eJournals Transforming cities 1/3

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2016-0064
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Wirkung und Funktion „Grüner Gleise“

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2016
Christel Kappis
Hendrikje Schreiter
Die Begrünung von Straßenbahngleisen wird vor allem wegen ihrer vielen ökologischen und stadtgestalterischen Effekte umgesetzt. Diese wirken insbesondere in hochversiegelten Stadtinnenräumen. So kann durch die Begrünung von 4 km Einzelgleis mehr als 1 ha Vegetationsfläche neu entstehen. Bis zum Ende des Jahres 2015 wurden in Deutschland mehr als 565 km Gleise begrünt. Dadurch wurden bisher über 140 ha bzw. 1,4 Mio. m² begrünte Gleistrasse zuzüglich angrenzender Grünflächen geschaffen.
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56 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Grün Die ungehemmte Versiegelung von Freiflächen (täglich in Deutschland ca. 31 ha [1]), die Zunahme des Verkehrs und andere Faktoren führen vor allem in den Innenstädten zu ungünstigen stadtklimatischen Folgen:  Durch die Reduzierung wasseraufnehmender Bodenschichten fließt der Regen ungehindert ab und belastet die Kanalisation extrem. Gleichzeitig ist die Verdunstungsrate enorm niedrig und die Verdunstungskühlung bleibt aus. Wirkung und Funktion „Grüner Gleise“ Gleisbegrünung, ökologische Effekte, Stadtgestaltung, Regenwasserrückhaltung, Lärmreduktion, Staubbindung Christel Kappis, Hendrikje Schreiter Die Begrünung von Straßenbahngleisen wird vor allem wegen ihrer vielen ökologischen und stadtgestalterischen Effekte umgesetzt. Diese wirken insbesondere in hochversiegelten Stadtinnenräumen. So kann durch die Begrünung von 4 km Einzelgleis mehr als 1 ha Vegetationsfläche neu entstehen. Bis zum Ende des Jahres 2015 wurden in Deutschland mehr als 565 km Gleise begrünt. Dadurch wurden bisher über 140 ha bzw. 1,4 Mio. m² begrünte Gleistrasse zuzüglich angrenzender Grünflächen geschaffen. Bild 1: Grüne Gleise in Berlin. © Schreiter, IASP 57 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Grün  Aufgrund der starken Aufheizung hochversiegelter Bereiche entstehen im Sommer große Temperaturunterschiede zwischen Innenstadt und Stadtrand.  Die Lärmbelastung steigt nicht nur durch die Zunahme des Verkehrs, sondern auch durch den Einsatz schallreflektierender Oberflächen, die enge Bebauung und die Verringerung von Grünflächen.  Die Luftbelastung mit Feinstaub ist insbesondere in den Innenstädten mit starkem Verkehrsaufkommen groß. Feinstaub wird auf glatten Oberflächen nicht dauerhaft deponiert, sondern immer wieder aufgewirbelt und erneut in der Luft verteilt. Das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt, die Lebensqualität und die Gesundheit werden stark beeinträchtigt. Grünflächen können stadtklimatisch ausgleichend wirken. Da ihr Anteil mit wachsender Versiegelung zurückgeht, bieten begrünte Bauwerksflächen oft die einzige Möglichkeit, die positiven Effekte von Grünflächen zu nutzen. Hierzu gehören neben z. B. Dach- und Fassadenbegrünungen verstärkt auch Gleisbegrünungen. Durch Gleisbegrünungen können neue Vegetationsflächen entstehen, für die es kaum ein alternatives Angebot von solchem Flächenpotenzial in den Innenstädten gibt. Sie können zur Teilkompensation der durch die Versiegelung verlorengegangenen stadtökologischen Effekte von Grünanlagen beitragen. So kann durch die Begrünung von 4 km eines Einzelgleises mehr als ein ha Vegetationsfläche neu entstehen. Bis Ende des Jahres 2015 wurden in Deutschland mehr als 565 km begrünte Einzelgleise erfasst [2]. Damit wurden über 140 ha bzw. 1,4 Mio. m² begrünte Gleistrasse zuzüglich angrenzender Grünflächen geschaffen. Die Motive der Verkehrsbetriebe, Gleisbegrünungen umzusetzen, sind dabei sehr vielgestaltig. Viele Verkehrsbetriebe bauen Grüne Gleise vor allem, weil sie für die Akzeptanz einer Strecke zielführend sind und von den zuständigen Behörden als Voraussetzung für die Genehmigung eingefordert werden. Auch beim Umbau bestehender Gleise werden zunehmend Grüne Gleise geplant. Die Hauptgründe der behördlichen Auflagen bestehen vor allem in der Verminderung der Schallimmissionen sowie in der stadtgestalterischen Aufwertung. Gleichzeitig haben Grüne Gleise viele wichtige ökologische Wirkungen, die in ihrer Komplexität und ganzen Tragweite oft nicht bekannt sind und bisher nicht im Fokus der Entscheidungsträger stehen. Stadtklimatische/ stadtökologische Funktionen und Wirkungen Grüner Gleise Regenwasserrückhaltung Durch die Vergrößerung der urbanen Grünfläche kann der lokale Wasserhaushalt der Stadt positiv beeinflusst werden. In grünen Gleisen speichert das Vegetationssystem zunächst das Regenwasser bis zu seiner Sättigung. Überschüssiges Wasser wird abgeführt. Das gespeicherte Wasser wird überwiegend durch Verdunstung (Transpiration der Pflanzen und Evaporation aus dem Substrat) wieder an die Luft abgegeben. Hierbei wird die Luftfeuchte erhöht und Verdunstungskühle erzeugt. Die Wasserspeicherkapazität im Grünen Gleis ist abhängig vom Vegetationssystem. Je nach eingesetzter Vegetation (Rasen oder Sedum, Bild 2 und 3) unterscheidet sich die Vegetationstragschicht in Schichtdicke und Zusammensetzung. Bei Rasengleisen sollte diese mindestens 15 cm betragen. Für Sedumgleise ist eine dünne Vegetationstragschicht von 6 - 8 cm typisch. Grüne Gleise ermöglichen eine durchschnittliche Wasserrückhaltung der jährlichen Niederschlagsmenge je m² Vegetationsfläche im Gleis in Höhe von  50 % bei Sedumgleisen und  70 % bei Rasengleisen [4], [5]. Das entspricht einer durchschnittlichen Wasserrückhaltung pro Jahr und m² begrüntes Gleis von 400 bis 550 L/ a (bezogen auf den durchschnittlichen jährlichen Niederschlag in Deutschland: 790 L/ m²). Von allen Grünen Gleisen in Deutschland werden damit hochgerechnet ca. 700 000 m³ Wasser aufgenommen und nicht der Kanalisation zugeführt. Diese Wassermenge kann damit stadtklimatisch positiv wirken. Potentiell sind in Deutschland mindestens 1150 km Straßenbahngleise begrünbar [3]. Das entspricht einer Grünfläche von etwa 288 ha mit einer Wasserrückhaltung von über 1,55 Mio m³ pro Jahr. Den wichtigsten Einfluss auf die Regulierung der Wasserbilanz haben Grüne Gleise in den Sommermonaten. Hier halten sie durchschnittlich 90 % des Niederschlags, der auf die Begrünung fällt, zurück. Nur etwa 10 % des Regenwassers fließen ab [3]. Im Sommer führt die starke Verdunstung des Wassers immer wieder zur Verringerung des Sättigungsgrades der Vegetationstragschicht und damit zu einem höheren Wasseraufnahmevermögen im Vegetationssystem. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass der Abfluss des nicht gespeicherten Wassers erst deutlich später nach einer Regenwasserspitze, in einer wesentlich geringeren Intensität und gleichmäßiger erfolgt. Damit können Abflussspitzen in diesen Bereichen vermieden und die Kanalisation entlastet werden. 58 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Grün Verbesserung des Stadtklimas durch Verdunstung im Grünen Gleis Als Folge der Versiegelung der Innenstädte kommt es hier verstärkt zu Hitze- und Trockenstress. Oft entstehen Wärmeinseln aufgrund der hohen Wärmeabsorption der Gebäude am Tag, ihrer langsamen Wärmeabstrahlung in der Nacht sowie durch die zu geringe Verdunstungsrate bzw. -kühlung. Hier wirken Vegetationssysteme entlastend. Sie regeln die Wasseraufnahme, die Wasserspeicherfähigkeit, Verdunstung und Kondensation: Pflanzen absorbieren Energie für die Photosynthese, schirmen den Boden vor direkter Sonneneinstrahlung und Aufheizung ab, Pflanzen und Boden verdunsten Wasser, wobei Verdunstungskälte frei wird, und Vegetationssysteme heizen sich im Vergleich zu Beton und Asphalt tagsüber weniger stark auf und kühlen nachts stärker aus. Da im Sommer der Wärmeinseleffekt besonders belastend ist und Verdunstungsprozesse verstärkt ablaufen, ist hier die Bedeutung der Kühlleistung von Vegetationsflächen auch am größten. Analog einem Dresdener Berechnungsmodell [5] ergibt sich folgende theoretische Kühlleistung der begrünten Berliner Gleise in den Sommermonaten: Die Verdunstung von 1 L Wasser entzieht der Umgebung Energie. Dabei können 200 m³ Luft um 10 K (Senkung von 30 °C auf 20 °C) gekühlt werden. Wenn 90 % der sommerlichen Niederschläge auf ein Grünes Gleis darin zurückgehalten werden (in Berlin sind das 220 L je m² Grünfläche im Gleis) kann damit jeder m² Gleisbegrünung im Sommer durch Verdunstung des gespeicherten Wassers zu einer Abkühlung von 44 000 m³ Luft um 10 K beitragen. Hochgerechnet auf die begrünten Berliner Gleise (> 50 km Einzelgleis) bedeutet das, dass ca. 27 500 m³ gespeichertes Wasser im Sommer zu einer Kühlung von 5,5 Mrd. m³ (rund 5 km³) Luft um 10 K führen. Diese Wirkung wird unmittelbar in der Nähe der Grünen Gleise spürbar. Wesentlich größere stadtklimatische Effekte im Stadtraum werden vor allem spürbar sein, wenn diese Begrünungen nicht nur Insellösungen darstellen, sondern mit anderen Begrünungen großflächig vernetzt sind. Schadstoff-/ Feinstaubbindung im Grünen Gleis Vegetationssysteme können je nach Standort und System die Entlastung der Stadtluft von Feinstaub unterstützen: auf der vergrößerten und vergleichsweise rauen Oberfläche des Pflanzenbestandes werden Schadstoffe abgeschieden, z. B. PAK oder Schwermetalle. Dort sind sie teilweise an die Oberfläche gebunden. Einige von ihnen werden verstoffwechselt bzw. eingelagert. Durch die Aufnahme eines Teils des Feinstaubs sowie der Schadstoffe im Grünen Gleis kann die lokale Feinstaubkonzen- Bild 2: (links) Rasengleis © Schreiter Bild 5: (rechts) Tiefliegendes Rasengleis © Schade, NIRA GmbH Bild 3: (rechts) Sedumgleis © Schreiter Bild 4: (links) Hochliegendes Rasengleis © Schreiter, IASP 59 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Grün tration der Luft verringert werden. Die Abscheidemenge ist dabei z. B. von der Feinstaubkonzentration der Luft, den Windverhältnissen oder der Oberflächenrauigkeit des Vegetationssystems abhängig. Dieser Effekt tritt vermutlich insbesondere bei einem hohen Deckungsgrad der Vegetation mit hoher Depositionsoberfläche und ungleichmäßigen Bestandshöhen auf. Aufwirbelung und Wiedereintritt des Staubes in die Luft über dem Vegetationssystem werden im Vergleich zu versiegelten Flächen deutlich reduziert. Das begrünte Gleis befindet sich meist unmittelbar an einer der Hauptemissionsquellen des Feinstaubes, dem Straßenverkehr. Auch der Bahnverkehr selbst erzeugt Feinstaub, z.B. Abrieb von Bremsen, Rädern, Schienen sowie Oberleitungen. Aufgrund der Staubbindung direkt am Ort der Staubemission und des zum Teil hohen Flächenanteils von Straßenbahngleisen besitzt die Gleisbegrünung ein wichtiges Potenzial für die Reduktion der Feinstaubbelastung. Lärmminderung im Grünen Gleis Lärm gehört zu den bedeutendsten Umweltbeeinträchtigungen. Mit dem Betrieb von Straßenbahnen sind unvermeidbare Schall- und Erschütterungsemissionen verbunden. Im Straßenbahngleis wird die Höhe der Schallemissionen vorrangig durch den Wartungszustand von Schiene und Rad, konstruktionstechnische Aspekte, die Geschwindigkeit der Bahn sowie das Absorptionsvermögen der Umgebung bestimmt. Grüne Gleise können die von den fahrenden Straßenbahnen ausgehenden Schallemissionen von Rad und Schiene durch deren Absorption in Substrat und Vegetation selbst verringern. Das ist am wirksamsten, wenn das Vegetationssystem hochliegend (Bild 4) ausgeführt wurde, d. h. wenn die Vegetationsebene in Höhe des Schienenkopfes liegt. Hierbei ist die Schiene weitgehend eingebettet und kann den Schall nur im Bereich des Schienenkopfes abstrahlen. Liegt die Schiene bei tiefliegender Vegetationsebene (Höhe des Schienenfußes; Bild 5) frei, kann der Schall im Bereich ihrer gesamten Oberfläche abstrahlen. Weitere schallharte Flächen im Gleis, z. B. offen liegende Schwellenköpfe oder Längsbalken, reflektieren den Schall zusätzlich. Der Minderungseffekt ist geringer. Auf die Schallabsorption des Grünen Gleises hat neben der o. g. Ausführungsform der Begrünung im Gleis auch der Zustand der Vegetation selbst (Deckungsgrad, Wuchshöhe, Porosität des Vegetationsträgers, Wassergehalt) einen unmittelbaren Einfluss. Grüne Gleise werden von den Anwohnern weniger störend und subjektiv leiser wahrgenommen. Bild 6: Gleise vor und nach der Begrünung in Düsseldorf © Ahrens, Rheinbahn Bild 7: Gleise vor und nach der Begrünung in Berlin © Grätz, SchmidIngenieure GmbH 60 3 · 2016 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Grün Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität Grüne Gleise sind wichtige Lebensräume für Flora und Fauna und leisten trotz fortschreitender Flächenkonkurrenz von Grünflächen und Gebäuden einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der biologischen Vielfalt. Diese teilweise kleinen Lebensräume sind ökologische Nischen für eine Vielzahl der Pflanzen- und Tierarten, die sonst keinen Lebensraum mehr finden. Stadtgestalterische Wirkung Grüner Gleise Gleisanlagen von Straßenbahnen sind ständig präsent und prägen das Stadtbild. Ein wesentlicher stadtgestalterischer Vorteil Grüner Gleise besteht in der deutlichen Verbesserung der ästhetischen Wirkung gegenüber Gleisanlagen mit Schotter bzw. geschlossenem Oberbau (Bilder 6-8). Durch eine Grünfläche im Gleis ist eine optische und ökologische Kompensation der Verkehrsbelastung möglich. Die Wirkung der Gleisbegrünung wird sowohl in stadtgestalterischer als auch in stadtökologischer Hinsicht durch die Ausführungsform, das eingesetzte Vegetationssystem und die Pflege der Begrünung beeinflusst. Eine hochliegende Begrünung ergibt ein einheitliches, ruhiges Bild einer Grünfläche. Bei tiefliegender Begrünung wird die Grünfläche durch deutlich sichtbare Schienen unterbrochen. Die Qualität der städtischen Freiräume ist nicht nur ein wichtiger Standortfaktor für den Wohnungsbau und für die Gewinnung von Unternehmen, sondern ihre optische Aufwertung hat auch Einfluss auf das soziale und psychische Wohlbefinden der Menschen. Grüne Gleise werden - wenn oft auch unbewusst - als Grünflächen mit all ihren positiven Wirkungen wahrgenommen. Eine beruhigende Wirkung der Grünen Gleise wurde z. B. von Straßenbahnfahrern aus Kassel festgestellt, für die ein Fahren auf begrünten Gleisen weniger ermüdend und für die Augen anstrengend ist als auf unbegrünten Gleisen. Eine gelungene Gleisbegrünung trägt auch zur Imagesteigerung der Verkehrsbetriebe bei und kann eine größere Akzeptanz der Fahrwege hervorrufen. Zunehmend werden Grüne Gleise zum Marketingfaktor für einen stadtverträglichen und modernen Nahverkehr. LITERATUR [1] http: / / www.bodenwelten.de/ content/ boden-wirdversiegelt [2] Umfragen des Grüngleisnetzwerks 2015. [3] Umfragen des IASP 2009, 2011. [4] Henze; H.J. et al.: Grundlagenforschung und Entwicklung von Schienenfahrwegen für den regionalen Personenverkehr - (LERM). Abschlussbericht Forschungsvorhaben, 2003. [5] Siegl, A. et al.: Wasserverfügbarkeit, Wasserbedarf und klimatische Auswirkungen von Rasengleisen. Berliner Geographische Arbeiten 116, Das Grüne Gleis, Berlin 2010. Bild 8: Gleise vor (links) und nach (rechts) der Begrünung in Berlin. © Schreiter, Kappis; IASP AUTORINNEN Dr. Christel Kappis Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Agrar- und Stadtökologische Projekte an der Humboldt-Universität zu Berlin (IASP) Kontakt: christel.kappis@iasp.hu-berlin.de Dipl.-Ing. agr. Hendrikje Schreiter Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Agrar- und Stadtökologische Projekte an der Humboldt-Universität zu Berlin (IASP) Kontakt: hendrikje.schreiter@iasp.hu-berlin.de Dr. Christel Kappis und Hendrikje Schreiter sind Managerinnen des Grüngleisnetzwerks www.gruengleisnetzwerk.de