eJournals Transforming cities 1/1

Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0007
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Städte brauchen Innovationen – aber welche?

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Stephan Reiß-Schmidt
Der Begriff Smart Cities ist in aller Munde – als angebliches Patentrezept für ressourcenschonende, lebenswerte, transparent verwaltete Städte – oder sogar als neues Leitbild der Stadtentwicklung. So sehen es die Einen, die hier neue Märkte für Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) oder neue digitale Servicetools vermuten. Andere sind da skeptischer: Lassen sich die ökologischen und sozialen Herausforderungen der Urbanisierung wirklich durch mehr Daten, mehr digitale Vernetzung, mehr selbstfahrende Autos und mehr Online-Shopping lösen?
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18 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities Stadt - ein komplexes System Städte sind komplexe räumliche, ökologische, technische, soziale und politische Systeme. Jede Stadt ist anders, hat ihre Eigenlogik. Städtebauer, Architekten und Ingenieure haben in den letzten hundert Jahren immer wieder nach Patentlösungen, nach Standardisierung gesucht - one size fits all. Und sie sind damit meistens gescheitert. Das spricht nicht gegen die Suche nach (auch) technischen Innovationen, die dieses komplexe System nutzergerechter machen. Aber es spricht gegen die Unterschätzung von Komplexität und physischer Remanenz (immerhin sind rund 90 % der Stadt 2030 heute schon gebaut). Es spricht vor allem gegen die Unterschätzung sozialer Wirkungen technischer Innovationen, deren Effizienzgewinne durch Rebound-Effekte rasch zunichte gemacht werden können. Was nützt eine ressourceneffiziente Wärmeversorgung, wenn Komfortbedürfnisse und veränderte Haushaltsstrukturen zum Wachstum der Wohnfläche und damit des Wärmebedarfs pro Person führen? Herausforderungen Wissen und Innovation werden vor allem in Metropolregionen und Städten generiert, denn dort werden die notwendige Vielfalt und die kritische Masse erreicht. Räumliche Nähe und soziale wie bauliche Dichte schaffen optimale Bedingungen, um vor allem das nicht kodifizierbare Wissen - tacit knowledge - auszutauschen. Eine fortschreitende Urbanisierung schafft also die Voraussetzungen für Innovation, stellt die Städte aber auch vor vielfältige Herausforderungen:  Globalisierung: Finanzsystem, Wissensgesellschaft  Klimawandel: Klimaschutz durch erneuerbare Energien, Energieeffizienz - Klimaanpassung von Siedlung und Infrastruktur  Demografischer Wandel: EU-Binnenwanderung, Flüchtlinge - wachsende und schrumpfende/ alternde Städte und Regionen  Digitalisierung: IKT, Vernetzung / „Internet der Dinge“  Soziale und räumliche Polarisierung: Bildungs- / Einkommensarmut - „prekäre Stadtquartiere“  Soziale Wohnraumversorgung: Erhalt / Neubau von Wohnungen als kommunale Daseinsvorsorge  Mobilität: stadt- und umweltverträglich gestalten  Innenentwicklung: Flächeninanspruchnahme reduzieren. Technische, gesellschaftliche und räumliche Veränderungen haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich beschleunigt - und werden sich wahrscheinlich weiter beschleunigen. Disruptive Innovationen, die einen Bruch mit vorher bestehenden Technologien oder Organisationsstrukturen bedeuten, nehmen gegenüber evolutionären Veränderungen zu. Darauf muss das System Stadt, muss die Stadtentwicklungsplanung sich einstellen. Hinzu kommt: Zukünftige Entwicklungen sind immer weniger Städte brauchen Innovationen - aber welche? Digitalisierung und Smart Cities als Herausforderungen für die Stadtentwicklung Stadtentwicklung, Smart Cities, Innovation, Urbanisierung Stephan Reiß-Schmidt Der Begriff Smart Cities ist in aller Munde - als angebliches Patentrezept für ressourcenschonende, lebenswerte, transparent verwaltete Städte - oder sogar als neues Leitbild der Stadtentwicklung. So sehen es die Einen, die hier neue Märkte für Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) oder neue digitale Servicetools vermuten. Andere sind da skeptischer: Lassen sich die ökologischen und sozialen Herausforderungen der Urbanisierung wirklich durch mehr Daten, mehr digitale Vernetzung, mehr selbstfahrende Autos und mehr Online-Shopping lösen? 19 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities vorhersehbar und damit planbar. Städte stehen vor der Frage, mit welchen Strategien sie unerwartete Entwicklungen auffangen und die soziale Stabilität, das Funktionieren der Infrastruktur und die Sicherheit ihrer Bevölkerung trotzdem sicherstellen können. Resilienz, das heißt Anpassbarkeit, Belastbarkeit, Reaktions- und Widerstandsfähigkeit und damit robuste Raum- und Infrastrukturen werden immer wichtiger. Stadtentwicklung als politischer Prozess In der nachhaltigen Stadtentwicklung geht es um das Gemeinwohl und damit um ein gesellschaftlich akzeptiertes Gleichgewicht zwischen ökonomischer Prosperität, sozial-räumlicher Integration und Umwelt- und Lebensqualität (Bild 1). Eindimensionale Optimierungsstrategien bringen das komplexe System Stadt aus der Balance, verfehlen die soziale Gerechtigkeit oder andere wichtige Dimensionen einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Rahmenbedingung für zukunftsfähige Strategien ist die Erkenntnis, dass Stadtentwicklung nicht top-down gesteuert werden kann, sondern ein kooperativer und diskursiver Prozess ist. Viele Akteure wirken daran mit, nicht nur aus Politik und Verwaltung, sondern aus der Wirtschaft, der Wissenschaft und vor allem aus der Zivilgesellschaft. Bürgerinnen und Bürger sind als Wählerinnen und Wähler die oberste Entscheidungsinstanz der demokratischen Stadtgesellschaft. Sie delegieren Macht auf Zeit an gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten in Parlamenten und Gemeinderäten und organisieren ihre Interessen in Vereinen, Parteien, Verbänden, Initiativen. Demokratische Stadtentwicklung ist ein permanenter Diskurs zwischen den Akteuren um zu konkretisieren, welche Ziele, Strategien und Projekte zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort dem Gemeinwohl am besten entsprechen. Diesem Prozess des Informationsaustauschs, der Prüfung, Diskussion und Entscheidung müssen sich auch technologische Innovationen, muss sich auch das Konzept Smart Cities stellen. Smart Cities und urbane Innovationen - Chancen und Risiken Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sind mit Chancen und Risiken verbunden, die erkannt, diskutiert und sorgfältig abgewogen werden müssen. Chancen:  Steigerung von Ressourceneffizienz und Wirtschaftlichkeit  Echtzeit- und Zweiwege-Kommunikation  Transparenz - Open Data  Sharing - Co-Produktion - Prosuming  Mehrfach- / Mischnutzung - Urbane Produktion - „Micro Factories“  Intermodale, bedarfsgerechte Mobilität. Risiken:  Beschleunigung des Wandels - Disruptive Entwicklungen  Over-Engineering - Technik- und Anbieterabhängigkeit - Kostenrisiken  Verlust demokratischer Kontrolle - Machtkonzentration  Verlust der Privatsphäre - Identitätsverlust  Sozio-kulturelle Polarisierung - Digital Divide - ungleiche Chancen  Gefährdung von Stadt(teil)zentren durch Online- Einzelhandel. Integrierte kommunale Innovationspolitik - Stadt als lernendes System Was können und sollten Städte tun, um sich den Herausforderungen der Digitalisierung zu stellen und ihre Chancen zu nutzen? Ziel ist eine integrierte kommunale Innovationspolitik, die IKT in soziale, kulturelle und räumliche Leitbilder, Strategien und Prozesse der Stadtentwicklung einbettet. Nur wenn sich digitale Innovationen am Gemeinwohl orientieren erzielen sie über das wirtschaftliche Geschäftsmodell hinaus eine positive „Stadtrendite“. Im Bild 1: Handlungsrahmen nachhaltiger Stadtentwicklung Quelle: Deutscher Städtetag (2015), Positionspapier Integrierte Stadtentwicklungsplanung und Stadtentwicklungs- Management. Ökonomische Prosperität Schaffung / Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen durch Qualifizierung, Kreativitäts- und Innovationsförderung ... Partizipation Mitgestaltung der eigenen Lebensumwelt, demokratische Mitbestimmung Soziale und räumliche Integration Sicherung von sozialem Miteinander, gesellschaftlicher Durchlässigkeit und räumlichem Ausgleich durch Wohnungspolitik, Bildungs- und Kulturangebote ... Umwelt- und Lebensqualität Sicherung der ökologischen und ästhetischen Qualität der Stadt als Lebensraum durch Klimaschutz und Grünpolitik, Baukultur und Innenentwicklung ... 20 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities Dipl.-Ing. Stephan Reiß-Schmidt Stadtdirektor Mitglied DASL / ISOCARP / SRL Leiter der Hauptabteilung Stadtentwicklungsplanung im Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Landeshauptstadt München, Vorsitzender der Fachkommission Stadtentwicklungsplanung des Deutschen Städtetages Kontakt: stephan.reiss-schmidt@muenchen.de Interesse der Chancengerechtigkeit müssen digitale Bildung und Technikzugang durch Partizipation und Empowerment breit verankert werden. Spezifische IKT-Konzepte für öffentliche Verwaltung und kommunale Daseinsvorsorge müssen so designt werden, dass sie zur Stärkung der lokalen Demokratie und der kommunalen Selbstverwaltung beitragen - und nicht zur Privatisierung und Ökonomisierung der kommunalen Daseinsvorsorge. Um gerade in sozial benachteiligten Teilräumen Identität zu stiften, Teilhabe zu verbessern und soziale und räumliche Resilienz zu entwickeln, gilt es, Stadtentwicklung stärker zu dezentralisieren und Quartiere als Planungs- und Handlungsräume zu stärken. Die Städte brauchen mehr soziale, technikunterstützte Innovationen. Innovationspolitik in diesem Sinn ist ein gesellschaftlicher und politischer Prozess, kein Algorithmus. Deshalb erfordert eine integrierte kommunale Innovationspolitik den Mut zu Experimenten, zum Beispiel in wissenschaftlich begleiteten Reallaboren. So wird Stadt zum lernenden System. „Der Deutsche Städtetag empfiehlt seinen Mitgliedsstädten, insbesondere die Digitalisierung und die damit einhergehenden fundamentalen Veränderungen der Stadtentwicklung, ihrer Kommunikationsprozesse und ihrer politisch-administrativen Steuerung in ihre Stadtentwicklungskonzepte einzubeziehen. Die fortschreitende Digitalisierung verändert nicht nur private und gesellschaftliche Kommunikationsprozesse (zum Beispiel W-LAN im öffentlichen Raum, Partizipation über soziale Medien), die Verwendung öffentlicher Daten (beispielsweise Open GeoData) oder die Produktion und Steuerung städtischer Infrastrukturen in den Bereichen Datenkommunikation (Glasfaser-/ Breitbandnetze), Gebäude (zum Beispiel effiziente Steuerung der Gebäudetechnik), Mobilität, Zentrenstruktur und Einzelhandel (Erosion des stationären Einzelhandelsnetzes durch Online-Handel) oder Energie- und Wasserversorgung (zum Beispiel Smart Grids, Smart Metering). Sie wirkt sich auch auf die Rollenverteilung zwischen privaten Daten- und Dienstanbietern, den Bürgerinnen und Bürgern als Konsumenten und der öffentlichen Planung und Daseinsvorsorge unmittelbar aus. Neue digitale Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) müssen in den stadtentwicklungspolitischen, sozialen und räumlichen Zusammenhang eingebunden werden. Damit können die Chancen der Digitalisierung für eine nachhaltige Stadtentwicklung genutzt und Risiken für Datenschutz und Datensicherheit, für das sozialräumliche Gleichgewicht und für die Versorgungssicherheit und Qualität der Daseinsvorsorge begrenzt werden. Dadurch kann auch einer durch die „technologische Hintertür“ kommenden zweiten Welle der Privatisierung der kommunalen Daseinsvorsorge begegnet werden.“ Deutscher Städtetag (2015): Positionspapier Integrierte Stadtentwicklungsplanung und Stadtentwicklungsmanagement. INFORMATION Ausblick In Anbetracht der auf die Städte zukommenden Herausforderungen erfüllt das Leitbild der kompakten, nutzungsgemischten, sozial und kulturell integrierenden europäischen Stadt auch im 21. Jahrhundert die Anforderungen an eine nachhaltige, sozial gerechte Stadtentwicklung am besten. Das bedeutet nicht, technikfeindlich zu sein oder die Potenziale der Digitalisierung für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu ignorieren, zum Beispiel in Bereichen wie stadtverträgliche Mobilität, Energieeffizienz, Sicherheit oder bürgerfreundliche Serviceangebote der Stadtverwaltung. Digitale Technologien haben zur Bewältigung dieser Herausforderungen aber eine dienende Funktion; das Konzept Smart Cities eignet sich nicht als Patentrezept oder gar als Leitbild der Stadtentwicklung. Die notwendige Debatte über eine produktive Rolle des Konzeptes Smart Cities in der integrierten Stadtentwicklungsplanung steht noch am Anfang. Offene Fragen gibt es genug, um nicht nur im Gespräch zu bleiben, sondern durch Forschung in Reallaboren mehr Klarheit über die Rolle technologischer Innovationen im gesellschaftlichen Transformationsprozess der Städte zu gewinnen. Fragestellungen, die zu vertiefen lohnend wäre, sind etwa:  Wie kann der Primat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und demokratischer politischer Entscheidungen auf kommunaler Ebene gewahrt werden?  Wie kann Chancengerechtigkeit beim Zugang zu digitalen Technologien erreicht werden?  Wie kann kulturelle und soziale Integrität und Identität von Städten und Regionen gewahrt werden?  Wie kann die Stadtgesellschaft mit Beschleunigung und Unsicherheit sozial verträglich umgehen?  Wie können langfristige Finanzierbarkeit, Anbieterunabhängigkeit und Resilienz für technische Systeme und für die Stadtentwicklung insgesamt gewährleistet werden? AUTOR