eJournals Transforming cities 1/2

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0036
513
2016
12

Die Verkehrswende kommt in Schwung, vielleicht auch in Deutschland

513
2016
Steffen de Rudder
Als in Kopenhagen der Umbau zur Fahrradstadt begann, fiel das zunächst gar nicht auf. Die dänische Hauptstadt war wie alle Städte vom Autoverkehr bestimmt. Einen landestypisch erhöhten Fahrradanteil hatte es immer gegeben, darum fielen eine paar neue Radwege nicht besonders ins Gewicht. Die dänische Fahrradrevolution der frühen Neunziger verlief ziemlich lautlos; fünfundzwanzig Jahre später ist der Ruf Kopenhagens als cycle capital of the world unüberhörbar geworden. Das liegt auch am professionellen Marketing, ist vor allem aber Ergebnis eines radikalen Richtungswechsels, ohne den solche Erfolge in der Stadtentwicklung nicht zu haben sind. Das Fahrrad wird dabei fast zur Nebensache, geht es doch um einen Wechsel städtebaulicher Leitbilder, wie er nur alle paar Jahrzehnte zu erleben ist.
tc120062
62 2 · 2016 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Mobilität Der Umbau städtischer Mobilität bedeutet einen tiefgreifenden Umbau der gesamten Stadt. Nicht nur die Verkehrswege sind betroffen, sondern auch die Struktur der Stadt, die Standort- und Wohnungspolitik, die Beziehung von Stadt und Vororten, der Umbau und Neubau von Brücken, Plätzen, Bahnhöfen, Parkhäusern und U-Bahnstationen. Es handelt sich um einen Stadtumbau, der den Namen verdient hat, und um Investitionen in die Infrastruktur, die nicht alle Tage beschlossen werden. Die autogerechte Stadt war lange Zeit ein perfekt funktionierendes System, leistungsfähig, verbunden mit einer kaum zu überbietenden Bequemlichkeit - und dabei sehr, sehr einfach. Zu den Subsystemen, die sich nach und nach ausgebildet haben, gehört der Bereich von Konsum und Einzelhandel. Das Auto kommt hier in seiner charak- Die Verkehrswende kommt in Schwung, vielleicht auch in Deutschland Mobilität und Stadtumbau im europäischen Vergleich Steffen de Rudder Als in Kopenhagen der Umbau zur Fahrradstadt begann, fiel das zunächst gar nicht auf. Die dänische Hauptstadt war wie alle Städte vom Autoverkehr bestimmt. Einen landestypisch erhöhten Fahrradanteil hatte es immer gegeben, darum fielen eine paar neue Radwege nicht besonders ins Gewicht. Die dänische Fahrradrevolution der frühen Neunziger verlief ziemlich lautlos; fünfundzwanzig Jahre später ist der Ruf Kopenhagens als cycle capital of the world unüberhörbar geworden. Das liegt auch am professionellen Marketing, ist vor allem aber Ergebnis eines radikalen Richtungswechsels, ohne den solche Erfolge in der Stadtentwicklung nicht zu haben sind. Das Fahrrad wird dabei fast zur Nebensache, geht es doch um einen Wechsel städtebaulicher Leitbilder, wie er nur alle paar Jahrzehnte zu erleben ist. teristischen Multifunktionalität als großer Einkaufswagen zum Einsatz, mit geräumigem Kofferraum und niedriger Ladekante. Die zugehörige Infrastruktur besteht aus den ausgedehnten Parkplätzen der Einkaufszentren, der privaten Stellfläche vor der Haustür und einem leistungsfähigen Straßennetz, das beide Orte miteinander verbindet. Zum System gehören außerdem passende Packungsgrößen, Kühltru- 63 2 · 2016 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Mobilität hen, die soziale Praxis des großen Wochenendeinkaufs und ein komplementäres Baurecht und Verordnungswesen. Diese Subsysteme sind bewährt und kaum noch zu verbessern, sie gehören zum Alltag, aus dem sie eigentlich nicht wegzudenken sind. Den Städten, die den Umbau wagen wollen, steht eine Herkulesaufgabe bevor. Geht es doch um die Abkehr von der autogerechten Stadt - einem Leitbild, dessen Wurzeln bis in die Zehnerjahre des letzten Jahrhunderts reichen und das ab den Sechzigerjahren zur vollen Blüte gelangte. Dabei geht es, besonders in Deutschland, der Heimat von Mercedes, Volkswagen und Porsche, um mehr als nur Stadtplanung, nämlich um eine reiche und lebendige Kultur des Autos, des Autofahrens und der Autoproduktion. Damit verbinden sich Lebensstile, Gewohnheiten und Mobilitätsmuster, die sich nur langsam ändern. Tatsächlich aber wünschen sich laut einer aktuellen Studie des Bundesumweltministeriums über 80 Prozent der Befragten, dass die Städte „sich vom Autoverkehr abwenden und kurzen Fußwegen, Fahrrad- und öffentlichem Nahverkehr zuwenden“ sollten. In der Planungsrealität der deutschen Städte ist dies, von einigen Ausnahmen abgesehen, bisher kaum angekommen. So ergibt sich eine riesige Kluft zwischen der Situation in Deutschland und dem inzwischen weit fortgeschrittenen Stadtumbau in Ländern wie Holland oder Dänemark. Schon wegen ihrer Größe sind diese Länder nicht mit der Bundesrepublik zu vergleichen, und es ist klar, dass auf ein hochindustrialisiertes Land mit hohem Güter- und Personenverkehr die bestehenden Modelle nicht einfach zu übertragen sind. Um sich des eigenen Stands zu vergewissern und um zu sehen, was woanders möglich ist, lohnt der Vergleich aber doch, auch wenn er schlecht ausfällt: Deutschland liegt zwanzig Jahre oder mehr zurück. Eine Bestandsaufnahme im Jahr 2016 zeigt, dass immer mehr Städte mit neuen Mobilitätskonzepten experimentieren. Dabei sind besonders die hoffnungslosen Fälle interessant, wie zum Beispiel Sevilla, eine Stadt, in der Fahrradfahren praktisch unbekannt war und deren Fahrradanteil mit 0,5 Prozent eigentlich unter der Nachweisgrenze lag. Es brauchte eine neue Koalition im Rathaus, einen neuen Stadtplaner und ein vergleichsweise bescheidenes, aber in einem Zug realisiertes Radnetz von siebzig Kilometern Länge um diese Zahl in wenigen Jahren um das Elffache zu steigern. Damit liegt Sevilla zwar immer noch bei nur sechs Prozent, zeigt aber, dass auch ohne bereits bestehende Radfahrkultur der Umbau gelingen oder zumindest begonnen werden kann. Der britische „Guardian“ nannte Sevilla „an unlikely poster city for sustainable transport”. Paris ist ein ähnlicher Fall: eine Stadt, die für alles steht, was urbane Kultur ausmacht, aber bestimmt nicht fürs Radfahren. Bertrand Delanoë, der sozialistische Bürgermeister, brachte dieses Bild mit einem Schlag ins Wanken, als er am 15. Juli 2007 mit dem öffentlichen Radverleihsystem Vélib‘ sein persönliches grand projet startete. Von heute auf morgen stand den Parisern eine Flotte von 7500 Fahrrädern zu Verfügung, verbunden mit einem Netz von 750 voll ausgebauten Verleihstationen und einem zu dieser Zeit völlig neuen elektronischen Buchungssystem. Die Leihräder waren ein unmittelbarer Erfolg und sie haben das Straßenbild nachhaltig verändert. Plötzlich gibt es Fahrräder auf der Straße, plötzlich ist Radfahren in Paris denkbar. Bis Januar 2013 in China Hangzhou Public Bicycle mit 66 000 Fahrrädern startete, war Paris die Stadt mit dem größten Radverleihsystem der Welt. © pixabay 64 2 · 2016 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Mobilität Es ist heute auf über 20 000 Räder angewachsen und wird um den sehr ehrgeizigen Plan Vélo ergänzt, in dessen Rahmen in fünf Jahren ein Radnetz von 1400 Kilometer Länge entstehen soll. Vélib‘ ist ein Radverleih und ein Zeichen, es hat eine zweite Phase ausgelöst - Plan Vélo - und es zieht Kreise, bis nach China und bis nach London. London hat Paris kopiert und ebenfalls Kopenhagen. Aus Paris kommt das Radverleihsystem, das hier nach dem Werbepartner Santander-Cycles heißt, in London aber unter der Bezeichnung Boris Bikes besser bekannt ist, weil es vom konservativen Bürgermeister Boris Johnson ausgebaut und beworben wurde. Es besteht seit 2010 und hat nach fünf Jahren fast das Niveau erreicht, mit dem Vélib‘ begonnen hatte. Aus Kopenhagen kommt die Idee der cycle super highways, die in der britischen Ausführung zunächst weder super noch highway waren, weil sie aus nichts weiter als farbigen Streifen auf der Fahrbahn bestanden, die an beliebigen Stellen in der Stadt einfach abbrachen. Das dänische Original ist gut ausgebaut, verläuft auf einer separaten Trasse, die über eigens gebaute Brücken führt und schnelle Verbindungen von der Innenstadt in die Vorstädte ermöglichen soll. Die ersten cycle super highways in London waren nicht ernst zu nehmen, die im letzten Jahr begonnene Nord-Süd-Route und die in diesem Jahr begonnene, achtzehn Meilen lange Ost-West-Route jedoch versprechen dem Fahrradverkehr wirklich Raum zugeben. Es handelt sich um aufwendig geplante Projekte, die mit seriösen Tiefbauarbeiten verbunden sind und die sich im Bild der Londoner City deutlich bemerkbar machen werden. Leicht in Vergessenheit gerät, dass London nicht nur kopiert, sondern durchaus zu den Pionieren des Verkehrsumbaus gehört. Mit der Einführung der Congestion Charge im Jahr 2003 durch den Bürgermeister Ken Livingstone war London die bis dahin erste Großstadt, die für die Innenstadt eine Straßengebühr erhob. Der Betreiber, Transport for London, ansonsten zuständig für Busse, Bahnen und Boote, verwendet nach eigenen Angaben die Einnahmen zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Über eine solche Konstruktion verfügen nicht einmal die Musterschüler Amsterdam und Kopenhagen. In den Niederlanden allerdings wird deutlich, wie weit der Musterschüler sich schon vom europäischen Durchschnitt entfernt hat. In Städten wie Groningen beträgt der Fahrradanteil mittlerweile über 60 Prozent, es gibt in dem kleinen Land etwa 35 000 Kilometer Radwege - zum Vergleich: die Gesamtlänge des deutschen Autobahnnetzes beträgt rund 11 000 Kilometer. Das erste große Fahrradparkhaus, ein damals gefeierter Bau am Amsterdamer Hauptbahnhof aus dem Jahr 2001 für 2500 Fahrräder, ist nach holländischen Maßstäben längst überholt. Zur Zeit wird das „größte Fahrradparkhaus der Welt“ am neuen Hauptbahnhof von Utrecht gebaut, das in diesem Jahr eröffnet werden soll und Platz für 12 500 Fahrräder umfassen wird. Die Niederlande sind - wie auch Dänemark - in eine zweite Phase der Entwicklung getreten: In der Pionierzeit des Verkehrsumbaus ging es darum, dass etwas geschieht; nach zwanzig Jahren geht es darum, wie etwas geschieht. Die gebrauchsgerechte wie die formale Gestaltung spielen eine immer größere Rolle. Aus dem rohen Funktionalismus der ersten Tage hat sich so eine eigene Kultur der Planung und Realisierung entwickelt, auf die Phase der Erfindungen folgt die Phase ihrer Ästhetisierung. Neue Aufgaben für Planer, Ingenieure und Architekten führen zu neuen Qualifikationen und Spezialisierungen, neue Funktionen bringen neue Ausdrucksformen in Architektur und Städtebau hervor. Hier bildet sich ein neues kulturelles System, das sich der Komplexität und Ausgereiftheit des alten Systems, dem der autogerechten Stadt, langsam annähert. Wie sich in Deutschland die Verkehrswende vollziehen könnte, ist noch völlig unklar. In Berlin versucht gerade eine Initative, den Senat per Bürgerbegehren zum Ausbau von Radwegen zu zwingen. Und schon jetzt wird als künftiges Vorzeigeprojekt des Verkehrsumbaus der sogenannte Radschnellweg Ruhr gepriesen, der einmal von Duisburg bis Hamm das gesamte Ruhrgebiet durchqueren soll; die ersten fünf Kilometer sind bereits fertig. Dr. Steffen de Rudder Vertr.-Prof. Entwerfen und Städtebau Kontakt: steffen.de-rudder@uni-weimar.de AUTOR © pixabay