Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0056
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Essbare Landschaften gestalten
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Andie Arndt
Mundraub.org ist eine Plattform für alle, die heimisches Obst im öffentlichen Raum entdecken und die essbare Landschaft gemeinsam gestalten wollen. Die digitale Landkarte „Mundraub-Map“ zeigt Standorte von vergessenem Obst in Parks, an Straßen, auf Brachen oder Feldwegen. Mehrere zehntausend Menschen engagieren sich sowohl online, als auch im realen Leben, um Fundorte miteinander zu teilen, gemeinsame Pflanz- und Ernteaktionen durchzuführen oder in regionalen Gruppen auszutauschen. Die Mundraub-Community bildet mit ihren Einträgen auf der Mundraub-Map das Herzstück der Organisation und macht sie zur größten interaktiven Plattform für Obstthemen im deutschsprachigen Raum.
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24 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Aktion Mundraub im städtischen Grün Wann haben Sie das letzte Mal Früchte selbst vom Baum gepflückt? Auch wer keinen eigenen Garten hat, kommt durch Mundraub in den Genuss frischen Obstes direkt vor der Haustüre, egal ob im ländlichen Raum oder in der Stadt. Mit den Einträgen auf der Mundraub-Map werden die essbaren Schätze im öffentlichen Grün wieder sichtbar. Ob Esskastanien auf dem Alexanderplatz in Berlin, Rosmarinsträucher an den Kölner Rheintreppen oder Knupperkirschen hinter dem Loki-Schmidt-Garten in Hamburg - auch Großstädte sind gesegnet mit öffentlichem Obst, das durch die Plattform wieder ins Bewusstsein der Menschen gerückt wird. Inzwischen bietet Mundraub mehr als die Ernte dessen, was man nicht selbst gesät hat. Mundraub ermöglicht der Gesellschaft, essbare Städte und Landschaften nicht nur sichtbar zu machen und zu beernten, sondern vergessene Kulturlandschaften aktiv mitzugestalten und so essbare Landschaften zu formen. Hochstämmige Obstbäume an Alleen und auf kommunalen Flächen sind Teil des Generationenvertrages und brauchen Wertschätzung seitens der Bevölkerung, wenn sie unsere Kulturlandschaft weiter schmücken sollen. Mundraub erarbeitet deshalb gemeinsam mit Kommunen nachhaltige Modelle zur Pflanzung und Pflege öffentlicher Obstbaumbestände. Aus der Idee heraus, ungenutztes Obst von Freiflächen im öffentlichen Raum wieder ins Bewusstsein zu rücken und in Wert zu setzen, hat sich die Plattform über die reine Ernte hinaus in Richtung nachhaltigen Engagements weiterentwickelt. Sie bietet Baumschnittkurse auf Streuobstwiesen von ausgleichspflichtigen Partnerunternehmen, Fahrradtouren zu öffentlichen Standorten mit anschließender gemeinsamer Verkostung des Geernteten und verstärkt auch Obstbaumpflanzungen im öffentlichen Raum an. Essbare Landschaften gestalten Die Plattform Mundraub Andie Arndt Mundraub.org ist eine Plattform für alle, die heimisches Obst im öffentlichen Raum entdecken und die essbare Landschaft gemeinsam gestalten wollen. Die digitale Landkarte „Mundraub-Map“ zeigt Standorte von vergessenem Obst in Parks, an Straßen, auf Brachen oder Feldwegen. Mehrere zehntausend Menschen engagieren sich sowohl online, als auch im realen Leben, um Fundorte miteinander zu teilen, gemeinsame Pflanz- und Ernteaktionen durchzuführen oder in regionalen Gruppen auszutauschen. Die Mundraub-Community bildet mit ihren Einträgen auf der Mundraub-Map das Herzstück der Organisation und macht sie zur größten interaktiven Plattform für Obstthemen im deutschsprachigen Raum. Bild 1: In vielen Städten wächst Obst auf öffentlichen Flächen. © pixabay 25 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Mittlerweile beteiligen sich immer mehr Städte und Kommunen und zeigen ihr Engagement vor Ort, indem Sie öffentliche Standorte ihrer Obstbäume und -sträucher auf der Plattform teilen. Vorreiter sind hier beispielsweise die Städte Hamburg, Osnabrück oder Göttingen, die ihre öffentlichen Baumkatasterdaten der Plattform und somit ihren Bürgern leicht zugänglich zur Verfügung stellen oder eine generelle Freigabe zur Nutzung der öffentlichen Obstbäume aussprechen. Indem sie die öffentlichen Standorte von Obstbäumen zur Ernte freigeben, rufen sie diese wieder ins Bewusstsein und fördern so die positive Identifikation der Bürger mit ihrer näheren Umgebung. Davon profitieren Obstliebhaber aus der Region, aber auch die Kommunen selbst, indem sie sich so als innovativ und nachhaltig präsentieren. Das zeigen besonders die im Wortsinn aus dem Boden schießenden „Essbaren Städte“: Inzwischen gibt es mehr als 60 „Essbare Städte“ im ganzen Land. Davon haben zahlreiche Initiativen ihre Gemeinschaftsgärten auf der Mundraub-Map eingetragen, es gibt eine große Schnittmenge von AktivistInnen, die sich auch bei Mundraub engagieren. Urban Gardening in Berlin Pankow Städte und Kommunen stehen vor einem Wandel: Stadtgrün hat heute einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung - dies bedeutet aber auch, Verantwortung zu übernehmen. Das Bedürfnis von BürgerInnen, auch im urbanen Raum selbst zu gärtnern, sich aktiv um die Lebensmittelproduktion zu kümmern, die Stadt in bürgerschaftlichen Projekten mitzugestalten und sich anzueignen, ist in der jüngeren Vergangenheit gestiegen. Urbane Flächen landwirtschaftlich zu nutzen, hat durch Vorreiter wie die Essbare Stadt Andernach weit über die Landesgrenzen hinaus für Furore gesorgt. Diesen Trend hat auch der Berliner Bezirk Pankow erkannt und die Umsetzung des „Essbaren Bezirks“ beschlossen. Dahinter steckt die Idee, sich bei Neupflanzungen von Bäumen und Sträuchern bewusst für essbare Arten wie z. B, Obstbäume und Beerensträucher zu entscheiden. Biodiversität zeigt sich in der Stadt häufig auf kleinstem Raum und so unterstützt Mundraub den Bezirk dabei, das Vorhaben im Einklang mit weiteren Initiativen vor Ort umzusetzen und für die nötige Akzeptanz zu sorgen. In Berlin-Pankow haben sich engagierte MundräuberInnen zu „Freiobst Pankow“ zusammengeschlossen und seit Dezember 2012 mehr als 70 hochstämmige Obstbäume gepflanzt. Mundraub kümmert sich hier unter anderem um den Obstbaumschnitt. Inzwischen geht das Vorhaben einen Schritt weiter: In Kooperation mit dem Bezirk organisiert Mundraub die gemeinschaftliche Nutzung von öffentlichen Grünflächen für Urban Gardening und weitere Obstbaumpflanzungen. Neben der offenkundigen Befriedigung des menschlichen Bedürfnisses nach Grün, bringt die Stadt als Naturerfahrungsraum auch willkommene Nebeneffekte. So ist die Feinstaubbelastung wesentlich geringer, wo Bäume oder Grünflächen stehen, auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die durch Feinstaub und/ oder Lärm entstehen, lassen sich dadurch reduzieren. Überdies bedeutet das Vorhaben auch einen Imagegewinn für den Bezirk und nicht zuletzt eine Kostenersparnis im Hinblick auf Pflege und Instandhaltung von Grünflächen. Damit fördert der Bezirk einen neuen Typ von Grünfläche, die urbanen Gärten bzw. das „Urban Gardening“. Dies entspricht den Bedürfnissen der BürgerInnen nach individuellen Aneignungsmöglichkeiten und fördert gleichzeitig eine grüne Stadtentwicklung, die Inklusion und Partizipation ermöglicht. Öffentliche Freiflächen als essbare Landschaften zu entwickeln und urbane Gärtnerei setzen ein positives Zeichen für eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit den Problemen der globalisierten Nahrungsmittelproduktion und zeigen so mögliche Konsequenzen in Richtung Eigenversorgung und Bevorzugung regionaler Produkte. Urbanes Grün und die Nutzung von Freiflächen im Sinne einer ökologischen und grünen Erlebniswelt für alle Generationen, wie es Mundraub vormacht, bedeutet also sowohl Nachhaltigkeit in der Stadtentwicklung, als auch einen Zugewinn an Lebens- und Wohnqualität. Die Freiflächen wecken Schaffenspotenziale in der Bevölkerung, die diese Flächen zu einem Ort einer gesellschaftlichen Anlaufstelle für Teilhabe und Begegnung werden lässt. Mit selbst gemachtem Kuchen aus eigenhändig geernteten Birnen vom Straßenbaum vor der Haustüre lässt sich Urban Gardening einfach besser begreifen. Bild 3: Immer mehr Städte und Kommunen geben öffentliches Obst zur Ernte frei. © pixabay 26 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Legaler Mundraub - ein Widerspruch? Häufig wird davon ausgegangen, dass „herrenloses“ Obst frei geerntet werden darf. Es gibt allerdings kein „herrenloses“ Obst, da es immer jemandem gehört - sei es einem Privatmenschen, den Kommunen oder Gemeinden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass bei den BürgerInnen Unsicherheit darüber besteht, ob öffentliches Obst geerntet werden darf oder nicht. Mit einer generellen Freigabe wäre Rechtssicherheit in den entsprechenden Kommunen geschaffen und es wäre damit auch für alle Interessierten einfacher, das öffentliche Obst zu nutzen. Insbesondere die Städte, die von sich aus „essbare Initiativen“ fördern oder schon umsetzen, können damit zeigen, wie ernst sie es meinen. „Wünschenswert wäre natürlich eine Empfehlung des Bundes, nicht verpachtete Obstallmenden grundsätzlich zum Abernten freizugeben“, erklärt Mundraub- Gründer Kai Gildhorn. Auf der Plattform sind Mundräuber-Regeln zur Eintragung neuer Fundorte enthalten, an denen sich die NutzerInnen orientieren sollen. Vor der Ernte ist die Mundraub-Community dazu aufgefordert, sich bei den zuständigen Behörden nach freier Nutzbarkeit zu erkundigen. Darüber hinaus funktioniert die Mundraub-Karte ähnlich wie die Internetplattform Wikipedia: Die NutzerInnen selbst können Fundorte Anderer melden. Mundraub kümmert sich dann um die Überprüfung und löscht den Fundort im Zweifel. Mundraub will noch mehr rechtlich sichere Fundorte, indem vermehrt offizielle Baumkatasterdaten von Städten und Kommunen in die Mundraub- Map importiert werden. Ziel ist es, bis 2017 offene Daten von bis zu 200 Kommunen und Landkreisen in die Mundraub-Map zu integrieren, um damit die öffentlichen Früchte MundräuberInnen im ganzen Land legal zur Verfügung zu stellen. Das Ziel sind essbare Landschaften Die Erfahrungen mit MundräuberInnen im ganzen Land zeigen, dass ein großes Interesse besteht, in den Städten einen transformativen Wandel zu vollziehen, von dem insbesondere unsere Kinder profitieren werden. Auch im Hinblick auf neue Mitbürger verspricht die Umwandlung vormals langweiliger Grünflächen in aktiv bewirtschaftete urbane Gärten einen kulturellen Wandel, stärkt die landwirtschaftliche Nutzung urbaner Flächen doch den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Denn dort gedeiht neben Kohl und Salat auch das soziale Vertrauen und Miteinander. Die Menschen sehnen sich nach Wurzeln - und seien es die von Möhre und Topinambur. Die essbare Landschaft verspricht eine Verbesserung der Lebensqualität für alle dort lebenden Menschen. Mundraub bringt ein wenig Romantik, Entdeckergeist und Selbstversorgungstrieb in den durchgetakteten Alltag der allumfassenden Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen. Die Vision von Mundraub ist es, heimische Obstbäume, Streuobstwiesen und Obstbaumalleen zu erhalten, um so die essbare Landschaft gemeinsam zu erleben und zu gestalten. Deshalb setzt Mundraub darauf, mit ihrer Community deutschlandweit verstärkt Obstbäume zu pflanzen und pflegen, bevorzugt auf öffentliche Freiflächen. Mundraub denkt über den Apfel hinaus und schafft mit der Plattform einen Bewusstseins- und Perspektivwechsel, bewahrt dabei Biodiversität und ermöglicht ein vielfältiges bürgerschaftliches Engagement. Die Vorstellung einer besseren Welt ist nicht genug. Es gilt, diese umzusetzen. Ein erfüllter Generationenvertrag (eine Generation pflanzt, drei Generationen ernten) schafft Gemeinschaft und sichert Obstbäume in der Kulturlandschaft des 21. Jahrhunderts. Andie Arndt Organisation Mundraub Terra Concordia gUG Kontakt: andie@mundraub.org AUTORIN Bild 3: Nicht jedes „herrenlose“ Obst steht frei zum Verzehr. © pixabay Bild 4: Fundorte von „freiem“ Obst werden auf Internet- Plattformen kartiert. © pixabay