der Dissertation vertretenen Begriff des Spätrealismus mittels Gegenüberstellung und Abwägung von fünf Positio‐ nierungen (Moritz Baßler, Martin Nies, Micheal Titzmann, Marianne Wünsch). Hierzu gliedert sie gründlich die Positionierungen autorenbezogen auf und arbeitet so Gemeinsamkeiten heraus, die sie schließlich zu einer Definition kondensiert, die stringent Anwendung findet. Qualitativen Paradigmen der Transparenz und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit Folge leistend, besticht die Textanalyse der transtextuellen Bezüge durch Systematik und Struktur, wenn das heuristisch-hermeneutische Vorgehen von einem Kriterienkatalog angeleitet wird, der extraals auch intratextuelle Bezüge erfasst. Hier zeigt sich die Informiertheit der Verfasserin, geisteswissenschaftliche bewährte Verfahren mit Paradigmen der qualitativen und quantitativen Methoden der (Sozial-)For‐ schung zu ergänzen und diese flexibel im Sinne eines Methodenpluralismus für das philologische Desiderat fruchtbar zu machen. Um den transtextuellen Bezügen Dantes nachspüren zu können, braucht es jedoch zunächst Motive, Bilder und Topoi aus dem Dante’schen Universum, gespickt von allegorischen und moralisierenden Jenseitsvisionen, denen sich in der im Korpus festgelegten Werke gewidmet wird: Hierzu gehören das Weltgericht bzw. Richterfiguren, das Motiv des Weltenwanderers und Pilgers, der durch das Beschreiten unbekannter Wege eine höhere Bewusstseinsebene zu erreichen sucht, die Höllentopografie welche sich über Vorhölle bis hin zu Paradiesgärten erstreckt (S. 24). Neben jene „intratextuellen“ (S. 23) Aspekte gesellen sich auch die extra- und paratextuellen Referenzen auf Dante zu einem komplexen Verweiszusammenhang, welcher von einer Vereinnahmung im deutschnationalen Kontext geprägt ist: im 19. Jahrhundert dominieren die romantische Rezeption, in der nicht nur die Ikonografie eine entscheidende DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 210 Anne-Marie Lachmund Rolle spielt, sondern auch die Wandelbarkeit des Ausnahmeautors, der flexibel für die zeitgemäßen Belange eingesetzt wird. Mal wird Dante im Rahmen eines nationalen Denkmalskult rezipiert, der das Land und die Sprache vereint, mal als Papstkritiker, Franzosenfeind oder nordischer Denker und somit Prophet der Reformation (S. 112, 133). Später als „Germane“ (S. 136) in „nationalistisch und deutsch-völkisch gesinnten Diskursen von ʻRassenkundlernʼ wie Ludwig Wilser (1850-1923), Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), Hans F. K. Günther (1891-1968), Alfred Rosenberg (1893-1946) und Ludwig Woltmann (1871-1907)“ (S. 136) figuriert, kulminiert das spezifisch deutsche Interesse am Genius in der Gründung der deutschen Dante-Gesellschaft (S. 125). Ähnlich dem Dichterfürsten Goethe steht Dante wie kein Zweiter für die Begründung einer Nationalliteratur und eines Kulturkanons und reiht sich so in die Liga „großer Männer“ bzw. Staatsmänner (S.-140) ein, was die Inszenierungsmecha‐ nismen und auratischen, enigmatischen Popularisierungsverfahren offenlegt. Die detaillierten Analysen zeigen indes auch auf, dass eine literarische Strömung immer in deren gesellschaftlichen und vor allem politischen Dimensionen begriffen werden muss und am Beispiel Deutschlands bzw. Italiens kulturelle Eigenheiten erst das Gesamtbild komplettieren. In den sich anschließenden ausdifferenzierten Close Readings von elf Texten werden die Bilder, Motive und Räume thematisch geordnet, um durch „stoffliche Reduktion und transtextuelle Strategien“ die Transpositionen Dantes in Prosa‐ texte auf der Ebene der Tiefenstruktur zu zeigen (S. 169). So wird sich u. a. den Feuer- und Lichtverhältnissen, den Wanderungen, den Höllenbewohner: innen und -orten gewidmet, aber auch ganz explizit die Reminiszenz auf Dante als Erzählinstanz höchst persönlich in Die Hochzeit des Mönchs (1883) von Conrad Ferdinand Meyer erörtert. Somit zeigt die Verfasserin nicht nur die Lesarten der Autoren des deutschsprachigen Spätrealismus und wie diese in ihren eigenen Texten Dante verarbeitet haben, sondern auch die Stilisierung und Dichterverehrung in der deutschen Literatur. Statt einen religiösen Konnex konstatiert die Autorin ein „Spiel“ (S.-120) mit einem poetisierten Material und dessen strategischer fragmentarischer Umformung, denn „Codes und Mythen des Christlichen und Katholischen tauchen in signifikanter Menge in der spätrealistischen Literatur auf.“ (Ebd.) Auf jede autorenbezogene Textanalyse folgt ein Zwischenfazit, welches die Kernerkenntnisse zusammenfasst und systematisch kondensiert. Schließlich führt Gitter die einzelnen Textstränge kohärent zusammen und beantwortet schlussendlich die Frage der Systemreferenz im Gattungswechsel von Dichtung in Prosa oder Dramatik und stellt nochmals die eklektische palimpsestartige Qualität des Ausgangstextes heraus. DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 Anne-Kathrin Gitter: Der christliche Metacode im Spätrealismus 211 In der Kombination aus text- und kontextorientierten Verfahren gelingt es Anne-Kathrin Gitter, die „lange Rezeptionstradition der Divina Commedia extra- und intratextuell sicht- und beschreibbar zu machen“ (S. 85), wodurch die vor‐ liegende Dissertationsschrift vollumfänglich überzeugt. Damit unternimmt der Band eine Neupositionierung im literaturwissenschaftlichen Feld und bereitet innovativ Gedankenanstöße zur Rezeptionsforschung germanistisch-italianis‐ tischer Leitfiguren auf. Anne-Kathrin Gitter hat nicht nur einen aufschlussreichen, sondern darüber hinaus einen kenntnis- und lehrreichen Band vorgelegt, der so informativ wie klar und stringent strukturiert ist. Darüber hinaus besticht die Untersuchung mit einem mannigfaltigen, breit aufgestellten Kontextwissen, das u. a. in den Fußnoten angeboten wird, um Hintergründe einzuordnen, respektive zu kontu‐ rieren und um Schlüsselautor: innen und -werke kennenzulernen, mithilfe derer das Verständnis rund um den Diskurs weitreichend vertieft und differenziert wird. DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 212 Anne-Marie Lachmund