eJournals Transforming cities 2/1

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2017-0017
36
2017
21

Städtisches Hochwassermanagement braucht digitale Niederschlagsdaten

36
2017
Günter Müller-Czygan
Seit im Sommer 2016 zahlreiche Städte in Deutschland und Europa von lokalen Starkregenereignissen heimgesucht wurden, steht die Überprüfung der Leistungskapazität von Kanalnetzen verstärkt im Fokus der Diskussionen. Für viele Kommunen waren die zum Teil verheerenden Folgen meist einzeln aufgetretener lokaler Starkregenereignisse nicht erwartet worden. Betroffene und Verantwortliche in Städten und Gemeinden stellen sich nicht nur seit diesen Tagen die Frage, ob derartige Ereignisse zukünftig besser vorhersehbar sein werden und was man präventiv tun kann.
tc210048
48 1 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stadtklima Bild 1: Überflutung nach einem Starkregenereignis in Schwäbisch- Gmünd am 29.05.2016. © Heino Schütte, Rems-Zeitung im Verlag Remsdruckerei Sigg, Härtel u. Co. KG, Schwäbisch- Gmünd Städtisches Hochwassermanagement braucht digitale Niederschlagsdaten Wasserwirtschaft, Regenwassermanagement, Infrastruktur, Digitalisierung, KOMMUNAL 4.0 Günter Müller-Czygan Seit im Sommer 2016 zahlreiche Städte in Deutschland und Europa von lokalen Starkregenereignissen heimgesucht wurden, steht die Überprüfung der Leistungskapazität von Kanalnetzen verstärkt im Fokus der Diskussionen. Für viele Kommunen waren die zum Teil verheerenden Folgen meist einzeln aufgetretener lokaler Starkregenereignisse nicht erwartet worden. Betroffene und Verantwortliche in Städten und Gemeinden stellen sich nicht nur seit diesen Tagen die Frage, ob derartige Ereignisse zukünftig besser vorhersehbar sein werden und was man präventiv tun kann. 49 1 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stadtklima Für den Umgang mit den Gefahren aus extremen Wetterereignissen bieten zahlreiche Lösungsansätze Hilfestellung, es gibt Empfehlungen und Hinweise aus nahezu 40 Forschungs- und Entwicklungsvorhaben [1, 2]. Allerdings entfalten viele dieser Empfehlungen ihre Wirkung erst mittel- und langfristig wie beispielsweise eine gezielte Flächennutzung für die Aufnahme massiver Regenwassermengen oder der Rückbau von Versiegelungen. Von digitalen Werkzeugen erhofft man sich dagegen bereits in absehbarer Zeit eine bessere Gefahrenbeurteilung sowie die Vorhersage möglicher Starkregenereignisse. Webbasierte Niederschlagsportale [3] sowie die digitale Auswertung von Luftbildkarten [4] und Kanalnetzdaten [5] werden als Möglichkeit angesehen, um das lokale Risikopotenzial bei Starkregenereignissen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig präventive Maßnahmen treffen zu können. Niederschlag ist die wesentliche Eingangsgröße der Wasserwirtschaft Die wichtigste Eingangsgröße für nahezu alle Belange der Wasserwirtschaft ist der Niederschlag. Sein Einfluss wird nicht nur bei Starkregenereignissen deutlich, sondern ist auch die Grundlage für viele Berechnungen bzw. die Dimensionierung technischer Einrichtungen. Üblich ist hierbei der Zugriff auf statistische Bemessungsniederschläge, bei denen in der Vergangenheit der lokale Bezug nur unzureichend erfasst werden konnte. Auf dieser Basis erfolgt nach wie vor die Bemessung technischer Bauwerke zum Schutz vor Hochwasser und Überflutungen, aber auch die Festlegung einer effizienten Mischwasserableitung und -behandlung unter Einbezug von Modellsystemen und Beachtung entsprechender Regelwerke (z.B. [6]). Mittlerweile hat man in Fachkreisen die enorme Bedeutung lokaler Datengenauigkeiten erkannt und den Weg eingeschlagen, lokale Daten wirksamer mit in Modelle einzubeziehen. Damit können lokale Besonderheiten besser in Bemessungen berücksichtigt werden [7]. Auch für den Betrieb wasserwirtschaftlicher Infrastruktureinrichtungen sind verlässliche Niederschlagsdaten von großer Bedeutung. Die Zunahme einzelner Starkregenereignisse stellt Kanalnetzbetreiber vor die Aufgabe, eine vorausschauende Bewirtschaftung von Speicherräumen (Regenbecken, Hochwasserrückhaltebecken, Stauraumkanäle etc.) zu ermöglichen, um jederzeit die anfallenden Wassermengen sicher und gezielt abführen oder speichern zu können. Verlässliche Niederschlagsvorhersagen über Ort, Zeit und Menge werden immer wichtiger, wenn drohenden Gefahren präventiv und wirksam begegnet werden soll. Als am 29. und 30. Mai 2016 in Baden-Württemberg extreme lokale Starkregenereignisse auftraten, gab es in Orten wie beispielsweise in Schwäbisch Gmünd und Braunsbach enorme Schäden und sogar Tote. In der nicht weit von Braunsbach liegenden Stadt Öhringen konnten größere Schäden auf der damals stattfindenden Landesgartenschau dank eines webbasierten Niederschlagsprognosesystems vermieden werden. Etwa 12 Stunden vor dem Eintreffen der Starkregenfront bekam der technische Betrieb Öhringen über die App des Portals NiRA.web die ersten Informationen, dass ein Regenereignis mit bis zu 80 L/ m² zu erwarten war. Der Prognoseverlauf des angekündigten Unwetters wurde über mehrere Stunden beobachtet. Als sich die Prognose immer weiter verdichtete, wurde vom Betriebspersonal entschieden, vorsorglich mehrere Schieber an einem speziellen Hochwasserrückhaltebecken (HRB) manuell zu bedienen, um die erwarteten Regenmassen frühzeitig im HRB zu speichern und eine Überflutung des nahe gelegenen Landesgartenschauareals zu verhindern. Der Regen kam so massiv und schnell, dass ohne die Prognosedaten trotz vorhandener Automatik am HRB nur ein Teil der Wassermassen von der Landesgartenschau fern gehalten worden wäre. Die Ereignisse vom 29. Mai 2016 noch vor Augen schätzt Horst Geiger vom Eigenbetrieb Technische Werke Öhringen die Notwendigkeit digitaler Niederschlagsdaten enorm hoch ein: „Durch die Zunahme von Starkregenereignissen sehen wir uns mit neuen wasserwirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die verlässliche lokale Niederschlagsdaten verlangen. Mit einer Niederschlags-App bekomme ich von den ausgewählten Gebieten neben den aktuellen Niederschlagsdaten auch 72-Stunden-Prognosen und kann erkennen, wann und wo welche Niederschlagsmengen zu erwarten sind. Mit diesen Daten sind wir in der Lage, unsere wasserwirtschaftlichen Einrichtungen besser auf kommende Bild 2: Erfassung Starkregenereignis Schwäbisch Gmünd am 29.05.2016 per Niederschlagsdatenportal. © NiRA.web [3] 50 1 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stadtklima Ereignisse einzustellen“. Im Rahmen des Fördervorhabens KOMMUNAL 4.0 wird der Einsatz digitaler Niederschlagsdaten zum Hochwasserschutz in mehreren Pilotprojekten unter anderem mit den damals von Starkregenereignissen stark betroffenen Städten Öhringen und Schwäbisch Gmünd in der Praxis erprobt [8]. Radarbasierte, also digitale Niederschlagsdaten bieten Rechtssicherheit Die hohe Bedeutung radarbasierter, also digitaler Niederschlagsdaten zeigt sich auch in Rechts- und Haftungsfragen. Gutachter, die im Zuge des Haftungsnachweises bei Starkregenereignissen für Kommunen und Städte tätig sind, verwenden solche Daten für ihre Nachweisberechnungen [9]. Sie weisen damit nach, ob eine Kommune für aufgetretene Schäden haftbar gemacht werden kann oder nicht, oder ob der Versicherungsschutz in Anspruch zu nehmen ist. Werden generell für tägliche Betriebszwecke radarbasierte Niederschlagsdaten aus Webportalen verwendet, stärkt dies jede Kommune hinsichtlich einer Nachweispflicht bei Extremereignissen. Zudem stehen belastbare Daten unmittelbar nach dem Ereignis zur Verfügung, so dass der Informationspflicht schnellstmöglich nachgekommen werden kann. Digital verfügbare Niederschlagsdaten können auch für alle erdenklichen Berichte verwendet werden und man spart sich zusätzlich die Kosten für Installation und Wartung mechanischer Niederschlagsmessstationen. Bei der Auswahl webbasierter Niederschlagsportale ist allerdings auf folgende Mindestanforderungen zu achten:  Aufbereitung von Niederschlagsdaten sowohl von stationären Messeinrichtungen als auch in Form von Radardaten  Nutzung der höchsten Stufe der Bildqualitäten verwendeter Radardaten  Qualitätskontrolle durch Aneichung von Daten aus mehreren Quellen, z.B. Wetterstationsnetze oder Wettermodelle  Plausibilitätsprüfung durch spezielle Software inkl. der Überprüfung detektierter „Ausreißer“ durch einen erfahrenen Meteorologen Betriebseffiziente Anlagentechnik dank digitaler Niederschlagsdaten Auch im Bereich der Anlagentechnik spielt der Einsatz digitaler Niederschlagsdaten eine zunehmend wichtige -Rolle wenn es darum geht, Maschinen und Anlagen noch effizienter zu betreiben. Die bisherigen Bemühungen zur Steigerung der Maschinen- und Anlageneffizienz beschränkten sich auf die Maschine bzw. die Anlage selbst. Ein viel größeres Potenzial liegt in einer intelligenten Vernetzung von Maschinen und Anlagen in einem gesamten Infrastruktursystem unter Nutzung weiterer Daten. Jede Maschine, bei der ein unnötiger Betrieb vermieden Bild 3: Webbasierte Auswertung verschiedener Portalquellen nach einem Starkregenereignis. © HST Systemtechnik GmbH & Co. KG 51 1 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stadtklima werden kann, spart mehr Energie als die bestens optimierte Technik, deren Einsatz nicht erforderlich ist. Dies kann am Beispiel des richtigen Betriebs sogenannter Strahlreiniger verdeutlicht werden, die zur Reinigung von Regenbecken eingesetzt werden. Moderne Strahlreiniger sind dank der sogenannten Intelli-Systeme [10, 11] in der Lage, anhand einer optischen Schmutzerkennung nur dort zu reinigen, wo auf der Bodenfläche eines Regenbeckens tatsächlich Schmutz liegt. Ob dieser, wenn auch sehr effiziente, Reinigungsvorgang, überhaupt notwendig ist, erkennt die smarte Maschine selbst nicht. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit lokaler digitaler Niederschlagsdaten und der Vernetzung von Datenportal und smarter Maschine erhalten die Steuerungssysteme aufbereitete Prognosedaten aus einem webbasierten Niederschlagsportal. Durch die permanente Auswertung einer 72-h-Niederschlagsprognose wird in Echtzeit geprüft, ob sich ein Reinigungsvorgang überhaupt lohnt. Ermittelt das System beispielsweise, dass innerhalb der nächsten drei Tage mehrere größere Regenereignisse anstehen, ist ein Reinigungsvorgang eigentlich ineffizient. Der Betreiber kann dann entscheiden, ob er unter solchen Bedingungen einen bislang üblichen Reinigungsvorgang in einem sparsameren Eco-Modus fährt oder ganz darauf verzichtet. Liegen künftig ausreichend Erfahrungen vor, können solche Entscheidungsprozesse dann automatisch ablaufen. Die Verknüpfung von Maschinen und Anlagen mit Niederschlagsportalen fördert das Ziel von Netzbetreibern, Speicherräume nach Möglichkeit optimal freizuhalten. Mit einer zentralen und effizienten Datenauswertung aller Bauwerke kann zukünftig einfacher und sicherer entschieden werden, wann welches Regenbecken entleert werden muss, um ausreichend Speicherkapazitäten frei zu halten bzw. um die Kapazitäten optimal zu nutzen. Das ist aktiver Hochwasserschutz. Auch die gezielte Steuerung von Entlastungsereignissen aus Regenbecken im Sinne eines optimalen Gewässerschutzes ist zukünftig ein wichtiger Anwendungsfall für die digitale Nutzung echtzeitbasierter Niederschlagsdaten [12]. Dieser kann durch webbasierte Auswertung von Einstaudaten und -häufigkeiten bzw. Entlastungsdaten und -häufigkeiten zunehmend automatisiert ablaufen. Ihre optimale Wirksamkeit entfalten solche digitalen Lösungen, wenn eine Ankopplung an entsprechende Datenportale vorgenommen wird, wie dies Gegenstand im Projekt KOMMUNAL 4.0 ist. Dabei werden unter anderem verschiedene Intelli-Systeme/ Smarte Maschinen an eine neuartige, zentrale und webbasierte Daten- und Serviceplattformen angeschlossen, in die auch das Niederschlagsdatenportal NiRA.web integriert wird. Dank der Einbettung in das Projekt KOMMUNAL 4.0 erhalten smarte Maschinen zugleich die richtigen Standardschnittstellen sowie Sicherheitsapplikationen für zukünftige Entwicklungen. Besonders beachtet werden dabei die Anforderungen, die sich durch das IT- Sicherheitsgesetz [13] sowie die aktuelle EU-Datenschutzverordnung [14] ergeben. LITERATUR- UND QUELLENNACHWEIS [1] h t t p : / / w w w . b b s r. b u n d . d e / B B S R / D E / V e r o e f f e n t l i c h u n g e n / S o n d e r v e r o e f f e n t l i c h u n g e n / 2 0 16 / a n p a s s u n g k l i m a w a n d e l d l . p d f ? _ _ blob=publicationFile&v=2 [2] https: / / um.baden-wuerttemberg.de/ de/ umwelt-natur/ schutz-natuerlicher-lebensgrundlagen/ wasser/ starkregen/ [3] www.nira-web.de [4] ht t p s : / / w w w. h s t .d e / pro d u k te / i ta u to m a tio n / betriebsfuehrung.html [5] h t t p : / / w w w . s p i e g e l . d e / w i s s e n s c h a f t / n a t u r/ starkregen-karten-sagen-risiko-von-sturzflutenvorher-a-1102125.html [6] Arbeitsblatt DWA-A 531 „Starkregen in Abhängigkeit von Wiederkehrzeit und Dauer“ (September 2012) [7] Haberlandt, U.: Ergebnisse eines Expertengesprächs zum Bemessungsniederschlag, Korrespondenz Wasserwirtschaft, 6 (2016) S. 340 ff. [8] https: / / www.kommunal4null.de/ pilotprojekte/ pilotprojekte.html [9] Gutachten zu Entstehung und Verlauf des extremen Niederschlag-Abfluss-Ereignisses am 26.07.2008 im Stadtgebiet von Dortmund´, Quelle: http: / / www. gruene-luedo.de/ download/ gutachten_neu.pdf [10] Müller-Czygan. G.: „Digitalisierung öffentlicher Infrastrukturen am Beispiel der Wasserwirtschaft“, Automation Blue 1 (2016). [11] Müller-Czygan. G., Becker, C.: „Mit smarten Maschinen in die digitale Wasserwirtschaft starten“, WASSER und ABFALL, 9 (2016). [12] Lieb, W: . „Strangbetrachtung - eine einzugsbezogene RÜB-Auswertung“, Tagungsband der Tagung der DWA-Kläranlagen- und Kanal-Nachbarschaften Baden Württemberg, April 2016. [13] ht tps : / / w w w.bmi.bund.de / S haredDoc s / Dow n loads/ DE/ Gesetzestexte/ it-sicherheitsgesetz.pdf ? _ _ blob=publicationFile [14] http: / / w w w.europarl.europa.eu/ news/ de/ newsroom/ 20160407IPR 21776/ parlament-verabschied e te u d a t e n s c h u t z r e f o r m - % E 2 % 8 0 % 9 3 e u fit-f%C3%BCrs-digitale-zeitalter Dipl.-Ing. Günter Müller-Czygan Leiter M&A Objekte / KOMMUNAL 4.0 HST Systemtechnik GmbH & Co. KG, Meschede Kontakt: guenter.mueller-czygan@hst.de AUTOR