eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 36/4

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2025-0073
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2025
364 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Fünf Fragen (und überraschende Antworten) vom 34. IPMA World Congress

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2025
Der 34. IPMA World Congress in Berlin, der vom 17. bis 19. September 2025 stattfindet, bietet eine bemerkenswerte thematische Breite. Jeder Vortrag liefert wertvolle Erkenntnisse und wirft neue Fragen auf – fünf davon stellen wir exemplarisch vor.
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62 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 04/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0073 Fünf Fragen (und überraschende Antworten) vom 34. IPMA World Congress Der 34. IPMA World Congress in Berlin, der vom 17. bis 19. September 2025 stattfindet, bietet eine bemerkenswerte thematische Breite. Jeder Vortrag liefert wertvolle Erkenntnisse und wirft neue Fragen auf - fünf davon stellen wir exemplarisch vor. Die Schwerpunkte des Kongresses umfassen aktuelle und zukünftige Herausforderungen im Projektmanagement. Zu den wiederkehrenden Hauptthemen gehören Agilität, Nachhaltigkeit (ESG) und Künstliche Intelligenz (KI), die sowohl in Keynotes als auch in spezifischen Sessions behandelt werden. Darüber hinaus deckt das Programm eine Vielzahl weiterer relevanter Bereiche ab, darunter Transformation und Digitalisierung im Projektgeschäft, verschiedene Aspekte von Führung (z. B. in hybriden oder agilen Teams), sowie die Evolution von PMO & PPM (Projektmanagement-Office und Projektportfolio- Management). Auch spezifische PM-Methoden, Zusammenarbeit, Innovation, Effizienz, Risikomanagement, Governance, Kommunikation und Wissensmanagement sind zentrale Bestandteile der Vorträge und Diskussionen. Der Kongress beleuchtet zudem übergreifende Themen wie Interkulturalität und die Rolle von Projektmanagement in der Gesellschaft, oft durch praxisnahe Projektbeispiele ergänzt - und mit überraschenden Fragen angereichert. 1. Sind Goldfische die besseren Führungskräfte? Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Scherz: In einer Schulung für Führungskräfte sollen sich Teilnehmende ein Beispiel an Goldfischen nehmen. Doch genau diese skurrile Metapher stammt aus der vielfach ausgezeichneten „AppleTV“-Serie Ted Lasso- - und sie liefert überraschende Impulse für modernes Führungsverhalten. Der Projektmanagement-Experte Constantin Hoya, Director Global Agile Organization bei Olympus, nutzt die Serie als Ausgangspunkt für eine praxisnahe Auseinandersetzung mit agiler Führung. Hoya entdeckte Ted Lasso eher zufällig- - und war schnell überzeugt: Die Hauptfigur, ein US-Footballtrainer, der ohne Fachkenntnisse ein britisches Premier-League-Team übernimmt, verkörpert aus seiner Sicht ein Idealbild moderner Führung. Statt Fachwissen ins Zentrum zu stellen, geht es bei Lasso um Haltung, Beziehungsarbeit und die Fähigkeit zur Adaption. Genau diese Qualitäten hält Hoya für entscheidend in einer Welt, in der Führungskräfte oft unerwartet mit neuen Situationen konfrontiert werden- - auch ohne perfekte Vorbereitung. Anhand der Serie identifiziert Hoya fünf Grundpfeiler eines agilen Führungsstils: 1. Positive Leadership: Ted Lasso begegnet Herausforderungen mit einer konsequent optimistischen Grundhaltung. Diese Form der Führung stärkt Resilienz und schafft ein Umfeld, in dem sich Mitarbeitende entfalten können. 2. Empathie und Beziehungsaufbau: Lasso nimmt sich Zeit, sein Team kennenzulernen, baut Vertrauen auf und begegnet jedem Menschen mit echter Wertschätzung- - eine Grundvoraussetzung für funktionierende Projektteams. 3. Teamförderung statt Einzelleistung: Im Zentrum steht nicht das individuelle Leistungsprinzip, sondern die Entwicklung des gesamten Teams. Besonders deutlich wird das an der Wandlung eines egozentrischen Spielers, der lernt, für andere zu spielen-- sowie am Aufstieg eines Zeugwarts zum Cheftrainer. 4. Offene Kommunikation: Lasso schafft eine Kultur, in der offen über Schwächen, Konflikte und Ideen gesprochen wird. Für agile Arbeitsformen ist diese Transparenz essenziell. 5. Fehler als Lernchance: Die Serie endet nicht mit einem Happy End-- das Team steigt ab. Doch gerade dieser Misserfolg wird genutzt, um strukturelle Schwächen sichtbar zu machen und Veränderungsbereitschaft zu fördern. Eine konstruktive Fehlerkultur ersetzt die Angst vor Sanktionen. Ein zentraler Moment der Serie ist die Empfehlung, sich bei Fehlern ein Beispiel an Goldfischen zu nehmen-- mit ihrer angeblich nur zehn Sekunden langen Erinnerungsspanne. Die Botschaft: Rückschläge nicht überbewerten, aus Fehlern ler- Berichte aus der GPM | Fünf Fragen (und überraschende Antworten) vom 34. IPMA World Congress 63 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 04/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0073 nen und dann loslassen. Für Hoya steht diese Haltung exemplarisch für resilientes Führungsverhalten- - insbesondere in dynamischen Projektumfeldern. Ted Lasso verkörpert laut Hoya einen Führungstypus, der nicht über Autorität funktioniert, sondern über Empowerment. Anstatt Mitarbeiter nur an Zahlen zu messen, gibt er Orientierung, fördert Selbstverantwortung- - und inspiriert durch sein eigenes Verhalten. Auch im Stakeholder-Management zeigt die Serie lehrreiche Elemente: Die einstige Gegenspielerin, eine zynische Clubbesitzerin, wird durch Lassos authentisches Auftreten zur Unterstützerin des Teams. Hoya hat die Prinzipien in seine tägliche Arbeit überführt: Bei Olympus leitet er ein internationales Team von Agile Coaches in Japan, den USA und Deutschland. Die Mission: Führungskräfte sollen lernen, nicht über Anweisung zu führen („Push“), sondern durch Vertrauen und Förderung („Pull“)- - und sich selbst als Mentoren begreifen. Hinter dem humorvollen Rahmen der Serie Ted Lasso steckt eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit zeitgemäßer Führung. Der agile Führungsstil der Hauptfigur liefert greifbare Impulse für reale Arbeitskontexte- - und zeigt, dass effektive Führung nicht zwangsläufig aus abstrakten Theoriemodellen bestehen muss. Manchmal reicht ein Goldfisch. 2. Wie bringt man elf Unternehmenskulturen unter ein Dach-- ohne dass es im Großprojekt kracht? Es war das größte Veränderungsvorhaben in der Geschichte der ARD: 11 Rundfunkanstalten, 44 Tochtergesellschaften und rund 37.000 Mitarbeitende-- vereint in einem einzigen Reformprojekt. Ziel war es, die betriebswirtschaftlichen Prozesse der öffentlich-rechtlichen Senderlandschaft zu harmonisieren und eine gemeinsame IT-Plattform einzuführen. Was nach einer klassischen IT-Migration klingt, entpuppte sich schnell als tiefgreifender kultureller Wandel-- mit unerwartetem Widerstand, besonders an der Spitze. Als Dr. Martin Backhaus 2017 die Projektleitung beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) übernahm, stieß er gelegentlich auf überraschende Einschätzungen im Top-Management: Einzelne Führungskräfte hielten das Vorhaben für eine bloße technische Umstellung- - vergleichbar mit einem Update auf Windows 10. Dabei war das erklärte Ziel deutlich umfassender: 90 Prozent der Prozesse sollten harmonisiert, 70 Prozent standardisiert und bis zu 50 Prozent der IT-Kosten eingespart werden. Die Reform sollte die Verwaltung verschlanken, damit mehr Beitragsgelder ins Programm fließen können. Doch schnell wurde klar: Es ging um weit mehr als Technik. „Das war kein IT-Projekt. Das war ein Prozess- und Kulturprojekt“, betont Backhaus. Die Herausforderung lag vor allem in der Vielzahl historisch gewachsener Arbeitsweisen-- von München bis Hamburg, jede Anstalt mit ihrer eigenen DNA. Der Widerstand kam nicht überraschend. Viele Mitarbeitende identifizierten sich mit ihren Prozessen-- eine geplante Standardisierung weckte Ängste, etwa vor Bedeutungsverlust oder Arbeitsplatzabbau. Auch Führungskräfte unterschätzten anfangs den kulturellen Impact des Vorhabens. Umso wichtiger war es, das Thema Change Management strategisch zu verankern. Doch der Aufbau eines professionellen Veränderungsmanagements brauchte Zeit. Erst als das Management die Tragweite erkannte, konnte Backhaus ein mehrstufiges Change-Konzept etablieren- - mit einem zentralen Change-Team und lokalen Change Agents, die die Transformation in den einzelnen Häusern kulturell verankerten. Ein zentrales Element war der Aufbau einer bereichsübergreifenden Key-User-Community. Fachleute aus den Sendern, die zuvor isoliert arbeiteten, wurden vernetzt, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Ergänzt wurde das Change-Management durch kommunikative Maßnahmen: Projektvideos, ein einheitliches Corporate Design und große Projektveranstaltungen- - teils mit Gebärdensprachdolmetschern und Live-Übertragung ins Intranet. Martin Backhaus formuliert vier zentrale Lektionen aus dem ARD-Reformprojekt: 1. Change Management im Großprojekt braucht Struktur und Timing: In Großprojekten reichen Einzelpersonen nicht aus. Es braucht ein belastbares Netzwerk und eine gute Planung, denn bestimmte Maßnahmen entfalten ihre Wirkung nur im richtigen Moment. 2. Ein klarer Start ist entscheidend: Die erste Projektwelle wurde ohne vollständige Unterstützung des Managements gestartet- - mit Folgen: Widerstände gefährdeten den Projekterfolg. Erst mit dem klaren Bekenntnis der Leitung verliefen die folgenden Wellen reibungslos. Die Lektion: Ohne Mandat keine Veränderung. 3. Der Scope muss flexibel bleiben: Trotz sorgfältiger Planung mussten Teile des Projekts 2021 neu justiert werden. Besonders komplexe Themen wie Personal- oder Lizenzmanagement wurden vorerst ausgeklammert. Ein wichtiger Lerneffekt: Auch große Projekte dürfen sich anpassen-- ein Zeichen von Professionalität, nicht von Scheitern. 4. Zentralität braucht Durchsetzungskraft: Aufgrund der rechtlichen Eigenständigkeit der ARD-Anstalten war die Umsetzung der Change-Vorgaben unterschiedlich stark ausgeprägt. Wo zentrale Vorgaben nicht konsequent verfolgt wurden, blieb der Erfolg begrenzt. Die Einsicht: Zentrale Steuerung braucht klare Mandate und Rückhalt. Am Ende wurden zentrale Geschäftsprozesse in Finanzen, Beschaffung, Dienstreiseabrechnung und Controlling für über 38.000 Nutzerinnen und Nutzer vereinheitlicht. Das Projekt zeigt eindrucksvoll, dass technologische Modernisierung nur dann gelingt, wenn kultureller Wandel aktiv mitgestaltet wird-- und wenn Change Management nicht als Begleiterscheinung, sondern als integraler Bestandteil des Projekts verstanden wird. 3. Brauchen wir wirklich immer mehr Autonomie in agilen Teams? Autonomie gilt als zentraler Baustein agiler Zusammenarbeit-- doch was, wenn sich die Vorstellung von „viel hilft viel“ als zu einfach herausstellt? Die Forschung von Judith Armbruster, Agile Coach und Doktorandin, liefert differenzierte Einsichten: In agilen Teams kann auch begrenzte Autonomie motivierend wirken- - insbesondere für Neueinsteiger oder in klar strukturierten Routinen. Ihre Ergebnisse stellen gängige Annahmen infrage und zeigen: Autonomie muss nicht maximiert, sondern richtig dosiert werden. Armbruster, die ihre Forschung mit praktischer Erfahrung aus der Rolle als Head of People and Communication in einem süddeutschen Softwareunternehmen verbindet, nutzt qualitative Interviews und die sogenannte Q-Methodologie, um das Berichte aus der GPM | Fünf Fragen (und überraschende Antworten) vom 34. IPMA World Congress 64 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 04/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0073 individuelle Erleben von Autonomie in agilen Teams systematisch zu erfassen. Sie beobachtet ein Spannungsverhältnis: Während klassische Managementtheorien Autonomie oft als Gegensatz zu Kontrolle verstehen, zeigt sich in agilen Teams eine komplexere Dynamik-- zwischen der Autonomie des Einzelnen und der kollektiven Teamautonomie. Entscheidend sei dabei nicht die völlige Unabhängigkeit (Autarkie), sondern die handlungsorientierte Freiheit innerhalb eines abgestimmten Rahmens. In ihrer Analyse identifiziert Armbruster drei Perspektiven, wie Teammitglieder Autonomie erleben: • Transzendent-zweckorientierte Autonomie: Hier steht das gemeinsame Lernen im Vordergrund. Menschen wollen ihre Arbeit aktiv mit anderen gestalten und durch Zusammenarbeit wachsen. • Ermächtigt-innovative Autonomie: Diese Perspektive betont die Weiterentwicklung durch selbstverantwortliches Arbeiten- - Autonomie wird als Raum zum Lernen und Produzieren zugleich erlebt. • Kontextuell-kreative Autonomie: Kreative Entfaltung findet nicht in grenzenloser Freiheit statt, sondern innerhalb klar definierter Strukturen- - ein Rahmen, der Sicherheit bietet und dennoch Spielräume eröffnet. Eine der überraschendsten Erkenntnisse: Viele Teammitglieder streben nicht nach maximaler Autonomie, sondern nach passender Autonomie. „Man ist oft effizienter, wenn man nicht alles selbst entscheiden muss“, so ein Interviewpartner. Klare Rahmenbedingungen können helfen, sich auf die wesentlichen Aufgaben zu konzentrieren-- eine Beobachtung, die im Widerspruch zu manch dogmatischer Forderung nach maximaler Selbstorganisation steht. Auch die Bewertung vermeintlich „negativer“ Erfahrungen fällt differenziert aus. Viele Befragte beschrieben Situationen, in denen sie sich zunächst überfordert oder unsicher fühlten, diese jedoch im Rückblick als lehrreich und motivierend wahrnahmen. Solche „gemischten Effekte“ unterstreichen die Bedeutung gezielter Herausforderungen außerhalb der Komfortzone. Insbesondere für neue Teammitglieder erweisen sich Routineaufgaben als wichtiger Einstiegspunkt. Auch wenn diese Tätigkeiten wenig Gestaltungsfreiheit bieten, werden sie als motivierend empfunden- - weil sie schnelle Erfolgserlebnisse ermöglichen und Orientierung schaffen. Gleichzeitig bieten etablierte Teamroutinen Halt und fördern den Informationsfluss. Autonomie wird in diesem Kontext nicht durch Freiheit definiert, sondern durch das Gefühl, einen Beitrag leisten zu können. Ein weiterer Befund: Agile Teams übernehmen häufig selbst Verantwortung für die Moderation ihrer Zusammenarbeit. Die Führungskraft muss nicht permanent präsent sein, sondern kann gezielt eingreifen, wenn Strukturen fehlen oder Konflikte entstehen. Dieses Verständnis entlastet nicht nur Projektleiter, sondern fördert auch die Eigenverantwortung und Reife der Teams. Allerdings wird das Thema Autonomie im Teamkontext bislang selten aktiv angesprochen. Viele Befragte hatten sich zuvor kaum Gedanken über ihr eigenes Autonomiebedürfnis gemacht. Armbruster plädiert deshalb dafür, das Thema explizit zu machen: Nur wenn klar ist, wie viel Freiheit und Struktur einzelne Personen brauchen, kann eine gute Balance entstehen. Die Erkenntnisse lassen sich auch außerhalb agiler Strukturen anwenden-- etwa in klassischen oder hybriden Projektumgebungen. Kommunikationsprinzipien wie Offenheit, der Wert von Routinen und die Rolle von Teamdynamik sind universell. Entscheidend ist, wie Zusammenarbeit gestaltet und individuelle Bedürfnisse berücksichtigt werden. 4. Wer hat in Projekten wirklich die Hosen an? Manchmal reichen fünf Minuten, um Führung neu zu verhandeln. Ein Beispiel: Eine Gruppe beginnt, gemeinsam ein Lego- Haus zu bauen. Ohne große Absprache übernehmen Einzelne spontan Aufgaben-- jemand montiert das Dach, bevor der Boden ganz fertig ist, der andere behält den Bauplan im Blick und jemand anders sortiert die Steine. Diese informelle Rollenverteilung erfolgt unbewusst und effizient. Was hier im Kleinen passiert, lässt sich auf ein Prinzip übertragen, das in komplexen Arbeitskontexten zunehmend an Bedeutung gewinnt: Geteilte Führung, auch bekannt als Shared Leadership- - das ist das Thema von Maximilian Müller, der seine langjährige Praxiserfahrung als Team- und Projektleiter bei einem Ingenieurdienstleister in der Automobilindustrie mit seiner Doktorarbeit verknüpft hat. Das Konzept der geteilten Führung wurde in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren entwickelt-- als Gegenentwurf zum traditionellen Bild der „einen“ Führungskraft an der Spitze. Entscheidend ist nicht mehr, wer formal das Sagen hat, sondern wer tatsächliches Führungsverhalten zeigt. In der Realität agiler oder interdisziplinärer Projektteams sind klassische Hierarchien oft nur Fassade. Die Zusammenarbeit ähnelt eher einem Netzwerk- - Führung verteilt sich dynamisch auf mehrere Schultern. In hochdynamischen Projektumgebungen-- etwa in der Produktentwicklung- - stößt klassische Führung schnell an Grenzen. Kein Mensch kann alle Entscheidungen alleine treffen, schon gar nicht in unsicheren, komplexen und zeitkritischen Situationen. Shared Leadership nutzt stattdessen die Expertise, Motivation und Eigeninitiative einzelner Teammitglieder: • Die Projektleitung behält den Überblick über Budget und Kommunikation. • Ein Teammitglied übernimmt das Zeitmanagement. • Eine dritte Person verantwortet technische Entscheidungen. Diese Verteilung ist flexibel und orientiert sich am situativen Bedarf-- und nicht an starren Organigrammen. Geteilte Führung entsteht auf unterschiedliche Weise: • Top-down, wenn Stellvertreterrollen oder klare Zuständigkeiten definiert sind. • Bottom-up, durch sogenannte emergente Führung-- etwa wenn ein Teammitglied spontan Verantwortung übernimmt, weil es ein Problem erkennt oder sich persönlich entwickeln möchte. Diese Dynamik ist nicht nur funktional, sondern auch motivierend. Sie ermöglicht Selbstwirksamkeit, stärkt die Bindung ans Team und eröffnet individuelle Lern- und Entwicklungschancen. Berichte aus der GPM | Fünf Fragen (und überraschende Antworten) vom 34. IPMA World Congress 65 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 36. Jahrgang · 04/ 2025 DOI 10.24053/ PM-2025-0073 Projektleitende müssen nicht alles loslassen, wohl aber die Bereitschaft mitbringen, Verantwortung gezielt abzugeben. In geteilten Führungsmodellen wandelt sich ihre Rolle: Sie steuern nicht mehr alle Inhalte, sondern moderieren die Prozesse. Sie schaffen den Rahmen, in dem sich Führung verteilen kann-- und erkennen, wann Eingreifen nötig ist oder wann das Team selbstständig Lösungen entwickelt. Geteilte Führung ist allerdings kein Allheilmittel. Sie kann zu Unklarheiten führen: Wer ist zuständig? Wer trägt am Ende die Verantwortung? Wie geht man mit Machtverschiebungen um? Vor allem formale Führungskräfte können sich in ihrer Rolle infrage gestellt fühlen, wenn andere informell Führungsaufgaben übernehmen. Zudem erfordert das Modell ein hohes Maß an Kommunikation, Reflexion und Anpassungsfähigkeit- - insbesondere in Remote- oder hybriden Teams, in denen Führung weniger intuitiv sichtbar wird. Geteilte Führung ist kein Trend, sondern eine Antwort auf die Anforderungen moderner Projektarbeit. Sie spiegelt die Realität dynamischer Teamarbeit wider: Führung wird nicht zugewiesen, sie entsteht- - situativ, verteilt, effektiv. Wer das zulässt, öffnet Räume für Innovation, Eigenverantwortung und bessere Ergebnisse. Und manchmal beginnt das alles mit einem Spielzeughaus. 5. Kann man ein PMO von heute auf morgen hochziehen-- oder dauert es eher zehn Jahre? Zehn Jahre mögen im Geschäftsalltag wie ein Wimpernschlag erscheinen-- im Projektmanagement bedeuten sie eine kleine Ewigkeit. Methoden wandeln sich, digitale Werkzeuge werden leistungsfähiger, und die Erwartungen an Projektorganisationen steigen stetig. Bei der Thieme Gruppe, einem Anbieter medizinischer Fachinformationen, hat sich das Project Management Office (PMO) in genau diesem Zeitraum grundlegend gewandelt: von der Excel-getriebenen Unterstützungsfunktion zur zentralen Steuerungseinheit für strategische Projekte. Als das PMO 2006 ins Leben gerufen wurde, stand es vor einem schwierigen Umfeld: stark hierarchische Strukturen, isoliert agierende Unternehmensbereiche und eine mangelhafte Transparenz in der Projektlandschaft. Der Begriff „Projekt“ war kaum definiert und zentrale Standards fehlten, berichtet Jeannine Kraft, Leiterin des Project Management Office der Thieme Gruppe. Statt auf komplexe Tools zu setzen, wählte man bewusst einen pragmatischen Einstieg: Projektanträge in Word, einfache Office-Vorlagen und grundlegende Schulungen zu Projektmethodik. Ein wichtiger Baustein war die Qualifizierung nach IPMA- Standards. Die Entscheidung für die GPM-Zertifizierungen der Level D und B fiel nicht zufällig-- man suchte einen menschenzentrierten Ansatz, der zur wissensbasierten Kultur des Hauses passte. Die Entwicklung des PMO verlief allerdings nicht linear. Zwischen 2016 und 2017 verlor das PMO mit einem Führungswechsel seine Rückendeckung und schrumpfte auf eine Einzelperson zusammen. „Das war ein Wendepunkt“, erinnert sich PMO-Leiterin Jeannine Kraft. Erst mit der erneuten Verankerung auf Top-Management-Ebene-- ab 2020 unter dem CFO-- gewann das PMO wieder an Relevanz. Der entscheidende Schritt: die Einführung einer unternehmensweiten PPM-Software, die zwischen 2021 und 2023 das bisherige, auf Office basierende System ablöste. Heute ist das PMO bei Thieme weit mehr als eine unterstützende Instanz. Es versteht sich als integraler Bestandteil der Unternehmenssteuerung-- mit drei zentralen Rollen: • Kompetenzzentrum: Das PMO verantwortet die methodische Weiterentwicklung und qualifiziert Mitarbeitende im Projektumfeld. • Strategisches Getriebe: Es sammelt, bewertet und priorisiert strategisch relevante Themen-- und sorgt für Durchsatz. • Projektmanagement as a Service: Seit 2022 steht ein zentraler Pool an neutralen Projektleiterinnen und -leitern zur Verfügung. Die entkoppelte Perspektive- - frei von Bereichsinteressen- - hat sich als zentraler Erfolgsfaktor erwiesen. Im Umgang mit aktuellen Entwicklungen mahnt Jeannine Kraft zu einer besonnenen Haltung: • Agilität wird nicht als Selbstzweck verstanden. Man nutzt agile Praktiken gezielt dort, wo sie echten Mehrwert bieten- - etwa in der Produktentwicklung. Die Idee einer rein „agilen Organisation“ wurde bewusst verworfen. • Künstliche Intelligenz wird als Effizienztreiber eingesetzt, nicht als Revolution. Co-Pilot-Systeme unterstützen bei der Protokollierung, Texterstellung oder Auswertung von Dashboards. Trotz aller Fortschritte bleibt das PMO mit typischen Herausforderungen konfrontiert: • Struktur vs. Kreativität: Strukturierte Planung wird mitunter als Einschränkung empfunden, auch wenn sie langfristig den Projekterfolg sichert. • Ressourcenmanagement: Die Frage „Was machen wir nicht ? “ bleibt unangenehm, ist aber essenziell-- insbesondere in einem Umfeld begrenzter Kapazitäten. • Vertrauen und Akzeptanz: Das PMO muss sich kontinuierlich als Partner der Fachbereiche positionieren, nicht als Kontrollinstanz der Geschäftsleitung. Die Entwicklung des PMO bei der Thieme Gruppe zeigt exemplarisch, wie tiefgreifend und zugleich fragil Transformationen im Projektmanagement sein können. Rückschläge gehören zum Prozess-- entscheidend ist die Resilienz, das Netzwerk im Unternehmen und die Fähigkeit zur strategischen Anpassung. Für Jeannine Kraft steht fest: Eine wirksame PMO-Transformation braucht mindestens zwei bis drei Jahre-- und oft ein Jahrzehnt, um zur vollen Entfaltung zu gelangen. Eingangsabbildung: © iStock.com / Mihajlo Maricic