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Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0029
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Zukunftsfähige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung

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Darla Nickel
Margarethe Langer
In Deutschland stehen die Infrastrukturen zur Wasserversorgung und Abwasserentsorgung vor erheb- lichen Herausforderungen. Die Folgen des Klimawandels, demografische Veränderungen und steigende Energiepreise erfordern eine innovative Anpassung der zum Teil veralteten Systeme und die Entwicklung von neuen und flexibleren Lösungen. Hier setzt die BMBF-Fördermaßnahme „Intelligente und multi- funktionelle Infrastruktursysteme für eine zukunftsfähige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung (INIS)“ an, um die Entwicklung von innovativen und umsetzbaren Lösungen für die Wasserwirtschaft in Deutschland voranzutreiben.
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28 2 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Wasser - Lebensmittel und Naturelement Wasserversorgung und Abwasserentsorgung unter Veränderungsdruck Die Wasserwirtschaft ist in einem hoch urbanisierten und industrialisierten Land wie Deutschland ein essenzieller Teil der Daseinsvorsorge. Die Infrastrukturen der Wasserwirtschaft sorgen im Spannungsfeld zwischen Umwelteinflüssen und Zukunftsfähige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung Botschaften an Praxis und Politik Wasserinfrastrukturen, Klimawandel, Transition Darla Nickel, Margarethe Langer In Deutschland stehen die Infrastrukturen zur Wasserversorgung und Abwasserentsorgung vor erheblichen Herausforderungen. Die Folgen des Klimawandels, demografische Veränderungen und steigende Energiepreise erfordern eine innovative Anpassung der zum Teil veralteten Systeme und die Entwicklung von neuen und flexibleren Lösungen. Hier setzt die BMBF-Fördermaßnahme „Intelligente und multifunktionelle Infrastruktursysteme für eine zukunftsfähige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung (INIS)“ an, um die Entwicklung von innovativen und umsetzbaren Lösungen für die Wasserwirtschaft in Deutschland voranzutreiben. anthropogenen Eingriffen für die sichere Versorgung mit Trinkwasser, für hygienische Verhältnisse in Siedlungen, für Überflutungsschutz und für den Schutz der Umwelt. Sie ermöglichen erst eine Vielzahl von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten und sind dadurch eine Säule unseres Wohlstands. © pixabay 29 2 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Wasser - Lebensmittel und Naturelement Forschung für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung von morgen Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Fördermaßnahme „Intelligente und multifunktionelle Infrastruktursysteme für eine zukunftsfähige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung“ (INIS) aufgelegt und mit einem Fördervolumen von rund 33 Mio. Euro ausgestattet. Verankert ist die Fördermaßnahme im Förderschwerpunkt „Nachhaltiges Wassermanagement“ (NaWaM), der Bestandteil des BMBF-Programms „Forschung für nachhaltige Entwicklung“ (FONA) ist. Seit 2013 haben Universitäten, Unternehmen und Kommunen innovative und umsetzbare Lösungen für aktuelle und zukünftige Probleme in 13 Forschungsprojekten erarbeitet. Bild 1 zeigt eine Übersicht über die Modellgebiete der einzelnen INIS-Projekte, unter denen sich sowohl Quartiere städtische Ballungsräume als auch Gemeinden in ländliche Gebiete befinden. Die deutsche Wasserversorgung und Abwasserentsorgung befinden sich europa- und weltweit im Vergleich aktuell auf einem hohen Stand. Die dazugehörigen Infrastrukturen stellen ein großes Anlagenvermögen dar, deren Erhalt und Erneuerung erheblicher Aufwendungen bedarf. Laut den Aussagen der großen Fachverbände der Wasserwirtschaft werden jährlich 6 bis 7 Milliarden Euro in Anlagen und Netze investiert. Mit Blick auf die aktuellen Netzerneuerungsraten wird vielfach argumentiert, dass der eigentliche Investitionsbedarf rund zweimal so hoch liegt. Parallelen zum Investitionsstau bei Straßen, Brücken und Schienennetzen liegen auf der Hand, sind allerdings nur selten sichtbar, denn die Infrastrukturen liegen größtenteils wortwörtlich im Sand vergraben. Zum hohen Investitionsbedarf hinzu kommt ein wachsender Veränderungsdruck auf die Infrastrukturen der Wasserver- und Abwasserentsorgung. Einige der zentralen Stichworte sind hier: Klimawandel, demografische Veränderungen, Spurenstoffe und Energiewende. Innerstädtische Überflutungen und gewässerschädliche Mischwasserüberläufe infolge von überlasteten Kanälen bei Starkregen sind heute bereits weitverbreitete und ernsthafte Probleme. Wasserarme Regionen hingegen kämpfen mit saisonalen Knappheitsproblemen und Qualitätsbeeinträchtigungen und suchen die Lösung etwa im Ausbau teurer Regional- und Fernversorgungssysteme. Andernorts führt eine sinkende Wassernachfrage, zum Beispiel aufgrund abnehmender Bevölkerungszahlen, zu Unterauslastungen von Netzen und Anlagen. Die zunehmende und flächendeckende Belastung von Gewässern mit anthropogenen Spurenstoffen wie Arzneimitteln, Industriechemikalien oder Pflanzenschutzmitteln stellt gesteigerte Anforderungen an die Behandlungsverfahren für Trinkwasser und Abwasser zugleich. Und nicht zuletzt ist die ressourcenintensive Wasserwirtschaft dazu aufgefordert, ihren Beitrag zum Gelingen der Energiewende zu leisten. Die Anpassung der Wasserver- und Abwasserentsorgungssysteme an diese sich überlagernden und zum Teil widerstreitenden Herausforderungen erfordern Innovationen und Umdenken auf allen Ebenen: von neuen technischen Lösungen und ihrer Integration in der Stadtentwicklung über Management- und Finanzierungsansätze bis hin zum regulativen Rahmen und Verbraucherverhalten. Nur so können die hohen Leistungen der Wasserwirtschaft bei weiterhin bezahlbaren Preisen in Zukunft gesichert werden. Bild 1: Übersicht über die Modellgebiete der einzelnen INIS- Verbundprojekte ©INISnet 30 2 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Wasser - Lebensmittel und Naturelement Botschaften an Praxis und Politik Technische Systeme: Anlagen und Betrieb optimieren Der Weg in die Zukunft führt über eine Optimierung des Bestands. Herkömmliche Planungsprozesse mit langen Zeithorizonten haben statische Lösungen und vielfach überdimensionierte Anlagen hervorgebracht. Die Systeme verursachen hohe Fixkosten für Unterhalt und Betrieb und weisen deshalb große Optimierungspotentiale auf. Die Herausforderung liegt darin, die Leistungsfähigkeit des Systems unter verschiedenen Belastungssituationen zu sichern. Robuste und flexible Lösungen ermöglichen eine zukunftsfähige Gestaltung des urbanen Wasserhaushalts. Vor dem Hintergrund zu erwartender Prognoseunsicherheiten werden robuste Systeme benötigt, die auch bei unerwarteten Extremereignissen nicht vollständig versagen und zugleich kosteneffizient sowie rückbau- und erweiterungsfähig konstruiert sind. Dezentrale Komponenten können die Anpassungsfähigkeit der Systeme erhöhen. Flexible Planungsprozesse und Betriebsweisen sind erforderlich, um kurz- und mittelfristig bzw. stufenweise auf unvorhersehbare Entwicklungen reagieren zu können. Ein Schlüssel für die Optimierung liegt im intelligenten Betrieb. Während in allen wesentlichen Infrastrukturbereichen die intelligente, IT-basierte Steuerung bereits Standard ist, sind die städtischen Wasserinfrastrukturen größtenteils immer noch auf dem Stand der Technik des 19. und 20. Jahrhunderts. Durch den Einsatz von Mess-, Steuer- und Datentechnik lassen sich Kontaminationen schneller erkennen und erhebliche Reserven in den bestehenden Entwässerungssystemen aktivieren. Sektorübergreifende Lösungen: Erschließung ungenutzter Potenziale Abwasser ist eine Ressource, kein Abfall. Technologien und Konzepte zur energetischen und stofflichen Wiederverwendung bzw. Nutzung von Abwasser sind erarbeitet und können umgesetzt werden. Mehr noch: Alternative dezentrale Wasseraufbereitungstechnologien können zu innovativen Lebensmittelanbaumethoden beitragen, bedürfen in dieser Hinsicht allerdings noch der Weiterentwicklung. „Energieeffizienz“ der Wasserinfrastrukturen muss begrifflich weiterentwickelt werden. Die Erweiterung der Wasserinfrastruktursysteme um Funktionen der Energieerzeugung als Beitrag zur Energiewende schlägt sich bislang nicht in der Bewertung der „Energieeffizienz“ solcher Anlagen nieder. Eine alleinige Quantifizierung über den Bedarf an Jahreskilowattstunden (kWh/ a) pro Leistungs- Bei der Abschlusskonferenz zur Fördermaßnahme INIS am 20./ 21. April 2016 in Berlin (Bilder 2 und 3) stellten die INIS-Projekte ihre vielfältigen Ergebnisse vor einer breiten Fachöffentlichkeit aus Wasserwirtschaft, Stadtentwicklung, Politik und Forschung vor und gaben Impulse für eine zukunftsfähige Gestaltung der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Eine umfassende Abschlusspublikation über die zentralen Inhalte und Ergebnisse der Projekte wird Ende 2016 bereitgestellt werden (www.bmbf. nawam-inis.de). Aus der Gesamtschau der INIS-Ergebnisse lassen sich vorab schon die folgende zehn Botschaften ableiten. Bild 2 und 3: Impressionen von der INIS-Abschlusskonferenz. © David Ausserhofer 31 2 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Wasser - Lebensmittel und Naturelement einheit (m 3 Trinkwasserversorgung bzw. gereinigtes Abwasser) erfasst den Beitrag der Wasserinfrastrukturen zur Energiewende nicht sachgerecht. Wasser in der Stadt: Integration von Stadt- und Infrastrukturentwicklung Wassersensitive Stadtentwicklung setzt integrierende Planungsprozesse voraus. Die Hauptaufgaben der Siedlungsentwässerung, der Schutz von Menschen und deren Eigentum einerseits und der Gewässerschutz andererseits, lassen sich allein durch konventionelle unterirdische Systeme nur begrenzt erfüllen. Optimale Lösungen, die z.B. auch einen positiven Beitrag zur Stadtklima- oder Freiraumqualität leisten können, lassen sich nur durch eine verbesserte räumliche Organisation der Stadt erzielen. Dazu müssen verstärkt multifunktionale Flächennutzungen für den Rückhalt, die Versickerung und die Verdunstung von Niederschlagswasser in den Stadtraum integriert werden. Entscheiden und Kommunizieren: zum Umgang mit Komplexität Eine Unsicherheitsbetrachtung muss zum Standardwerkzeug der Planer werden. Das Konzept der Unsicherheitsbetrachtung muss fest in den Köpfen von Planern, Betreibern und Entscheidungsträgern verankert werden. Die Auswirkungen der erheblichen Ungewissheiten zukünftiger Entwicklungen können über die fundierte Erstellung von Szenarien und deren Bewertung, z.B. durch Simulationsmodelle, aufgezeigt und so die Komplexität und Ungewissheit reduziert werden. Nur über eine interdisziplinäre und ressortübergreifende Bearbeitung können Wasserinfrastrukturen sicher und zukunftsfähig geplant werden. Multifunktionelle Infrastrukturen erfordern eine ganzheitliche Bewertung. Die angestrebte Multifunktionalität neuartiger Infrastrukturen, aber auch die vielfältigen Wechselwirkungen von Teilsystemen und -prozessen, erfordern zwingend eine integrierte Bewertung der Ziele und Wirkungen von Maßnahmen und Entscheidungen. Auch die indirekten Wirkungen von Infrastruktursystemen sind entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette zu berücksichtigen. Transformation: Akteure, Strategien und Institutionen Es liegt im Interesse der Kommunen, den Transformationsprozess zu koordinieren. Bei der Implementierung von multifunktionellen und differenzierten Systemlösungen für Wasser-, Energie- und Ressourcenmanagement auf Stadt-, Quartiers- und Dr.-Ing. Darla Nickel Wissenschaftliche Mitarbeiterin Deutsches Institut für Urbanistik (difu), Berlin Kontakt: nickel@difu.de Dipl.-Ing. Margarethe Langer Wissenschaftliche Mitarbeiterin DVGW-Forschungsstelle TUHH, Hamburg Kontakt: margarethe.langer@tuhh.de AUTORINNEN Gebäudeebene werden Leistungen und Anlagen teilweise dezentralisiert oder in den privaten Raum verlagert. Es bedarf neuer Kooperationsformen zwischen Ver- und Entsorgungsträgern und mit den Bürgern. Der Kommune obliegt die kommunale Daseinsvorsorge. Sie ist dem örtlichen Gemeinwohl verpflichtet und prädestiniert, diesen Transformationsprozess im Gemeinwohlinteresse zu koordinieren. In der operativen Umsetzung und im Betrieb können dabei vielfältige unternehmerische Strategieoptionen sinnvoll sein. Demonstrationsprojekte sind der notwendige nächste Schritt, um Umsetzungshemmnisse zu erkennen und abzubauen. Die Transformation bestehender Wasserinfrastrukturen auf Gebäudewie auch Quartiersebene ist technisch und organisatorisch möglich und wird zur Verbesserung der Zukunftsfähigkeit bestehender Systeme als sinnvoll und erforderlich erachtet. In Hinblick auf rechtliche Regulierungsrahmen und finanzielle Anreizsysteme sind derzeit viele Fragen offen. Diese wirken sich als Umsetzungshemmnisse aus. Vor diesem Hintergrund sollten Demonstrationsprojekte forciert werden. Fazit In der vom BMBF angestoßenen Forschung in der Fördermaßnahme INIS sind relevante Impulse für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wasserversorgung und Abwasserentsorgung entwickelt worden. Allerdings reicht der Erkenntnisgewinn allein nicht aus, um die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen. Der Abstand zwischen vorliegenden Erkenntnissen und tatsächlicher Umsetzung muss deutlich verringert werden. Gesellschaft, Medien und insbesondere die Politik sind gefordert, das Umsetzungsproblem beherzt anzugehen.