eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 34/5

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2023-0088
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2023
345 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Das Tunnelprojekt gegen den „Flaschenhals“

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2023
Steffen Scheurer
Oliver Steeger
Noch verkehren auf der Vogelfluglinie Richtung Skandinavien nur Fähren. Doch schon 2029 schließt der Fehmarnbelttunnel diese Lücke für Straße und Schiene: ein 18 Kilometer langer Tunnel auf dem Grund der Ostsee, teils in vierzig Meter Wassertiefe. Die Verantwortlichen sehen in diesem Infrastruktur-Projekt mehr als nur einen Lückenschluss zwischen dem deutschen Fehmarn und dem dänischen Lolland. Der Tunnel werde, so Projektdirektor Gerhard Cordes, einen Flaschenhals beseitigen zwischen Europas Norden, seiner Mitte und seinem Süden. Im Gespräch erklärt Gerhard Cordes die Bedeutung dieses Projekts, erläutert den zentimetergenauen Aushub des Tunnelgrabens im Fehmarnbelt – und zeigt, wie er mit den tausenden Schnittstellen dieses Großvorhabens umgeht.
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13 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 05/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0088 Fehmarnbelttunnel schließt Lücke in europäischer Infrastruktur Das Tunnelprojekt gegen den „Flaschenhals“ Steffen Scheurer, Oliver Steeger Noch verkehren auf der Vogelfluglinie Richtung Skandinavien nur Fähren. Doch schon 2029 schließt der Fehmarnbelttunnel diese Lücke für Straße und Schiene: ein 18 Kilometer langer Tunnel auf dem Grund der Ostsee, teils in vierzig Meter Wassertiefe. Die Verantwortlichen sehen in diesem Infrastruktur-Projekt mehr als nur einen Lückenschluss zwischen dem deutschen Fehmarn und dem dänischen Lolland. Der Tunnel werde, so Projektdirektor Gerhard Cordes, einen Flaschenhals beseitigen zwischen Europas Norden, seiner Mitte und seinem Süden. Im Gespräch erklärt Gerhard Cordes die Bedeutung dieses Projekts, erläutert den zentimetergenauen Aushub des Tunnelgrabens im Fehmarnbelt- - und zeigt, wie er mit den tausenden Schnittstellen dieses Großvorhabens umgeht. Herr Cordes, der Fehmarnbelttunnel wird die Ostsee-Passage von Deutschland nach Dänemark deutlich reduzieren. Die Seepassage dauert derzeit 45 Minuten; hinzu kommt, dass man mindestens 15 Minuten vor Abfahrt am Hafen sein muss. Dagegen wird die Fahrt durch den Tunnel zehn Minuten mit dem Auto dauern und sieben Minuten mit dem Zug. Sie sagen aber auch, dass es bei Ihrem Großprojekt über das Vermeiden von Fährzeiten hinaus eine europäische Bedeutung hat. Welche Bedeutung sehen Sie? Gerhard Cordes: Der Fehmarnbelttunnel ist aus unserer Sicht mehr als nur eine feste Verbindung zwischen Fehmarn und Lolland. Er ist Teil der transeuropäischen Infrastruktur. Der Tunnel schließt eine Lücke auf dem Nord-Süd-Korridor zwischen Skandinavien hin zum mediterranen Teil Europas. Es geht dabei um einen Flaschenhals im europäischen Verkehrsnetz für Straßenverkehr und Bahn, den wir hier beseitigen. Damit wird der Fehmarnbelttunnel für Europa eine ähnliche Bedeutung haben wie der Brenner-Basistunnel. Die Pläne für diesen Lückenschluss, für eine feste Verbindung zwischen Skandinavien und Europa, bestehen schon seit sehr langer Zeit-… Sie kamen immer wieder auf, in unterschiedlichen Konstellationen. Beispielsweise gab es Anfang der 1990er-Jahre Untersuchungen der Privatwirtschaft für den Bau einer festen Verbindung- - und zwar als PPP-Projekt. Diese Public-Private- Partnership Projekte waren damals sehr in Mode. Man hat untersucht, was technisch und ökonomisch überhaupt möglich war. Technisch optimal war aus damaliger Sicht ein Absenktunnel, so, wie wir ihn heute bauen. Ökonomisch stellte sich heraus, dass dieses Vorhaben privatwirtschaftlich kaum durchführbar war. Die Sache ist damals wieder eingeschlafen. Es ist einerseits interessant zu sehen, wie lange die Pläne für eine Verbindung bereits bestehen- - und doch erschreckend zu sehen, wie viel Zeit es braucht, um von der Idee zur Realisierung zu kommen. Reportage | Das Tunnelprojekt gegen den „Flaschenhals“ 14 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 05/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0088 Der Rahmen für solch einen Tunnel hat sich seither verändert. Heute stehen Aspekte wie Klimaschutz und Verkehrswende im Vordergrund bei solchen Infrastrukturprojekten. Welche Rolle spielt der Tunnel für die Verkehrswende und damit auch für den Klimaschutz? Der Tunnel wird deutlich zum Klimaschutz beitragen. Ein Beispiel: Güterzüge zwischen Hamburg und Skandinavien sparen, wenn sie den Tunnel nutzen, 160 Kilometer. Direktflüge von Hamburg nach Kopenhagen können entfallen, weil die Bahnverbindung ähnlich schnell ist, wenn man von Stadtzentrum zu Stadtzentrum will. Wir setzen bei dem Tunnel zudem stark auf regenerative Energien und nachhaltigen Verkehr. Beispielsweise planen wir Ladestationen für Elektroautos. Und schon heute steht fest, dass wir den Tunnel selbst mit erneuerbaren Energien aus Dänemark betreiben werden. Der Tunnel soll nicht nur Vorteile bringen für den transeuropäischen Verkehr, sondern auch für die Wirtschaft. Mit welchen Impulsen rechnen Sie für die Wirtschaft, wenn der Tunnel 2029 in Betrieb gehen wird? Das Potential des Tunnels beobachten wir jetzt schon- - obwohl die Eröffnung erst für 2029 geplant ist. Die Eröffnung wirft gewissermaßen ihre Schatten voraus. Inwiefern? Entlang der Verkehrsachse von Hamburg nach Fehmarn- - also zum Tunnel hin-- siedeln sich gerade viele Unternehmen und Logistikbetriebe an. Manche Gewerbeflächen auf deutscher Seite sind schon ausgeschöpft, und ich höre, dass einige Gemeinden händeringend nach neuen Flächen suchen. Ähnliches gilt auch für die dänische Seite. Man rechnet nicht nur mit dänischen Unternehmen, sondern mit Unternehmen aus ganz Europa. Sie sagten, 2029 soll der Fehmarnbelttunnel eröffnet werden. Die Arbeiten gehen voran. Im dänischen Rødbyhavn entsteht derzeit eine Fabrik für die Tunnelelemente, quasi riesige Beton- Fertigbauteile für die Tunnelröhre, die auf den Grund der Ostsee herabgelassen werden. Bereits nahezu fertig ist der Graben auf dem Meeresboden, in den diese Teile abgesenkt werden. Der Graben ist jetzt zu 90 Prozent fertig (Juli 2023, die Redaktion) . Er ist durchschnittlich 12 Meter tief und bis zu 100 Meter breit. Diesen Graben auf rund 18 Kilometer präzise auszuheben ist natürlich eine Herausforderung. Wo liegt die Herausforderung genau? Sie hängt vor allem mit den unterschiedlichen Bodenverhältnissen im Fehmarnbelt zusammen. Bodenschichten mit viel starkem Mergel sind in der Regel sehr hart und fest, andere dagegen eher weich. Diese Schichten gehen auf dem Meeresgrund der Ostsee ineinander über. Während des Aushubs müssen wir eine konstante Qualität des Grabens erreichen, damit er die Lasten der 73.000 Tonnen schweren Tunnelelemente aufnehmen kann. Zudem müssen wir bei der Böschung des Tunnels einen bestimmten Winkel präzise einhalten, damit wir später die 79 Standardelemente und 10 Spezialelemente problemlos einsetzen können. Spezialelemente? Um was geht es? Dabei handelt es sich um Tunnelelemente, die kürzer sind als die Standardelemente, dafür aber mit einem Untergeschoss ausgestattet sind. Im Untergeschoss befinden sich etwa die elektrischen Anlagen zur Versorgung des Tunnels. Wir positionieren diese Spezialelemente alle knapp zwei Kilometer. Der Tunnelgraben ist also bereits nahezu komplett fertig-… Ja, der Graben ist schon zum Großteil ausgehoben. Die Menschen auf Fehmarn und Lolland sind häufig überrascht, wenn wir ihnen sagen, dass der Tunnelgraben fast fertig ist. Man bekommt von diesen Arbeiten auf dem Meer kaum etwas mit. Viele sehen nur die Fabrik hier an Land wachsen, in der wir die Tunnelelemente bauen werden. Die Baggerarbeiten auf der Ostsee sind vergleichsweise unauffällig. Wie ist dies möglich? Einen solchen Graben wird man nicht mit einem gewöhnlichen Bagger ausheben können-… Wir setzen tatsächlich sehr große Baggerschiffe ein, beispielsweise den weltgrößten Tieflöffelbagger sowie andere Seilbagger und Saugbagger. Wo genau wir welches Gerät einsetzen- - dies hängt beispielsweise von der Meerestiefe und der Bodenbeschaffenheit ab. Der Tieflöffelbagger kommt mit seiner Schaufel maximal 26 Meter tief. Er kann damit nicht in den ganz tiefen Bereichen verwendet werden, wohl aber mit seiner Kraft dort, wo die Böden hart sind. Das Baggern geschieht übrigens mit höchster Präzision, fast auf den Zentimeter genau. Die Arbeiter in den Baggerkabinen sehen auf verschiedenen Monitoren sehr genau, wo sie etwa die Baggerschaufeln ansetzen und wie viel sie ausheben müssen: nicht zu viel und nicht zu wenig. Jeder Arbeitsschritt wird mit modernster Technik überwacht. Einen solchen Graben unter Wasser auszuheben ist die eine Herausforderung. Die andere Herausforderung sind die Erdmassen, die Sie aus der Tiefe emporfördern. Was geschieht mit dem Aushub? Wir holen rund 15 Millionen Kubikmeter aus dem Tunnelgraben. Den Aushub bringen wir zum Großteil an die Küste Lollands. Wir schütten damit neues Land auf, insgesamt rund 300 Hektar, die später zu Natur- und Freizeitflächen werden. Das ist auch Teil der Ausgleichsmaßnahmen, die wir innerhalb Ab 2024 werden die Tunnelelemente auf den Meeresgrund herabgelassen und miteinander verbunden. Reportage | Das Tunnelprojekt gegen den „Flaschenhals“ 15 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 05/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0088 des Projekts vornehmen. Das Gesetz sieht vor, Eingriffe in die Natur so gering wie möglich zu halten-- und die unvermeidlichen Eingriffe an anderer Stelle wieder zu kompensieren. Diese Landgewinnung ist eine solche Kompensation. Nochmals zu dem Graben. Die ersten Tunnelelemente werden ab 2024 in diesen Graben abgesenkt. Was tun Sie, damit der Graben bis dahin nicht wieder von der Strömung zugeschwemmt wird? Wir haben dies berechnet und vorab ermittelt, wie viel Sediment sich nach dem Ausheben wieder im Graben absetzen wird. Unsere Simulationen haben ergeben, dass dies sehr überschaubar sein wird. Aufgrund der Fließgeschwindigkeit der Ostsee rechnen wir nur mit marginalen Ablagerungen. Die Tunnelelemente werden später auf ein Kiesbett in dem Graben abgesenkt. Bevor wir dieses Kiesbett aufschütten, saugen wir das Sediment im Graben nochmal ab. Sie haben eben Simulationen und Berechnungen erwähnt. Wie wichtig sind solche Instrumente für Ihr Projekt? Wir wollen in unserem Projekt nichts dem Zufall überlassen, deswegen sind die Simulationen sehr wichtig. Ein Beispiel ist der Unterwasserschall. Wir sind verpflichtet, einen bestimmten Lärmpegel nicht zu überschreiten. Der Unterwasserlärm wird von externen Experten laufend kontrolliert, und es wird ständig an die Behörden berichtet. Es gibt also einen unabhängigen „Third-Party- Check“? Ja. Kommen wir mit dem Lärm in die Nähe der Schwellenwerte, wird Alarm ausgelöst. Deshalb haben wir vorab in Simulationen einen genauen Fahrplan ausgearbeitet, wann wir welche Maschinen einsetzen und welche Lärmemissionen dadurch entstehen. Wir haben Szenarien durchgespielt, um herausfinden, in welchen Konstellationen wir dem Schwellenwert zu nahe kommen könnten. Wenn wir den Schwellenwerten nahekommen, können wir die Ursache schnell finden und gegensteuern, etwa zu laute Geräte austauschen, die Zahl der Geräte reduzieren oder den Arbeitsprozess umplanen. Während der Arbeiten selbst fließen weiterhin Daten in unsere Simulationen ein, um ihre Prognosen noch sicherer zu machen. Ähnliche Simulationen haben wir auch für die Freisetzung von Sediment entwickelt. Freisetzung von Sediment-- wo liegt da das Problem genau? Arbeiten im Wasser schwemmen zwangsläufig Sedimente auf. Das kennt man vielleicht vom Badeurlaub, wenn man im seichten Wasser läuft und dabei Sand aufgewirbelt wird, der das Wasser trübt. Die Strömung kann diese aufgewirbelten Sedimente forttragen. Dann können sie an anderer Stelle problematisch werden-- etwa durch Ablagerungen. Der Tourismus, der vor allem für Fehmarn sehr wichtig ist, ist bei diesen Trübungen sehr sensibel. Das Eintrüben des Wassers wird von Touristen als negativ wahrgenommen. Daher dürfen in den Sommermonaten keine küstennahen Baggerarbeiten stattfinden. Bei Ihrem Projektprogramm laufen viele Handlungsstränge zeitlich gleichzeitig. Ein Beispiel: Die Fabrik für die Beton-Tunnelelemente ist noch im Bau, doch an fertigen Produktionsstraßen werden bereits die ersten Elemente gegossen. Schlepper und Pontons werden ab 2024 die ersten 73.000 Tonnen schweren Beton-Fertigteile aufs Meer hinausbringen, wo sie in den Graben abgesenkt und miteinander verbunden werden. Diese Pontons wurden speziell für dieses Projekt in einer Werft in Polen hergestellt. Sie sind bereits getestet, obwohl noch kein Element fertig ist. Parallel zu diesen Arbeiten entstehen derzeit auf dänischer und deutscher Seite die Portale, also die Einfahrten in den Tunnel. Aus vielen Projekten weiß man, dass paralleles Arbeiten zur Komplexität beiträgt-- und es dadurch zu vielen Schnittstellen kommt. Um die Zuständigkeiten bei diesem riesigen Projekt klar zu definieren: Wir haben es hier mit mehreren großen Verträgen zu tun. Einen davon verantworte ich als Projektdirektor. Gemeinsam mit dem ausführenden internationalen Baukonsortium FLC bauen wir die Fabrik für die Tunnelelemente, stellen die 89 Tunnelelemente her und senken sie schließlich in den Tunnelgraben auf dem Meeresgrund ab. Ein anderer Vertrag betrifft das Ausheben des Grabens und das Anlegen der Landgewinnungsflächen, ein weiterer die Tunnelportale auf der dänischen und deutschen Seite. Hinzu kommen noch Verträge für die technische und mechanische Ausstattung des Tunnels sowie für die Bahntechnik. Man kann sich vorstellen, dass es zwischen diesen Verträgen viele Schnittstellen gibt. Hinzu kommen zusätzliche Schnittstellen, die sich aus planungsrechtlichen Erfordernissen ergeben. Der Tunnel wird von dänischer Seite gebaut, finanziert und betrieben-… Richtig. Doch da er zwei Länder miteinander verbindet, haben wir es mit zwei verschiedenen Versionen von Baurecht und Normen zu tun. Die jeweiligen Vorgaben müssen wir in Planung und Ausführung umsetzen. Was nicht einfach ist. Blick in eine der Produktionshallen. Foto: Oliver Steeger Reportage | Das Tunnelprojekt gegen den „Flaschenhals“ 16 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 05/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0088 Weshalb nicht einfach? Wir haben die großen Verträge mit unseren ausführenden Unternehmen im Jahr 2016 geschlossen. Ein Jahr zuvor wurde in Dänemark ein Gesetz zum Bau des Fehmarnbelttunnels erlassen. Auf der deutschen Seite haben wir erst seit Ende 2020 Baurecht. Manche Vorgaben, die im deutschen Planfeststellungsbeschluss stehen, waren damals noch nicht Teil der Verträge. Augenblick! Solche Vorgaben können Einflüsse auf die längst geschlossenen Verträge haben-… Richtig. Dies haben sie. Wie gehen Sie damit um? Es ist wichtig, dass wir uns an alle deutschen, dänischen und europäischen Vorgaben, Auflagen und Normen halten. Wir haben bei Femern A / S beispielsweise eine eigene Abteilung dafür. Sie kümmert sich speziell darum, dass alle Vorgaben des deutschen Planfeststellungsbeschlusses umgesetzt werden und immer alle notwendigen Genehmigungen vorliegen, ganz besonders im Umweltbereich. Wie funktioniert dies organisatorisch? In dieser Abteilung haben wir Spezialisten, die sich mit jeder denkbaren Facette der Auflagen befassen. Diese Spezialisten entsenden wir dann in die jeweiligen Teams, die die Arbeiten mit planen und steuern-… …-eine klassische Matrixorganisation-… Ja, eine Matrixorganisation. Das zieht sich durch das ganze Unternehmen. Wir haben beispielsweise einen Fachmann für Beton, der sich ausschließlich um Betonfragen kümmert. Er muss sich mit den Planern abstimmen- - und die Planer mit ihm. Diese Fachleute beraten und unterstützen uns. Nochmals zu den Schnittstellen. Es ist bekannt, dass der Erfolg komplexer Infrastrukturprojekte zu einem Teil auch davon abhängt, wie gut an den Schnittstellen Informationen fließen, Probleme angesprochen und offene Fragen gelöst werden. Neben der Kommunikation an den Schnittstellen ist dabei entscheidend, überhaupt die Schnittstellen aufzuspüren-- häufig noch während des laufenden Projekts. Wie sind Sie vorgegangen? Wir haben von Anfang an betont, dass das Management von Schnittstellen ein Erfolgsfaktor für dieses Projekt ist- - und dass wir deshalb beispielsweise Schnittstellen-Meetings brauchen. In unseren Verträgen waren bereits viele Schnittstellen identifiziert und verzeichnet. Doch Sie haben Recht mit Ihrer Vermutung: Während des Projektverlaufs ergaben sich viele neue Schnittstellen. Dieses Management der Schnittstellen kann man nicht nebenherlaufen lassen. Wir haben deshalb in jeder Abteilung einen hauptamtlichen Schnittstellenmanager, der sich ausschließlich um die Abstimmungen an den Schnittstellen kümmert. Je nach Bedarf hat er auch zusätzliche Kräfte, die ihn dabei unterstützen. Unsere Schnittstellenmanager arbeiten intensiv mit den Planungsteams und ausführenden Teams zusammen. An den Schnittstellen werden nicht nur Informationen ausgetauscht und Abstimmungen vorgenommen. Auch kleinere und größere Probleme werden gelöst, die sich etwa zwischen Teilprojekten ergeben. Da müssen Entscheidungen getroffen werden. Wie gehen Sie damit um? Unsere Mitarbeiter sollen die Fragen und Aufgaben an den Schnittstellen möglichst selbst lösen. Angesichts der Vielzahl von Schnittstellen können solche Entscheidungen nicht über den Schreibtisch von Projektdirektoren oder gar dem Top-Management gehen. Erst wenn die Mitarbeiter aus welchen Gründen auch immer zu keiner gemeinsamen Lösung kommen- - erst dann wird die Sache an uns Projektdirektoren übergeben. Dies ist allerdings die Ausnahme. Andernfalls könnten wir unsere Arbeit auch nicht bewältigen. Viele Schnittstellen sind, wie Sie vorhin sagten, zwischen den einzelnen Verträgen. Müssen dort Probleme gelöst werden-- dann kann es dazu kommen, dass jeder zunächst an seinen eigenen Bereich denkt und seine Interessen gewahrt sehen will-… …-statt das Wohl des Projekts, des Ganzen im Blick zu haben. Diese Herausforderungen hatten wir hier auch. Die Schwierigkeiten entstehen, wenn eine diskutierte Lösung gut für das Projekt ist, aber eher ungünstig für einen Bereich des Projekts. Denkbar, dass diese diskutierte Lösung zu Mehrkosten oder Risiken im eigenen Bereich führt. Wir brauchen die Haltung, dass jeder an der optimalen Lösung für den Tunnel arbeitet, nicht für seinen Bereich. Ist die beste Lösung für das Projekt auf dem Tisch, sprechen wir auch offen über die Finanzierung, sofern diese nicht bereits durch den Vertrag abgedeckt wird. Wir haben immer allen Beteiligten die Sicherheit vermittelt, dass die beste Lösung für keine Partei einen finanziellen Schaden bringt. Natürlich kann ich die Sorgen verstehen, auch die Sorgen einzelner Mitarbeiter. Sie fühlen sich manchmal in dem Zwiespalt, dass sie richtig für das Ganze entscheiden müssen- - und dabei möglicherweise „falsch“ für den eigenen Bereich. Diese Sorge müssen wir ihnen nehmen. Letztlich geht es auch um ein Mindset, eine innere Haltung. Wie haben Sie die Beteiligten für Schnittstellen und optimale Lösungen sensibilisiert? Diese notwendige Haltung herbeizuführen war keine leichte Geburt. Es ist uns dennoch ein gutes Stück weit gelungen. Wir haben diese Haltung immer wieder kommuniziert. Wir hatten beispielsweise vor einiger Zeit ein interessantes Seminar mit allen Mitarbeitern von Femern A / S. Wir wurden in Teams eingeteilt, die sich aus unterschiedlichen Abteilungen zusammengesetzt haben. Wir mussten auf einer Wiese eine große Kettenreaktion bauen. Ähnlich wie bei den hochkant aufgestellten Dominosteinen, die-- einmal angestoßen-- hinterher in langen Reihen und Ketten umfallen? Genau, jedes Team hatte ein paar Gegenstände wie Autoreifen, Seile oder Bretter zur Verfügung. Entscheidend war, dass nicht nur die Teile der einzelnen Teams umfallen, son- 17 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 05/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0088 dern eine Gesamt-Kettenreaktion. Das war eine spannende Übung. Wir haben spielerisch gemerkt, wie wichtig es ist, miteinander zu sprechen und Informationen weiterzugeben. Da ist man natürlich beim Thema Schnittstellen. Solche Trainings helfen im Lernprozess. Sie unterstützen die Teams, die Bedeutung des Ganzen zu erkennen. In Ihrem Projekt übergeben Sie Ihren Mitarbeitern bewusst viel Verantwortung. Wie reagieren Ihre Mitarbeiter darauf? Meine Manager nehmen diese Verantwortung an. Ich denke, dass viele darin auch mein Vertrauen und meine Wertschätzung sehen. Ich will mich beispielsweise nicht einmischen, wenn sich meine Design Manager mit unserem Contractor abstimmen. Es ist viele Jahre her, dass ich mich zuletzt detailliert mit Design befasst habe. Dafür habe ich heute Spezialisten. Sie können selbst die optimale Lösung finden. Aber: Wenn meine Manager ihre Lösungsideen mit mir diskutieren wollen, stehe ich bereit. Sie bieten sich nicht als Lösungsmanager an. Nein. Und meine Mitarbeiter wollen auch keinen Lösungsmanager, sondern einen Diskussionspartner. Wo finden Sie diese Spezialisten, die das Zeug haben, solch ein Großprojekt wie den Fehmarnbelttunnel mit Ihnen voranzutreiben? Es gibt in der Baubranche eine internationale Szene von Spezialisten für solche großen Infrastrukturprojekte. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen kennen sich bereits von anderen Projekten. Sie schätzen sich und vertrauen einander. Auch ich habe mit einigen bereits bei Großprojekten auf der ganzen Welt zusammengearbeitet. In Projekten wie unserem ist dadurch von Anfang an eine gewisse Vertrauensbasis vorhanden. Also ein weltumspannendes Netzwerk, in dem sich Menschen kennen und einander vertrauen? Genau. Wer einmal in der Welt der Großprojekte Fuß gefasst hat, ist Teil dieses weltumspannenden Netzwerkes. Und über dieses Netzwerk sprechen wir Mitarbeiter an, wenn wir den Eindruck haben, dass wir gut mit ihnen zusammenarbeiten können. Einige von meinen Managern waren schon Senior Projektmanager in einem Projekt in Katar. So groß Projekte wie der Fehmarnbelttunnel selbst auch sind-- die Welt dieser Projekte ist klein. Eingangsabbildung: Stahlarbeiten an einer der Produktionslinien. Foto: Femern A / S Gerhard Cordes Gerhard Cordes ist seit 2021 Projekt Direktor bei Femern A / S, der staatlichen dänischen Projektgesellschaft, die für den Fehmarnbelt-Tunnel zuständig ist. Er ist verantwortlich für die Planung und den Bau des Absenktunnels sowie der dazugehörigen Produktionsanlagen. Nach dem Bauingenieur-Studium an der TU Braunschweig hatte er zunächst als Statiker in einem Ingenieurbüro gearbeitet, bevor er zum Baukonzern Bilfinger Berger wechselte. Dort war er mehr als 17 Jahre maßgeblich an diversen Großprojekten im In- und Ausland beteiligt, wie z. B. dem Bau der Mittellandkanalbrücke über die Elbe in Magdeburg und der Errichtung von „Barwa City“ in Katar. Nach seiner Zeit bei Bilfinger Berger verantwortete er als Projekt Direktor den Bau von drei Linien der Doha Metro und arbeitete als COO in Bahrain für eine führende bahrainische Unternehmensgruppe. Foto: Femern A / S Ressourcenmanagement Projektportfolio-Management Aufwand- & Kosten-Controlling Projektplanung Das System, bei dem die Ressourcenplanung funktioniert www.ressolution.ch Scheuring AG +41 61 853 01 54 info@scheuring.ch Unverbindlich online kennenlernen! Anzeige