Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0002
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2016
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Kriterien für Smartness
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2016
Constanze Heydkamp
Alyssa Weskamp
Der Beitrag vermittelt Eindrücke aus dem City Lab Tiflis, das 2015 im Rahmen der Morgenstadt-Initiative stattfand. Anhand von IKT-orientierten Projektbeispielen aus dem Verkehrsbereich der georgischen Hauptstadt Tiflis werden exemplarisch vier Herausforderungen beim Smart City Konzept für Städte in Entwicklungsländern aufgezeigt: Regeltreue, strategischer Kompetenzaufbau, Usability und Kontinuität. Diese sowie weitere Herausforderungen könnten zukünftig in einem Kriterienkatalog berücksichtigt werden, dessen Erfüllung als Voraussetzung für die Implementierung von Smart City-Projekten dient.
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4 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Smart Cities Im Zuge der Erkenntnis, dass seit 2008 erstmals mehr Menschen weltweit in Städten als auf dem Land leben, dreht sich seither nahezu alles um die „Stadt der Zukunft“. Wie können wir unseren zukünftigen Lebensraum lebenswert gestalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass er möglichst geringe negative Auswirkungen auf die Umwelt hat? Unterschiedliche Konzepte setzen sich seither mit dieser Fragestellung auseinander. Eine Zukunft, die vor dem Hintergrund der weltweit voranschreitenden Digitalisierung nahe liegt, ist die Smart City als eine von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) geprägte Lebensumwelt, welche durch die Vernetzung von Informationen Effizienzgewinne, Nachhaltigkeit und Komfort verspricht. Eine einheitliche Definition für diese Zukunft fehlt bis heute, weshalb weiterhin häufig ein technologiezentriertes Verständnis als einzige Gemeinsamkeit in der Diskussion um Smart City Lösungen zugrunde liegt. Daher mangelt es auch an definierten Kriterien, welche eine Stadt erfüllen sollte, ehe sie gewisse Lösungen zielversprechend einsetzen kann. In diesem Beitrag werden Eindrücke aus dem Morgenstadt City Lab Tiflis vermittelt. Dabei wird auf eine Lücke in der Diskussion Kriterien für Smartness Eindrücke aus dem Morgenstadt City Lab Tiflis Morgenstadt City Lab, urbane Mobilität, Smart City, Entwicklungsland, Kompetenzaufbau, Kontinuität Constanze Heydkamp, Alyssa Weskamp Der Beitrag vermittelt Eindrücke aus dem City Lab Tiflis, das 2015 im Rahmen der Morgenstadt-Initiative stattfand. Anhand von IKT-orientierten Projektbeispielen aus dem Verkehrsbereich der georgischen Hauptstadt Tiflis werden exemplarisch vier Herausforderungen beim Smart City Konzept für Städte in Entwicklungsländern aufgezeigt: Regeltreue, strategischer Kompetenzaufbau, Usability und Kontinuität. Diese sowie weitere Herausforderungen könnten zukünftig in einem Kriterienkatalog berücksichtigt werden, dessen Erfüllung als Voraussetzung für die Implementierung von Smart City-Projekten dient. Friedensbrücke über die Mtkwari in Tiflis. © pixabay 5 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Smart Cities um Smart Cities und ihre Potenziale für Städte in Entwicklungsländern hingewiesen. Anhand der Verkehrssituation vor Ort wird dargelegt, mit welchen Herausforderungen sich die Hauptstadt Georgiens aktuell konfrontiert sieht, inwiefern moderne IKT bereits erfolgreich eingesetzt wird und an welchen Schnittstellen Hindernisse bestehen, die nicht allein mit einer smarten urbanen Umwelt beantwortet werden können, sondern die Menschen fordern. Das Morgenstadt City Lab Tiflis Im Jahr 2012 rief die Fraunhofer- Gesellschaft die Morgenstadt- Initiative ins Leben (www. morgenstadt.de). In einem Innovationsnetzwerk arbeiten hier Industrieunternehmen gemeinsam mit Städten und Forschungseinrichtungen daran, die Städte der Zukunft zu gestalten. In einer ersten Projektphase wurden in diesem Rahmen Berlin, Freiburg, New York City, Kopenhagen, Singapur und Tokio als Vorreiterstädte im Sinne der Nachhaltigkeit anhand von Best-Practice- Beispielen untersucht. Auf Basis der gewonnenen Ergebnisse wurde ein Analyse- Framework entwickelt, das seit 2015 in der zweiten Projektphase in Prag, Lissabon, Chemnitz und Tiflis eingesetzt wird. Mithilfe der Morgenstadt-Methodik wird für diese vier Städte jeweils eine Nachhaltigkeits-Roadmap entwickelt, welche den Weg in die Zukunft unterstützen soll. Finanziell wird das Morgenstadt City Lab Tiflis aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Rahmen der Deutschen Finanziellen Zusammenarbeit mit Georgien sowie durch einen Eigenbeitrag der Stadt Tiflis getragen. Die Stadt in eine Smart City zu wandeln, ist auch Ziel des derzeitigen Bürgermeisters von Tiflis. Die Verbesserung der Verkehrssituation spielt dabei eine herausragende Rolle. Tiflis, die Hauptstadt Georgiens, blickt zurück auf 1500 Jahre Stadtgeschichte - und verfügt heute über 1,1 Mio. Einwohner, etwa 385 000 Autos und rund 30 000 Parkplätze. Seit der Unabhängigkeit ist das südkaukasische Land ein Drehkreuz für Gebrauchtwagen aus Europa, den USA und Japan geworden, und die jährliche Wachstumsrate an zugelassenen Pkw beträgt 8 %. Knapp die Hälfte der Fahrzeuge ist mehr als zehn Jahre alt - und einen TÜV gibt es nicht mehr. Katalysatoren? Fehlanzeige. Tiflis erstickt in Stau und Abgasen, Alternativen zum privaten Pkw fehlen - der Verkehr wird deshalb als größter Hebel zur Verbesserung der Lebensqualität angesehen. Smart City-Experten denken hier sicherlich sofort an Lösungen wie intelligente Verkehrsleitsysteme à la Singapur oder eine elektrifizierte Taxiflotte wie in London. Doch zwei Wochen Vor-Ort-Recherche und rund 60 Interviews mit Verwaltern und Politikern, Denkern und Machern der Hauptstadt Georgiens haben für das untersuchende Morgenstadt-Team ein neues Licht auf die Grenzen der Universallösung Smart City geworfen. Die Hindernisse, die im Rahmen dieses Artikels mithilfe von Projektbeispielen aus Tiflis veranschaulicht werden, sind Regeltreue, strategischer Kompetenz- Aufbau, Usability und Kontinuität. Regeltreue Im Jahr 2012 wurde in Tiflis eine Verkehrsmanagement zentrale eingerichtet, mit der sich nicht nur 137 der 217 Ampeln in der Hauptstadt aus der Ferne steuern, sondern zudem Verkehrsdelikte per Videoaufnahme erfassen lassen. In einem Pilotprojekt mit 19 Kreuzungen im Distrikt Vake konnten dadurch Staus um 20 % reduziert werden, was in den kommenden drei Jahren mit der Integration aller Ampeln auf die gesamte Stadt skaliert werden soll. Die hohe Zahl der Verkehrsdelikte bewirkt allerdings, dass nur ein Bruchteil davon verfolgt werden kann - sodass zahlreiche Vergehen zwar gesehen werden, aber konsequenzenlos bleiben. Diese Verstöße reichen von Geschwindigkeitsüberschreitungen bis hin zu Auffahrunfällen. In diesem Zusammenhang gibt es aktuell z.B. eine Kampagne, welche die Auswirkungen einer nicht ordnungsgemäß ausgeführten Rettungsgasse in Notfallsituationen zeigt. Ein erstes Pilotprojekt zur Erfassung von Stadtansichten von Tiflis. Bild oben: © Constanze Heydkamp Bild unten: © Alyssa Weskamp 6 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Smart Cities Rotlichtverstößen mittels Blitzer wird derzeit ebenfalls umgesetzt. Das Einhalten der Regeln wird von den Experten vor Ort als besonders problematisch angesehen: Höhere Geldbußen werden in diesem Zusammenhang als einzige zielführende Maßnahme angesehen. Strategischer Kompetenzaufbau Tiflis profitiert von zahlreichen internationalen Kooperationsprojekten: Die Generation von neuem Wissen über die Stadt ist dabei sehr wertvoll für Georgiens Hauptstadt. Eine Vielzahl Studien wird jährlich von unterschiedlichsten Organisationen erstellt. Häufig wird hierzu moderne Hard- oder Software eingesetzt, die gelegentlich auch nach dem Ende der Projektlaufzeit in Tiflis verbleibt. Die methodische Vorgehensweise oder Bedienungshinweise bleiben teils Privileg der externen Fachexpertise und gehen häufig nicht in den aktiven Wissensschatz der städtischen Mitarbeiter oder georgischen Projektpartner über. Im Rahmen eines vergangenen Projekts wurde beispielsweise eine Verkehrsfluss-Simulationssoftware beschafft und eingesetzt. Mit dem Ende des Projekts ging das Wissen über die Anwendung der Software jedoch verloren, da eine Übertragung des Anwendungswissens offenbar nicht Bestandteil des Projekts war. Weder beherrscht heute einer der städtischen Angestellten das Programm, noch konnte eine neue Stelle aufgrund fehlender Expertise besetzt werden. Aufgrund des Mangels an Datenpflege ist das Simulationsmodell mittlerweile veraltet, eine Aktualisierung dringend notwendig. Der Bau von Klärwerken in Südasien oder Brunnen in Afrika hat in der Vergangenheit bereits ähnliche Problematiken aufgezeigt. Dies zeigt, was die Entwicklungszusammenarbeit schon lange vor der Digitalisierung plagte: Noch immer reicht nicht allein die technische Lösung, mag sie noch so makellos sein. Diese Erkenntnis scheint bislang allerdings keinen Eingang in das Ausbildungsprogramm gefunden zu haben. Nach Angabe der Experten fehlt weiterhin eine dringend notwendige universitäre Ausbildung im Bereich der Verkehrsplanung in Georgien, welche ebenfalls anwendungsbezogen gestaltet ist und den Gebrauch moderner Informations- und Kommunikationstechnologien einschließt. Usability Beim Einsatz neuer Technologien wird stets das Thema Usability diskutiert, welches die Einfachheit und Nutzbarkeit einer Lösung untersucht. Es liegt dabei die These zugrunde, dass Lösungen, die kompliziert in der Bedienung sind, weniger gern und somit weniger häufig genutzt werden. Ein erfolgreiches Praxisbeispiel aus Tiflis ist die Agentur „Public Service Hall“, die 2011 von der georgischen Regierung installiert wurde und die Kommunalverwaltung revolutionierte. Dafür erhielt sie 2012 den UN Public Service Award. Mit dem One-Stop-Shop- Prinzip können seitdem Bürger in immer mehr georgischen Städten innerhalb eines Tages den größten Teil ihrer Amtsgänge unter einem Dach erledigen - unter anderem dank zentralisierter Datenverwaltung. Seit 2012 ist die Public Service Hall in Tiflis geöffnet und wird intensiv genutzt, um etwa Ausweise, Heirats- und Geburtsurkunden zu erhalten und Grundbesitzeintragungen durchzuführen. Die Gliederung der Schalter in „Self- Service“, „Quick Service“ und „Long Service“ (für Prozesse, die über fünf Minuten dauern) verkürzt die Wartezeiten erheblich. Dabei muss sowohl die Usability für den Bürger als Endnutzer als auch den städtischen Mitarbeiter berücksichtigt werden, der im Arbeitsalltag mit den neuen Lösungen umgehen muss. Ein robustes Backend und geregelte Prozesse sind ebenfalls notwendig für den Erfolg des Projekts. Kontinuität Während in Deutschland vor allem der lange Zeitraum zwischen Plan und Umsetzung zu Zerwürfnissen zwischen Politik und Bürgern führt, wenn Jahrzehnte alte Planung mit dem Zeitgeist kollidiert, ist es in Entwicklungsländern die häufige Strategieänderung durch Personalwechsel in den Führungsebenen, welche die Realisierung von Projekten verhindert. Dabei stellte sich in der ersten Phase der Morgenstadt-Initiative heraus, dass die kontinuierliche Verfolgung übergeordneter Nachhaltigkeitsziele über die Amtszeit einzelner Seilbahn über den Dächern von Tiflis. © Constanze Heydkamp 7 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Smart Cities Politiker hinaus ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist. Dies setzt allerdings einen Konsens über die Bedeutung von Nachhaltigkeit für die Stadt ebenso voraus wie eine Kultur, in der die Verdienste anderer Parteien anerkannt werden. Als gutes Praxisbeispiel ist in diesem Kontext die Stadt Freiburg im Breisgau zu nennen. Ganz im Gegensatz besteht in Tiflis aktuell vielmehr die Sicherheit, dass ein politischer Nachfolger eine 180-Grad-Wendung vollziehen wird, statt sinnvolle Ideen und Projekte fortzuführen. So wurde im Jahr 2013 nach dreijähriger Arbeit mit Unterstützung von Weltbank und Cities Alliance die umfangreiche Stadtentwicklungsstrategie „Tbilisi 2030“ vorgestellt - nur um von der neu gewählten Kommunalverwaltung im Juni 2014 ad acta gelegt zu werden. Etliche Studien und „Action Plans“ wurden bereits erstellt, unter anderem für Fahrradwege, die Verlegung des Hauptbahnhofs, Logistikzentren und die Wiedereinführung der Tram. In Ermangelung übergeordneter Zielsetzungen und eines kontinuierlichen institutionellen Gedächtnisses ist die konsequente Umsetzung ambitionierter öffentlicher Projekte jedoch selten, obwohl internationale Fördergelder in vielen Feldern zur Verfügung stehen. Voraussetzungen für Smart City Lösungen in Entwicklungsländern Die eingangs benannte Lücke in der Diskussion um Smart Cities und ihre Potenziale für Entwicklungsländer spiegelt sich in den herrschenden Rahmenbedingungen vor Ort wieder. Sie beeinflussen, ob die Ziele des Smart City-Ansatzes für Effizienzsteigerung, Nachhaltigkeit und Komfort durch die eingesetzten Lösungen tatsächlich erreicht werden können. In den vorangegangenen Abschnitten wurden beispielhaft die vier Herausforderungen Regeltreue, strategischer Kompetenzaufbau, Usability und Kontinuität zur Diskussion gestellt und anhand von konkreten Projekten veranschaulicht, wie diese den Erfolg einer smarten Lösung beeinflussen. Anhand der Erkenntnisse aus dem Morgenstadt City Lab Tiflis kristallisiert sich heraus, dass in Entwicklungsländern Digitalisierung und Smart City-Technologien dann besonders sinnvoll erscheinen, wenn zunächst Grundbedürfnisse der Stadtbevölkerung adressiert werden, da diese über lange Zeit relativ stabil bleiben. Hierzu zählen alle Prozesse, die alltäglich von einer großen Gruppe an Personen genutzt werden und durch smarte Lösungen zur tatsächlichen Vereinfachung des Prozesses für alle Nutzer führen wenn die Bevölkerung bei der Konzeption und Umsetzung der Lösungen einbezogen wird, sodass ein Commitment ihrerseits zur Erfüllung der Ziele vorhanden ist, welche unter anderem beispielsweise freiwillige Standards einschließen können wenn Projekte in einer integrierten Gesamtstrategie verankert sind, die den sozioökonomischen Kontext berücksichtigt, und somit keine „zusammenhangslosen“ Projekte entstehen wenn eine objektive Erfolgskontrolle jener Projekte stattfindet, die dabei unterstützen, die smarten Lösungen nachvollziehbar und effektiv zu kommunizieren wenn Skalierbarkeit mitgedacht wird - schließlich müssen Lösungen oft vielfach umgesetzt werden (z.B. Straßenleuchten, ÖPNV-Haltestellen, sanierte Gebäude), damit sie im urbanen Maßstab Wirkung zeigen w e n n (s oz io -) ö ko n o mi s c h e Umsetzungsvoraussetzungen und Replizierbarkeit als bedeutsamere Kriterien angesehen werden als technische Machbarkeit Unter diesen Voraussetzungen - wobei diese Liste keinen Vollständigkeitsanspruch erhebt - können die Versprechungen der Smart City gerade dort zu einer signifikanten Steigerung der Lebensqualität beitragen, wo diese besonders steigerungsbedürftig ist: nahe an den Menschen und ihrem Lebensalltag. Zusammenfassung Es gibt also durchaus Kriterien, die den Erfolg von Smart City-Lösungen negativ beeinflussen und demnach künftig die Voraussetzungen für die Implementierung von Projekten bestimmen könnten. Vier Kriterien wurden anhand der Erkenntnisse aus dem Morgenstadt City Lab Tiflis aufgestellt und mit Projektbeispielen vor Ort begründet. Als Folgerung daraus wurden abschließend weitere Kriterien angedacht und zur Diskussion gestellt. Constanze Heydkamp Wissenschaftliche Mitarbeiterin Competence Team Urban Systems Engineering, Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement der Universität Stuttgart Kontakt: constanze.heydkamp@iat.uni-stuttgart.de Alyssa Weskamp, Projektmanagerin Team Green City Development Drees & Sommer Advanced Building Technologies GmbH, Stuttgart Kontakt: alyssa.weskamp@dreso.com AUTORINNEN
