PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft – und tausende von Geodaten
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Oliver Steeger
Wer Städte gegen die Folgen des Klimawandels wappnen will, braucht Geodaten: Detaillierte Informationen zum Beispiel, wo sich Hitzeinseln bilden oder Regenwasser stauen kann. Möglichst für jedes Stadtviertel, für jede Straße. Moderne digitale Methoden helfen, solche Geodaten zu gewinnen. Doch für die meisten Kommunen sind diese Methoden außer Reichweite. Einen neuen Weg gehen das Landesamt GeoInformation Bremen und der Luft- und Raumfahrtkonzern OHB in Bremen. Die beiden unterschiedlichen Partner haben sich zusammengetan – in einer ungewöhnlichen Partnerschaft. Sie geht aus von zwei Enthusiasten. Ihr Projekt „Urban AI“ kann vieles verändern.
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4 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 Das Projekt „Urban AI“ hilft Bremen, sich auf den Klimawandel vorzubereiten Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft-- und tausende von Geodaten Oliver Steeger Wer Städte gegen die Folgen des Klimawandels wappnen will, braucht Geodaten: Detaillierte Informationen zum Beispiel, wo sich Hitzeinseln bilden oder Regenwasser stauen kann. Möglichst für jedes Stadtviertel, für jede Straße. Moderne digitale Methoden helfen, solche Geodaten zu gewinnen. Doch für die meisten Kommunen sind diese Methoden außer Reichweite. Einen neuen Weg gehen das Landesamt GeoInformation Bremen und der Luft- und Raumfahrtkonzern OHB in Bremen. Die beiden unterschiedlichen Partner haben sich zusammengetan-- in einer ungewöhnlichen Partnerschaft. Sie geht aus von zwei Enthusiasten. Ihr Projekt „Urban AI“ kann vieles verändern. Es war für Vermesser das große Wiedersehen nach der Pandemie: Mehr als 13.000 Spezialisten für Geodäsie und Geoinformation strömten 2022 zur Messe INTERGEO nach Essen. Unter ihnen Ulrich Gellhaus, Leiter des Landesamtes GeoInformation Bremen. Der hochgewachsene, gut vernetzte Ingenieur hatte einen Vortrag in der Tasche. Sein Thema: Digitale Zwillinge, virtuelle Abbilder einer Stadt, die gefüllt sind mit vielfältigen Daten. Geodaten, sagt er, sind essenziell für die Stadtentwicklung, etwa Daten zu sozialer Struktur, Verkehr, Bebauung oder Umwelt. Solche Daten werden benötigt, um beispielsweise Städte auf die Folgen des Klimawandels vorzubereiten. Wo genau in der Stadt gibt es etwa viel Asphalt oder Beton, über dem sich im Hochsommer Hitzeinseln bilden können? Wo kann sich in einer Straße bei Starkregen das Wasser stauen, weil es nicht versickert? Digitale Zwillinge machen solche Daten zugänglich-- bis auf den Quadratmeter genau. Doch das Problem sind nicht so sehr die digitalen Zwillinge. Sondern die Daten selbst. Wie an aussagekräftige Daten kommen? Sie fallen nicht vom Himmel. Oder doch? Was Ulrich Gellhaus während seines Vortrags nicht ahnte: Wenig später würde er im Messegewimmel einem jungen Wissenschaftler begegnen, der ihm den Schlüssel zu einem Datenschatz zeigen würde. Seine Idee: Satellitenbilder und Drohnenfotos. Sie bergen tausende Detaildaten-- und werden immer besser. Das Problem: Es bräuchte Dutzende Mitarbeiter, um die Objekte auf den Bildern zu zählen oder auszumessen. Objekte wie etwa diese: Wie viele Photovoltaikflächen gibt es derzeit auf Hausdächern in Bremen? Doch der Wissenschaftler, Phil Daro Krummrich, hatte eine Idee: Diese Arbeit könnte künstliche Intelligenz machen. Die Luftbilder würden von neuronalen Netzwerken ausgewertet- - binnen weniger Stunden. Das kurze Gespräch im Messetrubel elektrisierte Ulrich Gellhaus. Vielleicht konnten die Daten- - gewissermaßen- - doch vom Himmel fallen: gesammelt von Satelliten im Orbit, ausgewertet durch künstliche Intelligenz. Er lud den Wissenschaftler ein ins Landesamt GeoInformation Bremen. Eine Begegnung, heißt es, ist wie ein frisches Blatt Papier, auf dem eine gemeinsame Geschichte geschrieben wird. Oder ein Projekt. Ein Projekt wie „Urban AI“, die ebenso ungewöhnliche wie faszinierende Kooperation zwischen einem Landesamt und einem High-Tech-Unternehmen. Phil Daro Krummrich hat die Gabe, künstliche Intelligenz für Laien verständlich zu machen. Er steht fest auf wissenschaftlichem Boden, wenn er die Chancen und Grenzen der künstlichen Intelligenz-- kurz: KI-- erklärt. Spricht er über die atemberaubenden Fortschritte der künstlichen Intelligenz und der Satellitentechnologie, bleibt seine Stimme ruhig. Die allgegenwärtige geräuschvolle KI-Euphorie ist ihm fremd. Phil Daro Krummrich entwickelt bei dem Bremer Raumfahrtunternehmen OHB KI-Werkzeuge, um aus Luftbildern Geodaten zu gewinnen. Mit seinen Kollegen ist er an europäi- Reportage | Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft - und tausende von Geodaten 5 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 Reportage | Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft - und tausende von Geodaten 5 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 Reportage | Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft - und tausende von Geodaten 6 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 schen Projekten beteiligt, etwa für Valencia oder Thessaloniki. Bremen kam bislang in seinem Portfolio nicht vor. Dies wurmte ihn. Es ist ihm ein Anliegen, auch seine Heimatstadt lebenswerter zu machen. Für ihn war es eine glückliche Fügung, dass er Ulrich Gellhaus auf der INTERGEO über den Weg lief. Zurück in Bremen setzten sich Ulrich Gellhaus und Phil Daro Krummrich zusammen zum Gedankenaustausch. Beide haben ein norddeutsches, klares Naturell. Nicht viel schnacken. Zur Sache kommen. Ulrich Gellhaus brachte eine erste Idee mit, um den KI-Einsatz auszuprobieren: Schottergärten. Es gab damals eine Diskussion, die häufig kritisierten Steingärten zu verbieten. Ulrich Gellhaus bewegte eine Frage, die nicht von der Hand zu weisen war: „Wie viele Schottergärten haben wir überhaupt in Bremen? “ Dies wusste niemand. Auch sein Landesamt GeoInformation war überfragt. „Können Sie mir aus Luftbildern diese Daten liefern- - mit KI? “, fragte Ulrich Gellhaus. Daro Phil Krummrich nickte. „Versuchen wir es! “, sagte er. Das war die Geburtsstunde des Projekts „Urban AI“, das erste Kapitel ihrer gemeinsamen Geschichte. Phil Daro Krummrichs Arbeitgeber OHB hat seinen Sitz nahe der Universität im Nordosten Bremens. Am Manfred- Fuchs-Platz, benannt nach dem Firmengründer, liegt das Hauptgebäude des Unternehmens. Die ovale Glasfassade wirkt futuristisch; in ihrer blau-grünen Fensterfront spiegeln sich Himmel und Wolken. OHB spielt bei Luft- und Raumfahrt seit Jahrzehnten in der europäischen Top-Liga. Auch bei der digitalen Auswertung von Daten der Satelliten und Drohnen steht das Unternehmen mit an vorderster Front. Bei der Tochterfirma „OHB Digital Connect“ arbeiten Wissenschaftler und Ingenieure an KI-gestützten Lösungen. Phil Daro Krummrich ist einer dieser Wissenschaftler. Er ist Projektleiter für Fernerkundung und Geodatenanalyse. Sein Beruf hat Zukunft. „In den nächsten Jahren werden wir Satellitenbilder bekommen, wie wir sie nie zuvor hatten“, prognostiziert er. Die neueste Generation von Satelliten hat eine enorme Auflösung. Sie wird um ein vielfaches steigen. „Die derzeit genutzten Satelliten stammen technologisch häufig aus den 1990er Jahren“, sagt er, „verglichen etwa mit einem heutigen Smartphone sind sie wie die alten, klobigen Funktelefone.“ Mit der Auflösung steigt die Detailtreue-- und die Menge an Daten, die man aus den Fotos gewinnen kann. Per Hand kann solche Fotos niemand mehr auswerten. „Dafür brauchen wir jetzt vollautomatisierte Systeme mit künstlicher Intelligenz“, sagt Phil Daro Krummrich. Mit seinen Teams trainiert er die künstliche Intelligenz, selbständig in Fernerkundungsdaten Objekte zu erkennen: Bäume, Solarflächen, Asphaltstraßen, Betonflächen-- oder was auch immer. Automatisierte Erkennung ist in der IT nicht neu. Doch so, wie die neuesten Satelliten schärfere Bilder liefern, bringt auch KI ganz neue Möglichkeiten bei der Erkennung. KI lernt selbständig, bestimmte Muster zu finden. Diese Fähigkeit macht sie so wertvoll- - und auch unberechenbar. Manchmal lernt und arbeitet sie falsch. Bei hochkomplizierten Aufgaben mag sie brillieren-- um im nächsten Moment an einer kinderleichten Frage zu scheitern. Weiß KI nicht weiter, erfindet sie manchmal Zusammenhänge, fängt wild an zu phantasieren: ein Effekt, den Fachleute „Halluzinieren“ nennen. Man weiß vorher nie, ob KI wirklich mitspielt. Das muss man ausprobieren. Phil Daro Krummrich machte sich gemeinsam mit dem OHB-Experten für Geodatenanalyse Adrian Fessel daran, die KI zu trainieren. Zunächst sollte sie lernen, Straßen auf Luftbildern erkennen. Das Team gab der KI städtische Katasterdaten und legte die Luftbilder darüber. Dann griffen sie einige Beispiele heraus („hier, KI, schau mal, da ist eine Straße“). Die KI sollte ein „Gefühl“ dafür bekommen, wie Straßen in Bremen aussehen. Nach diesem Lern-Training zeigten sie der KI Luftbilder und ließen sie selbst Straßen finden („KI, jetzt suche mal selbst“). Klingt einfach. Fast zu einfach, um funktionieren zu können. Doch die KI war in ihrem Element. Als Phil Daro Krummrich an einem Nachmittag mit Adrian Fessel nach den ersten Trainings die KI am Monitor beobachtete, blieb ihnen die Luft weg. „Die KI fand nicht nur die öffentlichen Straßen, die auf den Katasterkarten verzeichnet waren“, sagt Daro Phil Krummrich, „sie fand selbständig sogar Straßen auf Privatgrundstücken. Sie lieferte uns eine ziemlich geschlossene Darstellung von Bremen.“ Die Ergebnisse legten nahe: Die KI hatte gelernt, wie Straßen aussehen. Von allein. Wow! „Das war der Moment, als wir vor dem Monitor saßen und das Gefühl hatten, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen Das Luftbild eines Straßenzugs. Illustration: OHB Reportage | Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft - und tausende von Geodaten 7 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 hatten“, sagt Phil Daro Krummrich. Zugegeben, die KI machte noch Fehler. Die Genauigkeit lag bei siebzig Prozent. Beispielsweise „dachte“ die KI, dass an Straßenrändern immer Bäume stehen. Die Folge: Die KI deklarierte manche Baumgruppen als Straße, und Straßen ohne Bäume fielen durch ihr Suchraster. Phil Daro Krummrich bezeichnet dies als „Missverständnisse“ zwischen Mensch und Maschine. Sie sind keine große Sache und leicht zu beheben. Mit digitalen Tools entfernten die Wissenschaftler die Bäume von den Bildern und „zwangen“ die KI, sich auf die Straßen selbst zu konzentrieren. Danach lief es besser. Phil Daro Krummrich rief beim Landesamtes GeoInformation Bremen an und erstattete Bericht, mit wie wenig Aufwand er mit seinem Team zu ersten guten Ergebnissen gekommen war. Ulrich Gellhaus sah sofort, was dies für ihn bedeutete. KIermittelte Daten würden vergleichsweise einfach zu bekommen sein, schnell vorliegen und nicht viel kosten. „Da gingen bei mir die Lampen an“, sagt er. Aus der Begegnung auf der Messe erwuchs eine Chance: Es war, als hätte das OHB-Team im Bremer Universitätsviertel einen unermesslichen Datenschatz angezapft und Ulrich Gellhaus eine erste Probe auf den Tisch gelegt. Bebauungspläne, Verkehrskonzepte, Standortanalysen, Strategien für Flächennutzung oder Wohnraumbeschaffung- - Geodaten spielen für die meisten Entscheidungen in Politik und Verwaltung eine wichtige Rolle. Ulrich Gellhaus schätzt, dass achtzig Prozent aller hoheitlichen Entscheidungen auf solchen Daten mit Raumbezug basieren. Diese auf Geodaten basierenden Entscheidungen prägen die Stadt. Sie wirken auf Mobilität und soziale Infrastruktur, Arbeit und Wirtschaft, Wohnen und Wohlbefinden. Zwischen der Lebensqualität in einer Stadt und der Qualität der Geodaten besteht eine direkte Linie. Je besser die Daten, desto besser die Entscheidungen. Beispiel Klimaresilienz. Kommunen setzen sich immer mehr mit den Folgen des Klimawandels auseinander. Sie arbeiten daran, sich etwa auf Regenfälle vorzubereiten, die Straßen unter Wasser setzen. Auf Dürren, die die Parks und Straßenbäume bedrohen. Auf lange, für Menschen bedrohliche Hitzewellen. Das Problem: Städte müssen bei dieser Vorbereitung präzise vorgehen. Anderenfalls geht der Schuss womöglich nach hinten los. Ein Beispiel: In dicht besiedelten Gebieten wird der Ruf nach mehr Bäumen laut. Klingt plausibel. Bäume spenden Schatten, gleichen Wetterspitzen aus, speichern Feuchtigkeit. Doch einfach Bäume dort zu pflanzen, wo es sich gerade anbietet- - das kann zu noch mehr Hitze führen. Ulrich Gellhaus Kollegin Dr. Sarah Tesmer erklärt: „Wer im Sommer abends Rad fährt, spürt die Kühle von Wiesen-- und die Hitze unter Bäumen. Bäume können Hitze auch halten statt mildern.“ Dr. Sarah Tesmer ist Abteilungsleiterin bei GeoInformation Bremen, verantwortet dort den Bereich Landesvermessung und Fachverfahren. Für sie liegt auf der Hand: „Wir müssen erst einmal wissen, wo sich Hitzeinseln in der Stadt befinden, wie viele Bäume wir haben und an welchen Orten weitere Bäume sinnvoll sind.“ Dafür braucht man eine Bestandsaufnahme. Sprich: aussagekräftige Daten. Für Dr. Sarah Tesmer ist das Projekt „Urban AI“ mehr als Statistik. Es ist ein Beitrag zu einer lebenswerteren Stadt. Aus der Messe-Begegnung erwuchs eine immer intensivere Kooperation zwischen einem Landesamt und einem Wirtschaftsunternehmen-- und zwischen zwei Menschen, die ihren Enthusiasmus für Stadtentwicklung, Geodaten und künstliche Intelligenz teilen. Mit jedem Gespräch fügten sie neue Zeilen auf das gemeinsame Blatt und schrieben die Geschichte des Projekts „Urban AI“ weiter. Phil Daro Krummrich und Ulrich Gellhaus verbindet eines: Die Neugier. Was kann KI in puncto Geodaten leisten? Wie kann diese Technologie beitragen zur kommunalen Entwicklung in Bremen, etwa die Politik bei ihren Entscheidungen unterstützen? „Unser Projekt ‚Urban AI‘ haben wir unter ein Leitwort gestellt“, sagt Ulrich Gellhaus, „Bremen sehen, verstehen und lebenswert gestalten“. Zum Sehen und Verstehen wollen sie beitragen. Das andere-- etwa Entscheidungen-- ist Sache der Politik. „Wir arbeiten partnerschaftlich und auf Augenhöhe“, erklärt Ulrich Gellhaus. Phil Daro Krummrich: „Wir haben etwas begonnen, das wir für sinnvoll halten.“ Er fügt an: „Und weil es uns Spaß macht.“ Die beiden Masterminds von „Urban AI“ passen gut in ihre jeweiligen Rollen und ergänzen sich gegen- Künstliche Intelligenz klassifiziert die sogenannte Oberflächenbedeckung: orange die Gebäude, violett die Autos, grün Grünflächen und türkis Solarflächen. Illustration: OHB Reportage | Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft - und tausende von Geodaten 8 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 seitig: Der vielseitig vernetzte, kommunikative Amtsleiter und der Wissenschaftler und Projektleiter, der ebenfalls „nach außen gehen kann“, wie er sagt, aber kein „inneres Bedürfnis nach Öffentlichkeit hat.“ Während die künstliche Intelligenz erste gewünschte Daten zur Zahl der Schottergärten lieferte, hatte Ulrich Gellhaus schon eine neue Aufgabe für das Projekt im Blick. Eine deutlich schwierigere. Die Hansestadt Bremen arbeitete an einer Erhebung des Potentials von Entsiegelung von Oberfläche. Vereinfacht gesagt: Wo der Boden durch Beton, Asphalt oder Stein bedeckt ist, kann sich beispielsweise Regenwasser stauen. Dies nennt sich Versiegelung. Wer Oberflächen in Bremen entsiegeln möchte, braucht zunächst einen Plan, wo überhaupt Flächen versiegelt sind. Ein solches Versiegelungskataster hilft zu erkennen, wo genau man entsiegeln kann- - um dadurch die Klimaresilienz von Städten zu verbessern. Eine Stadt kann entweder solche Areale „entsiegeln“ und dort etwa Rasen anlegen, wo das Wasser versickert-- oder die Infrastruktur anpassen, beispielsweise die Regenkanalisation ausbauen. Vorher muss man die Daten für ein solches Entsiegelungskataster gewinnen. Diese Aufgabe sollte, wie Ulrich Gellhaus vorschlug, auch KI übernehmen. Für die KI war diese Herausforderung eine neue Liga. Denn anders als nur Straßen oder Schotter zu finden, sollte die KI dieses Mal auf den Bildern eine Reihe von Versiegelungen voneinander unterscheiden. Wo ist Beton? Wo ist Asphalt? Wo ist Rasen? Die KI sollte Objekte nicht nur erkennen, sondern auch Klassen zuordnen. Umso erstaunlicher, wie elegant die KI mit solchen Aufgaben zurechtkommt-- sogar besser noch als der Mensch. Weshalb besser? Phil Daro Krummrich weist auf einen Punkt hin, der Laien häufig entgeht. Wer Daten auswertet, braucht Regeln. Gewissermaßen ein Raster, mit dem er arbeitet. Das Problem: Die Welt passt häufig nicht in die Schablonen einfacher Regeln. Beispiel Grünflächen: Es gibt dutzende Arten von Grünflächen: dichter Rasen, hochwachsende Wiesen, zugewucherte Brachen, Kleingärten und Blumenbeete. Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Je mehr Sonder- und Unterfälle es gibt, desto komplexer wird der Regelkatalog. „Der Regelkatalog wächst explosionsartig“, sagt Phil Daro Krummrich, „irgendwann läuft man Gefahr, keine sinnvollen Ergebnisse mehr zu bekommen.“ Sich im Regel-Dschungel festzufahren. Was macht KI anders? Sie wird nicht mit menschengemachten Regeln gefüttert. Sie findet selbst ihren Weg, mit den Bildern umzugehen und die „Funde“ Klassen zuzuordnen. Dabei gibt es aber eine Sache, die vielen Laien nicht richtig in den Kopf geht. Diese Sache zeigt, dass der Umgang mit dem Werkzeug KI nicht so trivial ist wie es auf den ersten Blick scheint. Es geht um Wahrscheinlichkeiten. KI rechnet in Wahrscheinlichkeiten. Wird KI etwas gefragt, so gibt sie nicht die „richtige“ Antwort, sondern nur die, die am wahrscheinlichsten zur Frage passt. Beispielsweise „behauptet“ sie nicht, dass auf einem Luftbild eine naturbelassene Wiese zu sehen ist. Es ist nur (sehr, sehr) wahrscheinlich. „Sicher“ im menschlichen Sinne ist sich die KI nie. An diesem Punkt wird es spannend. Phil Daro Krummrich will auch gar nicht, dass sich seine KI absolut sicher ist. „Wir geben ihr sogar einen Wert für die maximale Wahrscheinlichkeit vor“, sagt er. Zwingt man die KI zu einer ja-oder-nein-Antwort, läuft sie in unerwünschte „Seiteneffekte“, wie er dies nennt. Ein Beispiel dafür ist die KI-gestützte Krebsdiagnose. Auf Röntgenbildern sind Metastasen extrem selten. Für eine Maschine, die nur Wahrscheinlichkeiten „kennt“, sind solche höchst unwahrscheinlichen Fälle irrelevant. Aus ihrer Sicht macht sie alles richtig, wenn sie davon ausgeht, dass sie ohnehin keine Metastasen finden wird. Für den Menschen sind aber die extrem seltenen Fälle eine Frage von Leben und Tod. „Wir müssen der KI deshalb beibringen, dass es sehr unwahrscheinliche Fälle gibt, die aber für uns sehr wichtig sind“, sagt Phil Daro Krummrich. Die KI also daran hindern, sich stillschweigend festzulegen. Deshalb fragt er die KI nicht nach Ja / Nein-Antworten. Sondern er diskutiert mit ihr die Wahrscheinlichkeit: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein gefundenes Objekt eine Wiese ist (oder eine Betonfläche)? Die KI antwortet mit einer Zahl: Mit beispielsweise 90 Prozent Wahrscheinlichkeit gehört ein Objekt in die Klasse der Betonflächen. Mit solchen Wahrscheinlichkeiten kann man in der Praxis gut rechnen. Je weiter sich Phil Daro Krummrich und Ulrich Gellhaus in die Leistungsfähigkeit von KI einarbeiteten, desto umfang- Der gleiche Straßenzug. Zu erkennen sind die Versiegelungsgrade. Illustration: OHB Reportage | Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft - und tausende von Geodaten 9 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 reicher wurde ihr „Urban AI“. Sie bezeichnen ihr Projekt als Programm, aus dem sich Anwendungsfälle wie das Entsiegelungspotentialkataster ergeben. In Spitzenzeiten beteiligen sich seitens OHB bis zu dreißig Mitarbeiter an den Arbeiten, zwar niemand in Vollzeit, wie er betont, doch sehr intensiv. Für das Unternehmen eine Investition in die Zukunft- - nicht nur der eigenen, sondern auch der von Bremen. Phil Daro Krummrich sieht ihre Arbeit in einem noch größeren Zusammenhang. Die Grundzüge vieler deutscher Städte stammen aus den 1960er Jahren. Damals lagen die Interessen anders. Die autofreundliche Stadt galt als Ideal; Klimawandel und Nachhaltigkeit waren damals unbekannt. Die damaligen Weichenstellungen passen nicht mehr in unsere Zeit- - und machen Bürgern Probleme. Es ist, als ob Städte zu einem medizinischen Check-up müssten. So, wie ein Arzt bei der Anamnese Daten sammelt (Körpertemperatur, Blutdruck, Blutwerte), so kann Urban AI Gesundheitsdaten zu Städten liefern, um „Beschwerden“ einzuordnen. „Genau das tun wir“, sagt er, „wir liefern Daten für Diagnose und Therapie.“ Das Projekt „Urban AI“ soll helfen, das Ökosystem Stadt wie einen Organismus zu verstehen. „Durch die Geodaten begreifen wir die Zusammenhänge“, sagt er. Was die Leistungsfähigkeit dieses Diagnose-Werkzeugs betrifft, sieht Phil Daro Krummrich noch viel Luft nach oben. Die KI kann beispielsweise Trends erkennen, statt nur Momentaufnahmen zu machen: Sie vergleicht aktuelle und ältere Luftbilder und belegt Entwicklungen mit Zahlen. Ein Beispiel: Wie hat ein regionales Programm zur Förderung von Photovoltaik- Anlagen gewirkt? Mit Hilfe alter und neuer Luftbilder kann die KI über einen Zeitraum detailliert ermitteln, wo welche neuen Solaranlagen auf Dächern montiert wurden. Solche Daten können beispielsweise helfen, die Wirksamkeit von Maßnahmen zu beurteilen. Ulrich Gellhaus und Phil Daro Krummrich lernen nicht nur, die KI immer schneller und besser für neue Aufgaben zu trainieren. Sie lernen auch, solch ein ungewöhnliches Projekt in einer noch ungewöhnlicheren Konstellation auf Kurs zu halten. Das Vorhaben läuft als freie Kooperation zwischen der Hansestadt und dem Technologie-Unternehmen. Ohne Auftrag und Kunde. Einen „Sonderfall“ für seine Verwaltung nennt Ulrich Gellhaus diese Projektform; die Vorgehensweise sei „untypisch“ ( siehe Interview auf den folgenden Seiten). „Niederschwellig“ sei diese Kooperation: „Wir legen die Ziele, Vorgehensweisen und Spielregeln selbst fest. Wir organisieren uns viel auf Zuruf.“ Irgendwann wurde den beiden klar, dass ihre Kooperation auf Dauer doch etwas Schriftliches braucht, eine Vereinbarung. Auf wenigen Seiten beschreiben sie das, was sie vorhaben, drücken Gemeinsamkeiten aus und stecken das Spielfeld ab. Vieles lassen sie offen. Formalismus könnte „Urban AI“ den Elan nehmen. Die Energie für dieses Projekt speist sich aus der Motivation der Beteiligten. Nicht aus Formalien. Von der Kooperation profitieren beide. Die Stadt Bremen kommt an Geodaten, die ihnen ohne Urban AI unzugänglich geblieben wären. OHB bringt seine die Methoden und Verarbeitungsketten für das maschinelle Lernen voran; es entwickelt und testet „in vivo“, in praktischen Anwendungsfällen. Das Landesamt bringt die Nutzerperspektive ins Projekt und steuert Material bei. Gemeinsam evaluieren sie die Ergebnisse und sichern die Qualität. „Urban AI“ spricht sich in der Bremer Kommunal- und Landesverwaltung immer weiter herum. Der Bedarf an Geodaten ist groß. Mittlerweile kommen Anfragen aus der Verwaltung: „Könnt Ihr uns nicht mal Daten liefern zu-…? “ Manche denken sogar weiter in die Zukunft-- und das, was Künstliche Intelligenz für die Stadtentwicklung leisten könnte. PM und E-Rechnung in einer Lösung PROCESSES Projektportfolio Ressourcenmanagement Multiprojektcontrolling Angebote und Angebote und E-Rechnungen E-Rechnungen Scrum, Kanban, PRINCE2 ® , IPMA, BPMN Anzeige PM und E-Rechnung in einer Lösung PROCESSES Projektportfolio Ressourcenmanagement Multiprojektcontrolling Angebote und Angebote und E-Rechnungen E-Rechnungen Scrum, Kanban, PRINCE2 ® , IPMA, BPMN Reportage | Zwei Enthusiasten, eine Partnerschaft - und tausende von Geodaten 10 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 02/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0018 Eine Idee: Das Entsiegelungspotentialkataster könnte man kombinieren mit anderen Daten, etwa Sozialdaten zur Altersstruktur der dort lebenden Bevölkerung. Dies könnte Hinweise gehen, in welchen Stadtteilen oder Straßenzügen genau Hitzeinseln entstehen- - und ob dort viele kleine Kinder oder alte Menschen leben (sie reagieren besonders empfindlich auf Hitze). Stadtplaner könnten solche Hinweise aufgreifen- - und möglicherweise zukünftig Kindergärten oder Altenheime in kühlere Stadtteile verlagern. Dabei könnte wiederum der Digitale Zwilling eine Rolle spielen, über den Ulrich Gellhaus auf der Messe INTERGEO sprach. „Eine Digitaler Zwilling macht diese Daten transparent“, sagt er, „man muss sich nicht mehr auf komplizierten Karten orientieren oder durch Tabellen arbeiten, sondern hat ein digitales Abbild der Stadt vor sich, das auf Knopfdruck die Daten liefert.“ Damit lassen sich komplexe Geodaten deutlich besser kommunizieren. Eine andere Idee: Die KI-generierten Daten könnten auch der Rohstoff für Simulationen und Prognosen sein. Man könnte Szenarien durchspielen und präzise feststellen, wo welche Eingriffe welche Effekte hervorrufen. Was passiert, wenn man an einer bestimmten Straße mehr Bäume pflanzt? Wenn man statt einer „hochversiegelten“ Kreuzung einen Kreisverkehr baut mit Grün in der Mitte? Solche Klimaanpassungen könnten früh im Planungsprozess greifen; sie könnten dazu führen, dass Verwaltung und Politik Szenarien durchspielen- - möglichst noch während die Verwaltung Bebauungspläne entwickelt. Schon heute prüft Bremen, ob Planungen der Klimaentwicklung angepasst sind. „Je früher man den Klimawandel berücksichtigt, desto eher kann man die richtigen Weichen stellen“, sagt Dr. Sarah Tesmer, „man kann analysieren, wo sich etwa Windschneisen bilden können.“ Besonders beim Thema Wind hat Bremen gelernt. In einem ehemaligen Hafengebiet, wo der Wind gelegentlich Radler vom Fahrrad weht, entstand eine moderne Wohnsiedlung mit Balkonen. Schnell stellten die Eigentümer fest: Wind kann den Aufenthalt auf den Balkonen unangenehm machen, sogar gefährlich. Einige haben notgedrungen ihre Balkone mit Plexiglas geschützt. „Weiß man so etwas vorher, kann man die Bebauung anpassen“, sagt Dr. Sarah Tesmer. Beispielsweise Gebäude aus dem Wind drehen. „Beim Windkomfort sind wir heute in Bremen relativ weit“, sagt sie „hinsichtlich der Hitze arbeiten wir daran.“ Doch wollen Ulrich Gellhaus und Phil Daro Krummrich keine falschen Hoffnungen wecken. Noch kann die KI keine Konzepte für Stadtteilentwicklungen „ausspucken“. Und das soll sie auch nicht-- aus prinzipiellen Gründen. Dies berührt die Frage, wer in der Zusammenarbeit von Maschine und Mensch das Ruder führt. Phil Daro Krummrich hat sich unlängst als Project Director (IPMA LEVEL A Certified Project Director ) zertifizieren lassen. Dabei hat er von der Fürsorgepflicht eines Projektmanagers gehört. Wer Fürsorgepflicht hat, führt das Ruder. Damit sind für ihn die Prioritäten klar. „Die Daten werden in einem interaktiven Prozess erzeugt. Mal ist der Mensch, mal die KI am Zuge“, erklärt er, „wir haben dabei bewusst Übergabepunkte definiert, also Punkte, an denen wir der KI Arbeit geben und an denen die KI uns Ergebnisse zurückspielt, mit denen wir weiterarbeiten.“ Entscheidend: Der Mensch führt diesen Prozess. Ulrich Gellhaus fügt an: „Unser Werkzeug muss eingebettet sein in typische und vor allem akzeptierte Prozesse für Planung und Entscheidung.“ Er hält einen Augenblick inne und sagt: „KI kann einen Beitrag leisten für ein lebenswertes Bremen. Aber-- sie ist ein Werkzeug, mehr nicht.“ Eingangsabbildung: Aus großer Höhe- - dieses digital aufbereitete Luftbild gibt Übersicht über die Versiegelung in Bremen. Illustration: OHB
