Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0013
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2016
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Künstliche Intelligenz für die Stadt von morgen
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Andreas Dengel
Martin Memmel
Didier Stricker
Paul Lukowicz
Weltweit sind urbane Lebensräume mehr und mehr im Wandel begriffen. Bedingt durch ökologische, ökonomische und demographische Prozesse sind Bürger und Verwaltungen mit neuen Herausforderungen konfrontiert, diesen Wandel konstruktiv und „smart“ zu begleiten. Dabei können auch digitale Werkzeuge eine unterstützende Rolle spielen. Im Rahmen des SmartCity Living Lab am Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz werden in einem interdisziplinären Ansatz Technologien für die Stadt von morgen erforscht und in der Praxis erprobt.
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46 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities Das DFKI in Kaiserslautern. © DFKI Künstliche Intelligenz für die Stadt von morgen Erprobung und Erforschung von Technologien im interdisziplinären SmartCity Living Lab des DFKI Künstliche Intelligenz, SmartCity, Partizipation, Big Data, Augmented Reality, Crowdsourcing Andreas Dengel, Martin Memmel, Didier Stricker, Paul Lukowicz Weltweit sind urbane Lebensräume mehr und mehr im Wandel begriffen. Bedingt durch ökologische, ökonomische und demographische Prozesse sind Bürger und Verwaltungen mit neuen Herausforderungen konfrontiert, diesen Wandel konstruktiv und „smart“ zu begleiten. Dabei können auch digitale Werkzeuge eine unterstützende Rolle spielen. Im Rahmen des SmartCity Living Lab am Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz werden in einem interdisziplinären Ansatz Technologien für die Stadt von morgen erforscht und in der Praxis erprobt. 47 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities Das SmartCity Living Lab Das SmartCity Living Lab (SCLL) ist ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) zur Entwicklung und Erprobung innovativer Informations- und Kommunikationstechnologien für städtische Lebensräume von morgen. In Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen wird am Standort Kaiserslautern erforscht, wie sich moderne Technologien in urbanen Räumen sinnvoll und systematisch einsetzen lassen, um in verschiedenen Bereichen zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung beizutragen. Das Living Lab bündelt Kompetenzen aus verschiedenen Forschungsbereichen und deren Erfahrungen aus diversen nationalen und internationalen Projekten im Kontext Smart City. Die Möglichkeiten moderner und innovativer Informationstechnologien im städtischen Umfeld werden dabei in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Wissenschaft, Politik und nicht zuletzt den Bürgern erprobt und erforscht. Ziel ist, durch die Partizipation möglichst vieler betroffener Interessensgruppen technische Lösungen für eine nachhaltige, ökologische und soziale Stadtentwicklung zu realisieren, unmittelbar zu erproben und anzuwenden. Leitbild Die Forschungsarbeiten im SCLL basieren auf drei Säulen: Messen und Verstehen, Interagieren und Nutzen, Partizipieren und Gestalten. Entwickelte technische Systeme können dabei sowohl ereignis- (kurzfristig) als auch entwicklungsorientiert (langfristig) arbeiten (siehe Bild 1). Messen und Verstehen Um Probleme und Verbesserungspotentiale in den Prozessen moderner Städte entdecken und verstehen zu können, ist eine systematische Erfassung und Analyse diverser Umwelt- und Mobilitätsdaten oft von entscheidender Bedeutung. So können Algorithmen genutzt werden, die in den gesammelten Daten Zusammenhänge erkennen und in vielen Anwendungsfällen auch entsprechende Handlungsempfehlungen generieren können. Insbesondere im Kontext der Entwicklungen rund um das „Internet der Dinge“ stehen mehr und mehr Daten aus Sensoren etwa in Fahrzeugen, in Kleidung oder in Smartphones zur Verfügung. Die Smart City erzeugt so riesige Datenmengen, die im SCLL mit Hilfe von Technologien aus den Bereichen Big Data und Smart Data Analytics verarbeitet und analysiert werden. Interagieren und Nutzen Technologie allein reicht nie aus - eine Smart City benötigt zuallererst smarte Bürger, die aktiv partizipieren. Wenn diese Bürger ihre gesammelten Erfahrungen aus der Interaktion mit neuen Technologien und ihr Wissen teilen, können Entwickler dieses Feedback nutzen, um Systeme entsprechend zu optimieren und dem gemeinsamen Ziel einer Smart City näherzukommen. Ein solches Feedback kann implizit über Nutzungsdaten zur Verfügung gestellt werden, aber auch explizit etwa in Form von Kommentaren oder Verbesserungsvorschlägen. Partizipieren und Gestalten Wenn eine moderne Stadt den Menschen und seine Lebensqualität in den Fokus ihrer Planungsprozesse stellt, dann müssen attraktive und niedrigschwellige Angebote zur aktiven Mitwirkung an diesen Prozessen angeboten werden. Dabei ist von großer Bedeutung, dass diese Angebote für alle betroffenen Interessensgruppen gleichermaßen genutzt werden können. Ausgewählte Projekte aus dem SCLL Das SCLL realisiert eine Vielzahl von Projekten im urbanen Kontext, von denen im Folgenden eine exemplarische Auswahl präsentiert wird. RADAR - Geodaten vernetzen und nutzbar machen Digitale Inhalte mit räumlicher Information liegen in vielfältiger Form vor. Von Informationen zu Sehenswürdigkeiten oder Veranstaltungen über Mitteilungen von Benutzern in sozialen Netzwerken bis hin zu komplexen Sensordaten über Wetter oder Verkehrsströme sind heute mehr digitale Daten mit Bild 1: Die drei Säulen des SCLL. ©-DFKI 48 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities Bild-2: Räumliche und zeitliche Aggregation und Visualisierung verschiedener Geoinhalte mit RADAR. © DFKI Ortsbezug verfügbar als jemals zuvor. Diese Informationen sind jedoch in der Regel über eine Vielzahl von heterogenen Systemen verteilt, uneinheitlich beschrieben und nicht intuitiv zugreifbar. Mehrwerte ortsbasierter und insbesondere mobiler Dienste erschließen sich aber oft erst dann, wenn es gelingt, Informationen aus verschiedensten Quellen zu kombinieren, vielfältige Interaktions- und Partizipationsmöglichkeiten für Anwender anzubieten und die Informationen in neuen Kontexten nutzbar zu machen. Ziel des RADAR-Projekts (www.radar-project.de) war es, eine solche technische Infrastruktur für räumliche Informationen zu realisieren. Das entstandene, offene Social-Media-System dient dem SCLL als Basis für zahlreiche Anwendungsszenarien und ermöglicht, das enorme kreative Potential von Bürgern zu nutzen. Das RADAR-Projekt Das Projekt RADAR wurde 2010 im Forschungsbereich Wissensmanagement des DFKI in Kaiserslautern initiiert und mit Mitteln der Stiftung Rheinland-Pfalz für Innovation gefördert. RADAR erlaubt die Aggregation potenziell aller Formen von Geodaten in einem webbasierten Social-Media-System. Ein einzelner Inhalt besteht hierbei mindestens aus einer Geokoordinate und er kann mit frei konfigurierbaren Metadaten sowie mit beliebigen multimedialen Inhalten wie Textdokumenten, Videos, Musik oder 3D-Modellen angereichert werden. Auf die im Rahmen des Projekts entwickelte Infrastruktur und die darin verwendeten Inhalte können Anwender über das RADAR-Webinterface mit jedem gängigen Webbrowser zugreifen und dabei Funktionalitäten wie das Erstellen persönlicher Portfolios oder das Taggen, Bewerten und Kommentieren von Inhalten nutzen. Zur Einbindung von Funktionalitäten und Informationen in andere Kontexte und Applikationen steht mit dem RADAR Web Service eine umfangreiche Web- Service-Schnittstelle (REST) zur Verfügung. Mit Hilfe von einfach zu erstellenden Adaptern können verschiedenste Quellen mit räumlichen Informationen in das System integriert werden. Zur Nutzung von Informationen aus RADAR in anderen Kontexten existieren ebenfalls zahlreiche Adapter, beispielsweise zur Nutzung von Geodaten in Augmented-Reality-Browsern wie Junaio, Layar und Wikitude. RADAR Anwendungsszenarien in der Praxis Um die Plattform zu nutzen, kann eine eigene RADAR-Instanz 49 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities Bild 3: „Talking Places“ bietet zusätzliche Informationen zu Objekten im Stadtraum. © DFKI aufgesetzt werden. Es besteht aber auch die Möglichkeit zur Nutzung existierender, öffentlich verfügbarer Installationen. RADAR erlaubt die Organisation von Inhalten und Benutzern in sogenannten Gruppen, die offen und geschlossen sein können. So können auch auf einer einzigen Instanz des Systems verschiedenste Anwendungsszenarien realisiert werden Das schließt sowohl die Anwendung in kontrollierten Umgebungen mit redaktionellen Kontrollmöglichkeiten als auch offene und kollaborative Szenarien mit einer Vielzahl von Partizipationsmöglichkeiten für alle Benutzer mit ein. Die Stadt Kaiserslautern nutzt RADAR seit mehreren Jahren als Plattform für ihren virtuellen Stadtführer. Besucher können so unterwegs beispielsweise Audioinformationen zu Sehenswürdigkeiten abrufen. Des Weiteren wurde RADAR schon mehrmals zur Unterstützung von Veranstaltungen wie der „Langen Nacht der Kultur“ oder der „Nacht, die Wissen schafft“ genutzt. Veranstalter können hier auch selbst Informationen zu ihren Veranstaltungen einspielen. Ein weiterer Anwendungsfall ist der Einsatz von RADAR als Plattform im Rahmen einer der „Bürgerschafft-Wissen“-Projektinitiative in Kaiserslautern. Hier können Bürger mit Hilfe des Systems Orte für Mobilitätsinfrastrukturen wie Car Sharing-Standorte, Ladestationen oder Fahrradparkplätze vorschlagen und bewerten (http: / / mobil-in-kl.de). Als offene und generische Social-Media-Plattform wurde RADAR zudem mehrfach in gemeinsamen Projekten mit dem Fachgebiet „Computergestützt Planungs- und Entwurfsmethoden (CPE) an der TU Kaiserslautern im Umfeld des Forschungsfelds „Urban Sensing“ eingesetzt. Hier werden Informationen mit Hilfe von tragbaren Sensoren oder mobilen Applikationen gesammelt und ausgewertet. Solche Versuche wurden unter anderem mit Unterstützung des DAAD in Kaiserslautern und in Alexandria durchgeführt. Augmented City - Intelligente Informations- und Kommunikationstechnologie für Tourismus und Freizeit Zukünftig können Bürger oder Besucher von Städten zusätzlich zu etablierten Medien wie Zeitungen, Reiseführern oder Smartphones auch über Datenbrillen mit integrierten Eyetrackern Informationen zu Plätzen, Gebäuden oder Veranstaltungen in einer Stadt erhalten. Mit den Entwicklungen aus dem SCLL können allein mit Blicken Informationen zu beliebigen Objekten abgerufen werden. Fixiert eine Person ein Objekt mit den Augen, werden passende Informationen per Ton oder Bild präsentiert. Die Vision dieses „Talking Places“ genannten Projekts ist ein auf Geodaten aufbauendes, allgegenwärtiges Assistenzsystem, das den Menschen selektiv und nebenläufig, je nach Interesse, mit orts- und kontextsensitiven Informationen versorgt. An die Stelle der expliziten Interaktion über ein konventionelles Eingabegerät, beispielsweise ein Touchscreen, rückt die Auswertung der Blickbewegungen und des Blickfokus des Benutzers. Das Projekt Talking Places wurde von der Initiative „Deutschland - Land der Ideen“ als „Ausgezeichneter Ort 2013/ 2014“ geehrt. Crowd Management Systeme - Unterstützung von Großveranstaltungen Wissenschaftler des DFKI arbeiten seit mehreren Jahren an Crowd Management-Systemen, die bereits bei verschiedenen Großveranstaltungen weltweit eingesetzt wurden. Besucherströme werden hierbei in Echtzeit analysiert, um Veranstaltern und Sicherheitskräften wichtige Informationen zur Notfallplanung zu liefern - die richtigen Informationen zur richtigen Zeit am richtigen Ort können darüber entscheiden, welche Ausmaße ein Unglück annehmen kann! Für die Olympischen Spiele 2016 entwickelt das SCLL zusammen mit Partnern eine Technologie, die den Datenaustausch innerhalb einer Menschenmenge auch bei Zusammenbruch der Infrastruktur ermöglicht: Ein Ad-hoc-Netzwerk sorgt dann dafür, dass Mobilfunkgeräte untereinander ein Netz aufbauen und Informationen austauschen können, selbst wenn das offizielle Netz nicht verfügbar ist. Als Grundlage werden mobile Technologien genutzt, 50 1· 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Smart Cities Bild 4: Visualisierung von Besucherströmen. © DFKI die heutzutage fast jedermann in Form eines Smartphones oder Tablets bei sich trägt. Bisher haben über 100 000 Menschen diese Forschungsarbeit mit ihren anonymisierten Smartphone-Daten bereitwillig unterstützt. 3D-Modelle zur Stadt- und Notfallplanung Eine effiziente Stadtplanung und im Besonderen das Notfall-Management basiert auf der Erfassung und Analyse von Daten über jeden Aspekt einer Stadt. Die Erhebung von 3D-Daten einer Stadt geschieht meist durch manuelle Vermessung der Gebäude und Straßen. Dieser Prozess ist langwierig und in der Regel fehleranfällig. Das DFKI hat ein System entwickelt, das maßstabsgerechte 3D-Szenen automatisch aus Bildern rekonstruiert und diese für ein effizientes Krisenmanagement und eine effektive Stadtplanung zur Verfügung stellt. Smarter Traffic - Mobilität im urbanen Raum Gerade im urbanen Umfeld nimmt das Verkehrsaufkommen weltweit rasant zu. Staus und zähfließender Verkehr sind auch außerhalb der Stoßzeiten in vielen Städten an der Tagesordnung. Das SCLL entwickelt in diesem Bereich verschiedene Verfahren zur Analyse und Simulation von Verkehrsströmen. Ziel ist, den aktuellen Verkehr zu analysieren, Verbesserungspotentiale aufzuzeigen und Strategien für eine effizientere Verkehrsplanung zu entwickeln. Zu diesem Zweck werden verschiedene Technologien angewendet, um Daten aus unterschiedlichen Quellen zu aggregieren und zu analysieren. Neben Straßennetzen werden dabei auch Echtzeitdaten zu Busfahrplänen, verfügbaren Parkplätzen oder aktuellen Staus untersucht. Videotracking-Systeme beobachten kontinuierlich den aktuellen Verkehrsfluss an neuralgischen Punkten, um Erkenntnisse für die Stadtplanung zu gewinnen. Die entwickelten Systeme nutzen öffentliche Verkehrsmittel mit Hilfe moderner Smartphones als Sensoren (beispielsweise Beschleunigungs- oder Kreiselsensoren), um Informationen über Straßenqualität und Verkehrsauslastung zu gewinnen. Smartphone-Apps - wie etwa eine Anwendung zum optimierten Parken in der Stadt - unterstützen die Bürger dabei, kostengünstig und umweltschonend von A nach B zu gelangen. Die Systeme und Technologien des Labors wurden bereits in zahlreichen Projekten erfolgreich getestet und eingesetzt, beispielsweise in der Münchener Allianz Arena oder im Stadtgebiet von Kaiserslautern. Bild 5: Kamerabasierte Echtzeiterfassung von Verkehrssituationen. © DFKI Dr. Martin Memmel Senior Consultant am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Forschungsgruppe Knowledge Management, Kaiserslautern Kontakt: memmel@dfki.de Prof. Dr. Prof. h.c. Andreas Dengel Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Kaiserslautern Kontakt: andreas.dengel@dfki.de Prof. Dr. Didier Stricker Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Kaiserslautern, Leiter der Forschungsgruppe Augmented Vision Kontakt: didier.stricker@dfki.de Prof. Dr. Paul Lukowicz Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Kaiserslautern, Leiter der Forschungsgruppe Embedded Intelligence Kontakt: paul.lukowicz@dfki.de AUTOREN
