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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0051
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EU-Biozid-Verordnung: Bürokratiemonster und Millionengrab

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Manfred Brugger
Seit 1. September 2013 gilt im Vertragsgebiet der Europäischen Union die neue Verordnung Nr. 528/2012. Diese Verordnung regelt die Bereitstellung von Biozidprodukten auf dem Markt sowie deren Verwendung. Im Gegensatz zur bis dahin gültigen Richtlinie 98/8/EG wurde nun aber auch die Vor-Ort-Erzeugung von Bioziden in sogenannten In-situ-Verfahren mit in die Verordnung einbezogen. In-situ-Verfahren kommen insbesondere im Bereich der Wasseraufbereitung zum Einsatz. Durch diesen Schachzug der EU wurden die bis dato problemlosen und über viele Jahrzehnte erprobten Verfahren wie z. B. die Ozonung oder die Desinfektion mittels elektrolytischer Chlorerzeugung quasi über Nacht genehmigungspflichtig. Auch bestehende Anlagen fallen unter diese Verordnung, die Betreiber unterliegen deshalb einem entsprechenden Handlungszwang.
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6 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Ozon ist seit vielen Jahrzehnten in aller Munde. Während die vor der gefährlichen UV-Strahlung schützende Wirkung der Ozonschicht in der Stratosphäre durch das Ozonloch über der Antarktis positiv besetzt ist (das im Jahr 2015 nach Medienberichten übrigens die zweitgrößte Ausdehnung seit Bekanntwerden hatte und so groß wie Afrika war, aber bemerkenswerterweise niemanden mehr interessierte), wird Ozon in der bodennahen Luftschicht aufgrund seiner reizenden Wirkungen als gefährlicher Luftschadstoff eingestuft. So zählt der Ozonalarm seit Jahren - insbesondere in Smogsituationen - zu den täglichen Nachrichten. Sowohl in der Stratosphäre als auch in Bodennähe sind es im Wesentlichen natürliche Vorgänge, die zur Bildung von Ozon führen. Ozon ist ein aus drei Sauerstoffatomen bestehendes, unbeständiges Gas. Es wurde vom deutschschweizerischen Chemiker Christian Friedrich Schönbein (1799-1868) im Jahre 1839 entdeckt. Atmosphärischer Sauerstoff besteht aus zwei Sauerstoffatomen, die zu einem Molekül zusammengeschlossen sind. Wird ein Sauerstoffmolekül, z. B. durch elektrische Spannungen aufgebrochen, entstehen zwei äußerst reaktionsfähige Sauerstoffatome. Wenn diese Sauerstoffatome nicht mit einem anderen Stoff reagieren können, dann bilden sie zusammen mit zwei weiteren Sauerstoffmolekülen dreiatomigen Sauerstoff bzw. die sogenannten Ozonmoleküle. Beim Zerfall des unbeständigen Ozonmoleküls entstehen wiederum nur das Sauerstoffmolekül sowie das äußerst reaktive Sauerstoffatom. Aufgrund dieser Bereitstellung von atomarem Sauerstoff gilt Ozon als eines der stärksten Oxidationsmittel aber auch als ein hervorragendes Desinfektionsmittel. Diese Eigenschaften machten Ozon bereits vor mehr als 150 Jahren zum Mittel der Wahl bei der Trinkwasserdesinfektion, insbesondere nach der Erfindung der Ozonröhre im Jahre 1857 durch Werner von Siemens, denn aufgrund der Unbeständigkeit des Ozons muss dieses stets an der Einsatzstelle generiert werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten In-situ-Verfahren. Größter Vorteil der Insitu-Verfahren ist, dass hierbei keine gefährlichen chemischen Substanzen transportiert werden müssen. Zur technischen Herstellung von Ozon in sogenannten Ozonerzeugungsanlagen ist ausschließlich Sauerstoff und elektrische Energie erforderlich. Im Wasserwerk wird das erzeugte Ozon dann auf kürzestem Wege mit dem aufzubereitenden Wasser intensiv vermischt. Ozonreaktionen mit Wasserinhaltsstoffen verlaufen im Sekunden- und Minutenbereich. Nach Abschluss der Aufbereitungsphase ist kein Ozon mehr im Wasser vorhanden. Ozon- Wasseraufbereitungsanlagen gehören deshalb zu den leistungsfähigsten, umweltfreundlichsten und sichersten Wasseraufbereitungssystemen, sowohl bei der Trinkwasseraufbereitung als auch bei der Schwimmbadwasseraufbereitung. Der Regelungswahn der Europäischen Kommission hat nun aber auch diesen Bereich erfasst und mit der sogenannten Biozid-Verordnung ohne Not für massive Probleme in der ganzen Wasserbranche gesorgt, denn auch Ozon fällt nach der Definition neuerdings mit unter diese Verordnung. Damit aber noch nicht genug: Es kommt auch noch darauf an, ob das Einsatzgas technischer Sauerstoff oder Luftsauerstoff ist. Normaler technischer Sauerstoff darf auch nicht verwendet werden, er muss entsprechend deklariert werden mit Hinweis „Sauerstoff zur Erzeugung von Ozon“ und die Inverkehrbringung darf nur durch in der sogenannten Artikel 95-Liste geführte Firmen erfolgen. EU-Biozid-Verordnung: Bürokratiemonster und Millionengrab Manfred Brugger Seit 1. September 2013 gilt im Vertragsgebiet der Europäischen Union die neue Verordnung Nr. 528/ 2012. Diese Verordnung regelt die Bereitstellung von Biozidprodukten auf dem Markt sowie deren Verwendung. Im Gegensatz zur bis dahin gültigen Richtlinie 98/ 8/ EG wurde nun aber auch die Vor-Ort-Erzeugung von Bioziden in sogenannten In-situ-Verfahren mit in die Verordnung einbezogen. In-situ-Verfahren kommen insbesondere im Bereich der Wasseraufbereitung zum Einsatz. Durch diesen Schachzug der EU wurden die bis dato problemlosen und über viele Jahrzehnte erprobten Verfahren wie z. B. die Ozonung oder die Desinfektion mittels elektrolytischer Chlorerzeugung quasi über Nacht genehmigungspflichtig. Auch bestehende Anlagen fallen unter diese Verordnung, die Betreiber unterliegen deshalb einem entsprechenden Handlungszwang. 7 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Biozid-Verordnung Dem inneren Drang folgend, alles für Mensch, Tier und Umwelt besser zu machen, wurde im Jahre 2012 von der Europäischen Union die Verordnung Nr. 528/ 2012 (kurz Biozid-VO) kreiert, welche seit September 2013 in Kraft ist. Nach dieser Verordnung dürfen Biozide ab April 2016 nur noch erzeugt, in Verkehr gebracht und angewendet werden, wenn sie zuvor in einem äußerst aufwändigen, teuren und komplizierten Wirkstoffgenehmigungsverfahren registriert und als Biozidprodukt von der EU- Kommission genehmigt worden sind. Als Grundlage für die Genehmigung muss für jedes einzelne Biozid ein umfangreiches und mehrere Millionen Euro teures Dossier bei der zuständigen Behörde eingereicht werden. Entgegen der vorangehenden, seit 1997 gültigen Biozid-Richtlinie, fallen unter die Verordnung nun nicht nur alle handelbaren Biozide, Rotendizide wie z. B. Rattengifte, usw., sondern nun auch alle in situ hergestellten Biozide zur Wasserdesinfektion wie z. B. Ozon, Chlor und Brom. Die EU folgt damit dem Trend, dass ein Produkt erst in den Verkehr gebracht werden darf, wenn dessen vollumfängliche Unschädlichkeit nachgewiesen wurde, mit der Konsequenz, dass dies für die Großindustrie vielleicht noch möglich ist, für den kreativen Mittelstand aber den sicheren Tod bedeutet, denn die Entwicklung neuer Mittel ist damit ebenso nicht mehr finanzierbar wie die Herstellung kleinerer Mengen an Mitteln und Stoffen mit biozider Wirkung. Während ein Hersteller und Inverkehrbringer eines in großen Mengen handelbaren Biozides die entstehenden Genehmigungskosten auf den Verkaufspreis umlegen kann, ist dies im Falle der in situ erzeugten Biozide so nicht möglich und auch gesetzlich nicht geregelt. Unstrittig ist die Feststellung, dass eigentlich nicht der Anlagenhersteller, sondern der Betreiber der In-situ-Anlage, der Hersteller und Verwender des Biozides ist und damit eigentlich derjenige, der das Biozidprodukt anmelden und genehmigen lassen müsste bzw. sich über einen sogenannten „Letter of Access“ (LoA) in ein bestehendes Dossier einkaufen müsste, um seine In-situ-Anlage weiterbetreiben zu dürfen. Nachdem aber von der Anwenderseite aus keine entsprechenden Anträge gestellt werden, haben die Anlagenhersteller begonnen, die entsprechenden Schritte einzuleiten - ohne zu wissen, wie die horrenden Kosten wieder gegenfinanziert werden können. Im Falle von Ozon beispielsweise kursieren derzeit Kosten in der Größenordnung um 400 000 bis 500 000 Euro, die jeder Ozonanlagenhersteller sofort für einen LoA zahlen muss, wenn er auf dem Gebiet der EU weiterhin am Markt partizipieren will. Dazu kommt, dass die Zulassung auf 10 Jahre befristet ist und niemand weiß, was danach kommt. Noch schwieriger wird die Situation bei den sogenannten Kombinationsverfahren, bei denen in situ gleich zwei oder mehrere biozide Wirkstoffe parallel im Prozess erzeugt werden. Laut Gesetzeslage ist hier für jeden einzelnen Wirkstoff das entsprechende Zulassungsverfahren zu durchlaufen, was kaum mehr finanzierbar ist. Für das von der Ravensburger Firma Hydro-Elektrik GmbH zur Anwendungsreife entwickelte, äußerst beliebte Ozon-Brom-Verfahren kommen so zum einen das Ozon als auch die durch Oxidation parallel entstehende Hypobromige Säure als Biozid in Frage. Hypobromige Säure kann über verschiedene In-situ- Prozesse erzeugt werden, die Wirkung ist immer die Gleiche. Nichtsdestotrotz muss für jede einzelne Methode der Erzeugung ein separates Wirkstoffgenehmigungsverfahren durchlaufen werden. Für jede einzelne Wirkstoffanmeldung müssen umgehend 10 000 Euro Gebühren bezahlt werden, ansonsten wird die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) mit Sitz in Finnland nicht tätig. Damit verbunden ist aber kein Anspruch auf irgendeinen positiven Entscheid. Zu den Gebühren kommen noch erhebliche Kosten für die Unterlagenerstellung sowie die erforderlichen Consulter, ohne deren Mithilfe kaum eine erfolgreiche Beantragung möglich ist. Kochsalz - ein Biozidprodukt Paradox wird das Ganze am Beispiel der Elektrolyse. Die Elektrolyse ist ein chemischer Trennvorgang, bei dem aus wässrigen Salzlösungen (z. B. einer Kochsalzlösung) das Chlor vom Natrium getrennt werden kann. Wässrige Salzlösungen sind Mischungen aus Wasser mit gelöstem Salz. Mittels Elektrolyse kann so auf relativ kleinem Raum (in einer Elektrolysezelle mit Strom) beispielsweise eine große Menge an desinfizierendem Chlor erzeugt werden. Natriumchlorid ist nichts anderes als Kochsalz. Das für die Biozidherstellung verwendete Salz muss nun nach der neuen Gesetzeslage entsprechend deklariert werden und gilt als Biozidprodukt, wenngleich es keinerlei biozide Wirkung hat. Die Verwendung von identischem Salz ist nicht mehr gestattet und es darf nur noch Salz von gelisteten (Artikel 95-Liste) und im Wirkstoffprüfverfahren genannten Herstellern verwendet werden. Freier Markt? Mit der Biozid-VO hat die EU extrem strikte Vorgaben gemacht, die nur noch von einem kleinen Teil der Firmen erfüllt werden können. Mit den Bestim- 8 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt mungen des EU-Vertrages zur Stärkung eines freien Handels ist das unvereinbar. Es steht sogar im Widerspruch zum Absatz 3 in der Präambel zur Verordnung, die als Zweck die Verbesserung des freien Handels deklariert. Am Markt teilnehmen können nur noch Firmen, die sich vorher mit erheblichen Summen einkaufen oder gleich als Monopolist auftauchen. Importe sind so gut wie ausgeschlossen. Von den derzeit 28 Staaten ist momentan nur ein Bruchteil in den Prozess der Wirkstoffgenehmigung involviert. Viele haben überhaupt noch nicht realisiert, was die VO für sie bedeutet. Gewinner der VO sind alleinig einige wenige Chemie-Großunternehmen, die in Zukunft den Markt untereinander aufteilen oder bedienen werden. Und dies mit parlamentarischer Zustimmung des EU-Parlamentes. Die betroffene Branche - insbesondere in Deutschland - ist sehr stark mittelstandsorientiert und kann ohne unterstützenden Lobbyismus nur unter die Räder kommen. Aus diesem Grunde wurde die Branche im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens auch nicht ausreichend gehört und deren Belange nicht berücksichtigt. Aufgrund der Vielzahl an hervorragend funktionierenden Verfahren und Systemen hat letztlich auch niemand mit solch einer existenzbedrohenden Verordnung rechnen können. Fazit Als Fazit bleibt festzuhalten, dass nach Auslaufen der Übergangsfristen viele gut wirkende Biozide und viele ausgeklügelte und hervorragende Verfahrenstechniken vom europäischen Markt für immer verschwunden sein werden. Die freiwerdenden Bereiche werden von der Chlorindustrie übernommen. Viele werden sich freuen, wenn sich dadurch die Anzahl der chemischen Biozide im Markt verringert hat. Die Freude wird aber nur so lange anhalten, bis erkannt wird, dass sich die eingesetzten Mengen an Chlorverbindungen drastisch erhöht haben, denn die Desinfektionsanforderungen werden eher mehr, als weniger. Dazu kommt, dass bereits heute absehbar ist, dass sich durch Resistenzbildungen neue Gefahren im Bereich der Wasserhygiene z. B. bei der Trinkwasserbereitstellung oder der Schwimmbadwasseraufbereitung auftun. Dies wird aber komplett übersehen oder auch absichtlich ignoriert. Der mögliche Grund hierfür: Die ECHA als Behörde verschlang im Jahre 2015 mit knapp 500 Mitarbeitern rund 115 Millionen Euro (siehe Anlage). Nachdem die Aufgaben, die 2006 maßgeblich für die Gründung der Agentur waren, nämlich REACH, gegen Ende gehen, mussten neue Einnahmefelder geschaffen werden, die den Fortbestand der Behörde finanziell sicherten. Mit der Biozid-Verordnung konnte das für die nächsten Jahre sichergestellt werden. Dies erklärt wohl auch die limitierte Laufzeit der in Aussicht gestellten Wirkstoffgenehmigungen auf 10 Jahre. Die wichtigste Frage ist und bleibt nach dem Nutzen. Die Antwort ist relativ einfach und schnell gegeben. In einem Kontinent, der im Vergleich bereits vorbildlich aufgestellt ist, und in dem Firmen und Verbraucher bereits automatisch so sensibilisiert sind, dass umweltschädliche Produkte nicht auf den Markt gelangen oder keine Chance haben und das Haftungsrisiko enorm hoch ist, wurde mit der Biozid-VO ein nutzloses Millionengrab errichtet, das wichtiges Geld vernichtet, der weiteren Forschung den Todesstoß versetzt und ausschließlich die Bürokratie fördert. Eine Zukunft für unsere Kinder mit Gestaltungsspielräumen gibt es nicht mehr, Neuentwicklungen im Bereich der Biozide sind nicht mehr finanzierbar. Zukunftsperspektiven sollten anders aussehen. Es ist deshalb auch wenig verwunderlich, dass in den betroffenen Unternehmen eine hohe Frustration eingekehrt ist und sich kaum mehr jemand positiv zu Europa bzw. der europäischen Union äußert. Für den Verfasser als vormals bekennenden Europäer eine schmerzliche Erfahrung, zumal alles darauf hindeutet, dass es kein Zurück mehr gibt. Quo vadis Europa? Europäische Chemikalienagentur ECHA Englische Bezeichnung European Chemicals Agency Französische Bezeichnung Agence européenne des produits chimiques Finnische Bezeichnung Euroopan kemikaalivirasto Organisationsart Agentur der Europäischen Union Status Einrichtung des europäischen öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit Sitz der Organe Helsinki, Finnland Vorsitz Geert Dancet (Exekutivdirektor) Gründung 18. Dezember 2006 Über ECHA https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Europäische_ Chemikalienagentur AUTOR Manfred Brugger Hydro-Elektrik GmbH Kontakt: mb@hydrogroup.de